Die gegenwärtige Debatte um Migration ist polarisiert und rassistisch aufgeladen. Den Rechten gelingt es, anstehende Herausforderungen der Einwanderungsgesellschaft als Konkurrenzverhältnis und Verteilungskonflikt zwischen ›uns Deutschen‹ und ›den Einwanderern‹ darzustellen. Indem sie die soziale Frage ethnisiert stellen, schließen sie an vorhandene Denkweisen an und präsentieren vermeintliche Lösungen: die Gemeinschaft der Einheimischen mit entsprechenden Vorrechten der Etablierten. Mit diesem Narrativ verwoben ist die neoliberale Erzählung vom persönlichen Erfolg, den jeder und jede im Leben haben kann, wenn er oder sie sich nur ordentlich anstrengt. Für viele haut das aber nicht hin. Sie spüren, dass da etwas nicht stimmt. Die Unzufriedenheit mit der eigenen Lebens- und Arbeitssituation oder das Gefühl, nicht über das eigene Leben bestimmen zu können, nicht den ›verdienten‹ Anteil zu bekommen – all das beruht auf alltäglichen Erfahrungen.

In dieser Gemengelage machen sich manche auf die Suche nach Schuldigen, die scheinbar ohne die gleiche Mühe versorgt werden: »die Ausländer«, Flüchtlinge oder »Wirtschaftsflüchtlinge«, »Asys«, »Sozialschmarotzer«, »Faule« – zuweilen auch »Wirtschaftsbosse«, »Banker« und »Politiker«. Was heißt das für das Projekt einer solidarischen Einwanderungsgesellschaft, das auch jene einbeziehen will und muss, die marginalisiert sind oder sich zumindest so fühlen?

Persönlich mit Menschen zu sprechen, denen man sonst nicht begegnet, anstatt nur über sie zu reden, kann hier wichtige Fragen und Erkenntnisse zutage fördern. DIE LINKE war im Herbst 2016 bundesweit in zwölf Städten unterwegs. An den Haustüren hat sie mit Menschen vor allem aus einkommensarmen Vierteln darüber gesprochen, was ihnen unter den Nägeln brennt und welche Probleme gemeinsam angegangen werden könnten. Mit geschulten Laien-Befrager*innen sind wir von Tür zu Tür gegangen und haben 379 Gespräche geführt. Die Dokumentation der Gespräche gewährt Einblicke in alltägliches Denken über Politik, Stadtteil und in Wohnverhältnisse am unteren Rand der Gesellschaft – ein Kaleidoskop der »deutschen Zustände«. 1 

Immer wieder sind wir auch auf rassistische Ressentiments und sprachliche Gewalt gestoßen, auch bei aufgeschlossenen Personen. Doch selten handelte es sich um verfestigte Haltungen oder geschlossene Weltbilder. Häufig waren es spontane und im gesellschaftlichen Diskurs allseits präsente Verkürzungen oder Verschiebungen. Zugleich brachen sich Vorurteile an realen Erfahrungen, lagen Richtiges und Falsches dicht beieinander, wurden Widersprüche sichtbar. Antonio Gramsci nennt dies den »bizarren Alltagsverstand«. Es ist eine Frage der Übung, den anderen »genau so weit heraus[zu]fordern, wie es noch möglich ist, ohne dass die Beziehung zerbricht« (Schrupp 2011). Dabei kann die oft akademisch geprägte Linke einiges lernen.

Lernprozesse auf beiden Seiten

Trotz rassistischer Vorurteile, die in den Gesprächen auftauchten, gab es beispielsweise ein Wissen um Fluchtursachen und die Mitverantwortung der deutschen Politik. Daran lässt sich anknüpfen.

Eine Rentnerin aus Leipzig-Gohlis bringt im selben Atemzug die vermeintlich fehlende Arbeitsmoral der Flüchtlinge und die Waffenexporte deutscher Firmen zur Sprache. Ihre Nachbarin findet, die Flüchtlinge sollten entweder »wieder zurück« oder »sich integrieren«, hatte aber »selbst noch nie Probleme mit Ausländern«. Verantwortlich für die gegenwärtigen Entwicklungen seien für sie ebenfalls Waffenverkäufe in Bürgerkriegsländer. Ein Fahrkartenkontrolleur aus Essen-Frohnhausen glaubt, Flüchtlinge seien kriminell, und fordert zugleich, die Kriege müssten aufhören.

