Der Kursverfall der Türkischen Lira um die Jahreswende war schwindelerregend. In den ersten zwei Wochen des Jahres büßte die Währung fast 9 Prozent gegenüber dem US-Dollar ein. Mitte 2016 lag das Wechselkursverhältnis Lira-Dollar bei etwa 3 zu 1. Zwischenzeitlich wurde die Schwelle von 4 zu 1 erreicht. Experten bewerteten den Rutsch als „einen perfekten Sturm“ und die Financial Times stellte fest: „Die Türkei ist in wenigen Jahren vom Liebling der Kapitalanleger zur Krisenkandidatin geworden“. Zwar pendelte der Wechselkurs sich danach bei etwa 3,7 zu 1 ein (Stand Anfang März 2017). Doch wichtige Konjunkturindikatoren zeichnen weiterhin ein düsteres Bild. Im dritten Quartal 2016 ist die Wirtschaftsleistung um 1,8 Prozent geschrumpft. Die industrielle Produktion ist seit dem ersten Quartal 2016 rückläufig. Der Einkaufsmanagerindex PMI, der das Befinden der verarbeitenden Industrie wiedergibt, fiel auf 47,7 im Dezember 2016, den schlechtesten Wert seit 2009, als die Auswirkungen der Großen Depression am deutlichsten ausgeprägt waren. Die Daten aus dem letzten Quartal 2016 sind noch nicht bekannt, der Rückgang wird aber höchstwahrscheinlich weitergegangen sein. Darauf verweist der Consumer Confidence Index, der das Befinden von Konsumenten und Produzenten misst. Er fiel nach Angaben der türkischen Statistikbehörde auf 70,5 im Dezember 2016. Im gleichen Monat des vorangegangenen Jahres lag er bei 100,8. Wo liegen die Ursachen für den Kursverfall und den Einbruch der Wirtschaftsdaten? Häufig genannt wird die politische Instabilität, die von Erdoğans Streben nach absoluter Macht und Terroranschlägen ausgeht. Doch ist die politische Unsicherheit allenfalls ein auslösender oder beschleunigender Faktor des Konjunktureinbruchs. Die Ursachen liegen tiefer und zwar im makroökonomischen Regime, das das ökonomische Ensemble mürbe gemacht hat.

Die fragile Struktur der türkischen Ökonomie

Die Wachstumsrate in der Türkei im Besonderen und ökonomische Aktivitäten im Allgemeinen basieren seit der Liberalisierung des Kapitalverkehrs in hohem Maße auf der Richtung und dem Ausmaß von Kapitalströmen. Das von finanziellen Zuflüssen gesteuerte Wachstum, größtenteils auf kurzfristigen Kapitalanlagen beruhend, folgt einem Boom-Bust-Zyklus. Ein solches Wachstumsmodell ist strukturell fragil und es schränkt die Manövrierfähigkeit politischer Entscheidungsträger erheblich ein. Der Zinssatz in der Türkei liegt in der Regel über dem Weltdurchschnitt, denn das wahrgenommene Risiko für Investoren ist höher als im Durchschnitt. Tatsächlich offenbaren die makroökonomischen Parameter eine krisenanfällige Struktur. Indes lockt der höhere Zinssatz spekulatives Kapital, das beispielsweise auf Arbitrage-Gewinne aus ist, die durch das Ausnutzen von Kurs- und Zinsunterschieden zustande kommen. Fortwährende Zuflüsse steigern den Appetit, größere Risiken werden eingegangen, wodurch wiederum weiteres Kapital angelockt wird. Dieser Prozess stagniert tendenziell den Nettoexport, da er eine Aufwertung der einheimischen Währung erzeugt, und führt zu einem illusionären Wachstum infolge eines erhöhten Konsums, dank relativ günstiger Importwaren. Es kommt zu einem Handelsbilanzdefizit, dementsprechend einem Leistungsbilanzdefizit, was die Risikowahrnehmung negativ beeinflusst. Um Kapitalflucht zu verhindern, ist die Zentralbank dazu angehalten, den Zinssatz weiter zu erhöhen. Das ist eine finanzielle Zwickmühle in dem Sinne, dass die Zentralbank tendenziell den Zinssatz immer ein bisschen über dem Weltdurchschnitt hält. Allerdings wirken sich hohe Zinsen negativ auf Investitionen in die Produktion aus, vermittelt darüber auch auf die Handelsbilanz. 