Analysen über die erstarkende Rechte weisen auf beunruhigende Verschiebungen im Feld des Mach- und Sagbaren hin. Doch so manche Debatte um Alltagsrassismus neigt dazu, die Aussagen von Menschen mit weniger Übung im differenzierten Argumentieren zu wörtlich statt ernst zu nehmen. Rassismus ist keine Frage der Bildung, die Ausdrucksweise schon.

Es mag gewöhnungsbedürftig sein zu ergründen, welchen ›Sinn‹ eine rassistische, sexistische Harter-Kerl-Aussage für das Gegenüber ergibt. Durch zugewandtes Nachfragen und pointierten Widerspruch lässt sich aber herausfinden, welchen Stellenwert die Aussage im Denken einnimmt, wie gefestigt das Weltbild ist und ob es belastbare Ansatzpunkte für gemeinsames Handeln gibt. Manche meinen die Dinge auch genauso, wie sie es sagen. Ob es so ist, lässt sich aber nur im direkten Gespräch klären, denn Menschen aus einkommensarmen Vierteln publizieren selten Artikel und werden für gewöhnlich nicht in Talkshows eingeladen.

Ein überzeugter AfD-Wähler aus Dresden-Prohlis lässt sich in seiner Sicht auf die Welt nicht beirren: »Abschieben. Im Meer auskippen oder erschießen. Auch deutsche Assis. Frauen, die mit drei Assis schlafen.« Werden frauenverachtend-rassistische Aussagen in solcher Klarheit vorgetragen, sind Grenzen leicht zu ziehen. Wir beenden das Gespräch, es warten noch viele Türen.

Gemeinsamkeiten ausloten oder eine Grenze ziehen? Das ist ein Lernprozess. Hierfür muss man raus aus der Komfortzone. Die persönliche Echo-Kammer, die Facebook-Bubble, den intellektuellen Stammtisch auch mal zu verlassen, ist eine nicht zu unterschätzende Gelegenheit, die eigene Sprache, politische Praxis und lieb gewonnene Gewissheiten zu überprüfen. Zu wissen, wie es ›da unten‹ aussieht und welche Bewältigungsstrategien es gibt, kann helfen, ein Gespür für die Facetten des versehrten Lebens zu entwickeln. Die Prekarität von Akademiker*innen mit reichlich sozialem Kapital (und manchmal elterlichem Wohlstand) sieht anders aus als die Armut der Abgehängten oder die Abstiegsängste der Reihenhaus-Mittelklasse.

Hinzu kommt, dass in den Begegnungen die angesprochenen Themen zuweilen zweitrangig waren, das Interesse am gemeinsamen Gespräch den Ausschlag gab. Kontakt sticht Inhalt? Das zwingt Linke, ihr angestammtes Terrain – die Kraft des Arguments, der nüchterne Verweis auf Fakten – zu erweitern. Es ist herausfordernd, mit Unbekannten in kurzer Zeit einen persönlichen Kontakt aufzubauen – wo möglich, von Empathie getragen – und zugleich das politische Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. In dem Vertrauen, dass Menschen sich einlassen, wenn ihnen aufrichtiges Interesse entgegengebracht wird.

Deutungen anbieten und Diskurse verschieben

Ein 50-jähriger Gärtner aus Bremen-Gröpelingen, der als Vorarbeiter in einer Justizvollzugsanstalt arbeitet, begegnet uns zunächst reserviert. Er ist der Auffassung, die LINKE käme sowieso »nie in die Position« etwas ändern zu können. Außerdem »holt ihr Linken zu viele Flüchtlinge rein, das können wir nicht bezahlen!« Auf die berufliche Situation angesprochen, entgegnet er, er könne nicht klagen, sein Gehalt sei ausreichend. Wir seien bei ihm halt an der falschen Adresse. Doch dann platzt es raus: »Die Leiharbeiter verdienen viel weniger als ich, gerade mal den Mindestlohn. Dabei machen sie die gleiche Arbeit. Sie sollten das Gleiche bezahlt kriegen, sie haben es verdient.« Wir pflichten ihm bei und stellen Fragen zu den Gehaltsunterschieden und zum Verhältnis zwischen ihm als Vorarbeiter und »dem Team«, für das er verantwortlich ist. Ab diesem Moment entspannt sich die Situation. Unsere Frage, ob in seinem Team auch Menschen seien, die noch nicht so lange in Deutschland lebten, bejaht er – ebenso unsere Nachfrage, ob er mit denen denn auch gut klarkäme. Wir haben nun einen gemeinsamen Nenner: dass alle, die die gleiche Arbeit leisten, auch das Gleiche kriegen sollten – unabhängig von Herkunft oder Pass. Zumindest während des Gesprächs bekommt »diese Flüchtlingssache« einen anderen Dreh und einen geringeren Stellenwert.

Es geht nicht darum, zu Rassismus zu schweigen. Sondern ihn alltagsnah zu entziffern und andere Deutungsangebote zu machen. Den Sinn dieser zuweilen mühseligen Arbeit schildert der Soziologe Didier Eribon: Die französische Arbeiterklasse war auch früher schon rassistisch und homophob. Doch der Kommunistischen Partei gelang es, ihr ein politisches Angebot zu machen, das die Klassenidentität ins Zentrum rückte. Sie kanalisierte die Wut der Ausgebeuteten in einen gemeinsamen Kampf um bessere Arbeitsbedingungen und gab rechten Parolen keinen Resonanzraum – wenngleich auch Arbeiterparteien nicht frei von Rassismus und Sexismus sind.

»Meine kleine Tochter hat nur türkische Freunde. Die Eltern in der Kita gehen auf Abstand, wenn sie hören, dass ich Muslima bin«, klagt eine Türkin (ohne Kopftuch) aus Essen-Frohnhausen. Zugleich fordert sie, man müsse konsequenter gegen »Hart-IV-Schmarotzer« vorgehen.

Eigentlich banal: Es gibt keine homogenen Gruppen, weder unter Bio-Deutschen noch bei Einwander*innen. Von Rassismus betroffene Menschen können selbst rassistisch, wohlstandschauvinistisch oder behindertenfeindlich sein, Behinderte frauenverachtend, Frauen klassenblind. Das macht die quer dazu liegende Frage so wichtig: entlang welcher Interessen sich Gemeinsamkeiten entdecken und artikulieren lassen, ohne individuelle Unterschiede zu leugnen. Denn Geldsorgen, Zukunfts- oder Abstiegsängste, Leistungsdruck, Planungsunsicherheit und sexistische Sprüche betreffen Menschen mit und ohne deutschen Pass. Doch das Wissen oder die Erfahrung, zur Arbeiterklasse zu gehören, wird verdrängt von der Anrufung, Deutscher oder eben Türkin zu sein.

Vor uns steht ein Rentnerehepaar aus Dresden-Prohlis mit klassischer ›Ostbiografie‹. Beide waren in der DDR berufstätig, der Mauerfall kam mitten im Leben. Sie hangelte sich nach der Wende durch verschiedene Jobs und ABMs, unterbrochen von Phasen der Erwerbslosigkeit. Er erlitt einen Arbeitsunfall. Jetzt reicht die Rente nicht, beide müssen hinzuverdienen. Kürzlich kam eine neue Mieterhöhung. Sie reagieren zunächst ablehnend: »Man wird als Nazi beschimpft, wenn man zu Pegida geht. Wir sind keine Nazis. Aber die vielen Flüchtlinge, die kriegen alles, während unsereins …« – eine weithin bekannte Argumentationsfigur. »Also, meines Wissens nach leben die meisten Flüchtlinge hierzulande am Rande des Existenzminimums«, ist unser Punkt. Es entsteht noch keine Verbindung. Wie lässt sich der Frust anerkennen, aber das Gesagte anders rahmen und dem Unmut eine andere Stoßrichtung geben? »Dass die Miete schneller steigt als die Rente, das hören wir oft. Mal angenommen, Sie hätten Recht und man würde den Flüchtlingen jetzt nichts mehr geben. Wären die von Ihnen genannten Probleme dann weg?« Die Frage bringt ein nachdenkliches Moment in das Gespräch.

In Abwandlung fragten wir an anderen Haustüren: »Wenn Sie an die Zeit zurückdenken, bevor die vielen Flüchtlinge kamen. Ging es Ihnen da besser?« Oder »Wer profitiert davon, wenn wir uns gegeneinander ausspielen lassen?« Wenngleich solche Fragen noch kein Weltbild umkrempeln, so erzeugten sie doch oft einen Riss in der scheinbar bruchlosen Überzeugung.

Die Erfahrung von Entbehrung ist ja real, nur die Erklärung ist falsch. Die Einwanderung habe sich, so der britisch-indische Publizist Kenan Malik, »zu einer Art Linse entwickelt«, durch die viele Menschen gesellschaftliche Probleme wahrnähmen. »Solange wir Migranten als Sündenböcke für solche Probleme missbrauchen, übersehen wir aber die zugrundeliegenden Ursachen für […] das Gefühl vieler Leute, politisch abgehängt und an den Rand gedrängt worden zu sein« (Malik 2017). Diese Ursachen klar und verständlich zu benennen, ohne dem Gegenüber die eigenen Erfahrungen abzusprechen – darin besteht die Herausforderung. Die Reaktionen an den Türen zeigen aber: Die Problemdefinition zu ändern und damit den Diskurs über die »Flüchtlingskrise« zu verschieben, ist zumindest in kleinen Schritten möglich. Umgekehrt sprachen sich auch Menschen mit schmalem Geldbeutel direkt für mehr Unterstützung der Flüchtlinge aus. Offenheit oder Vorbehalte gegenüber Nichtdeutschen sind also nicht zwangsläufig eine Frage des Einkommens.

Beziehungen stiften angesichts von Spaltung und Ohnmacht

Die Erfahrung, keine Kontrolle über das eigene Leben, kaum Gestaltungsmacht zu haben, teilten viele unserer Gesprächspartner*innen. Für den Umgang damit gibt es unterschiedliche Verarbeitungsmöglichkeiten: »Ich machʼ nicht mehr mit« (Rückzug, Wahlenthaltung) oder »Ich wähle AfD« sind zwei davon. Handlungsfähigkeit zusammen mit anderen (wieder) erfahrbar zu machen, ist daher ein strategischer Ansatzpunkt alltagsnaher Organisierung. Dieser »Kampf um Souveränität« (Pieschke 2016) könnte ein gemeinsamer Nenner unabhängig von Herkunft und Nationalität sein.

Nur Leidensdruck allein ist oft nicht ausreichend, um aus Vereinzelung und Passivität herauszufinden. Zumal die Intuition ja nicht falsch ist: Jeder Versuch aufzustehen und sich zu widersetzen birgt das Risiko des Scheiterns.

Aufgrund seines ausländischen Nachnamens hat ein 36-jähriger erwerbsloser Kasseler noch nie in einem regulären Beschäftigungsverhältnis gearbeitet, immer nur als Leiharbeiter gejobbt. Seine wiederholte Erfahrung »Man kann eh nichts machen, das ändert sich nicht« hat sich zu einer persönlichen Überzeugung verfestigt, an der im Gespräch nicht zu rütteln ist. Auch Beispiele erfolgreicher Kämpfe, die das Gegenteil zeigen, überzeugen ihn wenig.

Wie lässt sich Menschen mit Ohnmachtsgefühlen vermitteln, dass nichts so bleiben muss wie es ist, dass man gemeinsam was erreichen kann, wenn zugleich aus allen Lautsprechern das Versprechen »Jeder kann es schaffen, deswegen ist auch jeder da, wo er hingehört« dröhnt? Es erfordert Geduld und Einfühlungsvermögen, im gespaltenen Alltag neue Beziehungen zu stiften und Perspektiven aufzuzeigen. Überhaupt mit anderen ins Gespräch zu kommen, kann ein erster Schritt sein. Zumal sich bei genauerem Hinsehen eigensinnige Formen finden, in denen sich arme Menschen in prekären Lebenslagen gegenseitig stützen, ja informell organisieren.

Das wirft weitere drängende Fragen auf: Wie kann die Linke den Verlust von solidarischen Räumen und Sicherheitszonen außerhalb der Kleinfamilie auffangen? Wie lässt sich das Bedürfnis nach Gemeinschaft, Aufgehobensein – ja Heimat – aufgreifen und emanzipatorisch füllen? Kann, muss die Linke mehr Sinn für Pathos und Emotionen entwickeln? Und wie steht es um klassen- und milieu-übergreifende Orte der Begegnung? Das viel beschworene Mitte-unten-Bündnis zu schmieden ist angesichts von Distinktion und Abschottung der Mittelklasse kein Zuckerschlecken. Die heterogenen Klassenlagen im Prekariat bringen individuell sehr unterschiedliche Unterdrückungserfahrungen hervor. Ohnehin existierende Spaltungen werden von den politischen Eliten noch befeuert.

Politische Wirksamkeit von Links

Die Strategie, »zuerst die verschiedenen dissidenten Milieus anzusprechen, die sich – von sich aus! – politisch links artikulieren« (Seibert 2016), läuft Gefahr, dass Bürgerkinder unter sich bleiben. Gesellschaftliches Engagement ist abhängig von Bildung, Einkommen und Wohnumfeld – eine Klassenfrage. Akademiker*innen, das zeigen Studien, sind in allen politischen Organisationen überrepräsentiert. Nicht zufällig finden sich unter denen, die in der Flüchtlingshilfe engagiert sind – neben Frauen und Menschen mit Migrationsbiografie – überproportional viele Hochqualifizierte und finanziell Abgesicherte. Politisches Bewusstsein ist auch eine Frage der Sozialisation. Einfach ›von sich aus‹ artikulieren sich jedenfalls die wenigsten links, schon gar nicht, wenn die gesellschaftliche Stimmung nach rechts zu kippen droht. Und wenn die sozialen Auseinandersetzungen eines schönen Tages auch die Eigentumsverhältnisse antasten sollen: Wie soll das möglich sein ohne die Mehrheit derer, die nichts besitzen als ihre Arbeitskraft? Ohne das auch weibliche, auch migrantische, auch gebildete Proletariat? Es geht um die Frage politischer Wirksamkeit für verändernde Impulse von links.

Will die Linke mehr sein als ein szeniger Haufen, gilt es, auch Menschen zu gewinnen, die sich nicht von selbst einbringen – aber erreichbar sind. Dass gerade diejenigen, deren Interessen der Linken nicht egal sein dürften, sich häufig aus Politik und Gesellschaft zurückziehen, hat viel mit dem prekären Leben zu tun. Innerhalb der LINKEN wird seit einiger Zeit diskutiert, wie die Partei sich in einkommensarmen Vierteln verankern und deren Bewohner*innen in der (Selbst-)Organisierung rund um alltagsrelevante Auseinandersetzungen begleiten und stärken kann. Aufsuchende Gespräche sind ein zentraler Bestandteil davon. Das hat nichts mit Sozialromantik oder verklärtem Blick auf die vermeintlich verschwundene Arbeiterklasse zu tun. Sondern mit der Gewissheit, dass ein emanzipatorisches Projekt keins ist, wenn die Prolet*innen nicht mit von der Partie sind.

»Die Asys [Asylbewerber] müssen weg, die sollen verschwinden!«, fällt einer jungen Alleinerziehenden als Erstes auf die Frage ein, was ihr besonders unter den Nägeln brenne. Sie bewohnt mit einem Säugling und einem Kleinkind eine Zweizimmerwohnung in einem heruntergekommenen Plattenbau in Bernau-Süd. Während sie an der Türschwelle Haarfärbemittel in einer Plastikschale anrührt, erkundigen wir uns nach den Dingen, die ihr das Leben schwer machen: Schikane beim Amt, fehlende Kinderbetreuung, zu kleine Wohnung. Wir bestärken sie, dass das wirkliche Probleme sind – mit dem Hinweis, dass es die ja schon vor den steigenden Flüchtlingszahlen gegeben habe. Auf die spätere Frage, ob sie eigentlich wählen gehe bei den Bundestagswahlen, wird sie einsilbig. Wir wagen die direkte Frage, ob sie schon mal überlegt habe, AfD zu wählen. Wie aus der Pistole geschossen erwidert sie: »Naja, nee. Das weiß ich doch selbst, dass das nix bringt!« Wir pflichten ihr bei. Ihre nicht genauer begründete Wut auf die »Asys« stellen wir – zunächst – hintenan und laden sie ein, mal bei einem Treffen im Kiez vorbeizuschauen. Sie gibt uns ihre Telefonnummer. Ein dünnes Band, an das sich anknüpfen lässt.

In vielen einkommensarmen Gebieten erreicht die LINKE überdurchschnittliche Ergebnisse – Seite an Seite mit Sympathien für rechte Parolen. Doch der größte Teil der Bewohner*innen geht gar nicht wählen. 2 Hinzu kommt: Im medialen Kreuzfeuer haben linke Positionen bekanntermaßen wenig Schnitte. Den persönlichen Kontakt hat die Linke indes selbst in der Hand.

 

Gelungene Ansprache ist notwendig, aber nicht hinreichend. Sie kann Organisierung nicht ersetzen. Ein »kurzfristiger Flirt« reicht nicht aus, »es braucht lange und mühselige Beziehungsarbeit, damit eine stabile Basis entstehen kann« (Pieschke 2016). Mit den Haustürgesprächen hat die eigentliche Arbeit erst begonnen. Jetzt gelte es, potenzielle »Viertelgestalter« (Hoeft et al. 2014) nicht nur zu identifizieren, sondern auch gezielt zu qualifizieren. Damit sie sich auf kollektive Formen des Führens verständigen, in denen jede*r ihre oder seine Art der Beteiligung finden kann.

Und da liegt die Krux. Mancherorts hat die LINKE mit Strukturproblemen zu kämpfen: ausgelaugte Ehrenamtliche, weiße Flecken in ländlichen und kleinstädtischen Gebieten, lähmender »Gremiensozialismus«, Konzentration der Ressourcen auf Parlamentsarbeit. Die LINKE steht vor der Herausforderung, wie sie neu Angesprochene nachhaltig einbindet, wie sie dafür Ressourcen verschieben kann und wie sich die Partei verändern muss, um für mehr Menschen attraktiv zu sein, die nicht aus den üblich verdächtigen Zusammenhängen kommen.

»Und nicht zuletzt braucht es einen Kulturwandel innerhalb der Partei, bis sich die Erkenntnis durchsetzt, dass Anträge und Talkshows nur ein Teil des politischen Geschäftes sind und Demokratie den Dialog mit den Menschen voraussetzt, deren Interessen man vertreten will. Aber irgendwann muss man ja damit anfangen. Zudem kann die LINKE aus ihrer Geschichte als Kümmerer-Partei an wertvolle Erfahrungen in diesem Gebiet anknüpfen.« (Schlemermeyer 2017, 17)

 

(1) Dank an Barbara Fried, Katja Kipping und Miriam Pieschke." href="#_ftnref">[]

(2)Entgegen weitläufiger Annahmen stimmen die »Unterschichten« nicht überdurchschnittlich häufig für rechte Parteien. Auch die Alternative für Deutschland wird nicht primär von Armen und Abgehängten gewählt, sondern »weit überdurchschnittlich […] erstens von Männern und zweitens von Wählern und Wählerinnen mit einem mittleren Bildungsabschluss, also 10. Klasse und Abitur, leicht unterdurchschnittlich von denjenigen mit maximal Hauptschulabschluss und deutlich unterdurchschnittlich von Menschen mit (halb-)akademischen Berufsabschlüssen. […] Angehörige der Unterschicht ohne eine Perspektive, der eigenen Klassenlage zu entkommen, vor allem: das neue Dienstleistungsproletariat, gehen wie schon seit zwanzig Jahren eher gar nicht wählen« (Kahrs 2016)." href="#_ftnref">[]

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