Ein solches Setting bahnt den Weg für fragile ökonomische Rahmenbedingungen, die schnell in eine Krise geraten können, üblicherweise ausgelöst durch einen massiven Abfluss von Kapital. In diesem Zusammenhang ist das Jahr 1989 ein Meilenstein in der ökonomischen Geschichte der Türkei. Im August 1989 wurden die Kontrollen über die Kapitalbilanz aufgehoben, in Parallelität zu den finanziellen Liberalisierungspolitiken in vielen anderen Entwicklungsländern. Seitdem hängt das Wirtschaftswachstum der Türkei im großen Maße von Finanzkapitalzuflüssen ab. Im Übrigen weist die AKP-Periode eine Kontinuität bezüglich dieses Regulierungsregimes auf. Kurzfristige Portfolio-Investitionen und Kapitalzuflüsse, die den Import anheizten, spielten eine entscheidende Rolle für ein kontinuierliches Wachstum. Was die AKP-Periode unterscheidet, ist die inländische Verwendung der Kapitalströme. Zwischen 1989 und 2001 war der Staat der hauptsächliche Kreditnehmer, um das Bilanzdefizit zu kompensieren. Der Staat nahm einen Kredit mit einem höheren Zinssatz als im Weltdurchschnitt, die Zinszahlung lastete auf dem Staatsbudget. Die Kreditaufnahme der öffentlichen Hand und die Zinslast wuchsen in Relation zum BIP während der 1990er Jahre. Eine solche Fragilität verursachte mehrere Krisen. Die Krise von 2001 war die stärkste Krise in der türkischen Geschichte. Das BIP (kalkuliert über den Produktionsansatz) fiel um 5,7 Prozent. Kritische ÖkonomInnen führten die Krise auf unkontrollierte Kapitalzuflüsse zurück, während die Mainstream-Interpretation auf einer fehlerhaften Steuerung der Ökonomie bestand, wodurch auch das Budgetdefizit hervorgerufen worden sei. Letztere setzten sich durch. Mit einem Stabilisierungsprogramm des IWF wurden finanztechnische Maßnahmen ergriffen, die mittels massiver Privatisierung und Kommodifizierung der Bildungs- und Gesundheitsinfrastrukturen realisiert wurden. Die Maßnahmen änderten nicht die von Kapitalzuflüssen abhängige Struktur. Die Türkei änderte ihre Wirtschaftspolitik unter der Kontrolle des IWF nicht und setzte mit der Akkumulationsstrategie fort, die auf dem Angebot eines relativen hohen Zinssatzes beruht, auch die Überbewertung der Währung (TL) wurde beibehalten. Das vom IWF geführte Stabilisierungsprogramm wurde nicht in der AKP-Periode gestartet. Die Steuerung der Krise wurde von einer Koalitionsregierung initiiert, deren Wählerbasis schon wegen den schwerwiegenden Folgen der ökonomischen Krise erodierte. Die Maßnahmen waren zum Teil von Technokraten wie Kemal Derviş bestimmt, der von der Weltbank in die Türkei wechselte und als Wirtschaftsminister angestellt wurde. Während durch die unmittelbaren Folgen der Krise und die ergriffenen Maßnahmen alle politischen Akteure von der Bühne gefegt wurden, übernahm die AKP die Maßnahmen und führte sie fort. 

Zwei zusammenhängende Folgen dieser Maßnahmen sind noch zu erwähnen: Erstens wurde der Bankensektor restrukturiert und faktisch den kräftigen Finanzakteuren des Weltmarktes ausgehändigt. Finanzdienste, hauptsächlich der Bankensektor, waren so attraktiv für ausländische Direktinvestoren, dass sie 48 Milliarden US-Dollar anzogen, zum größten Teil vermittels Zusammenschlüssen und Zukäufen. Zweitens wurde die Kreditvergabe ausgeweitet, wodurch auch der Schuldenstand der Privathaushalte enorm anstieg. Statt des Staats, der in der prä-2001-Periode Kredite aufgenommen hatte, wurden der private Sektor, vor allem nicht-finanzielle Korporationen und Privathaushalte zu den Hauptkreditnehmern der Banken und Finanzinstitute. Der Zinssatzunterschied zwischen dem inländischen und internationalen Markt erlaubte den Banken und anderen Finanzinstituten ihre Kreditgeschäfte zu erweitern, sodass die Darlehensgewährung an den privaten Sektor durch die Aufnahme von günstigeren internationalen Krediten finanziert wurde. Neben Finanzinstituten schnellten die ausstehenden ausländischen Kredite nicht-finanzieller Institutionen in der AKP-Periode empor. Die vom privaten Sektor aufgenommenen Kredite haben besonders seit der Finanzkrise zwischen 2007 und 2009 deutlich zugenommen. Die Steuerung der Finanzkrise und Rezession geschah über den unkonventionellen Weg der Steigerung des Geldumlaufs und einem Zinssatz nahe Null. Diese Wirtschaftspolitik, die federführend von der Federal Reserve und der Europäischen Zentralbank implementiert wurde, senkte den durchschnittlichen Zinssatz drastisch. Da der Realzins in der Türkei höher als der an einem Tiefpunkt angelangte Zinssatz in den führenden Finanzmärkten liegt, war es vergleichsweise einfach für die Türkei ihre Position als attraktiven Markt für Finanzkapital beizubehalten, so wie auch für andere sogenannte Schwellenländer wie Brasilien und Südafrika. Das globale Setting war zuträglich, um den Realzins und die Kreditkosten in der Türkei zu bremsen.

Wo befinden wir uns jetzt?

Die Auslandsschulden des privaten Sektors stiegen von 43 auf 229 Milliarden US-Dollar zwischen den Jahren 2003 und 2016. Die Bruttoauslandsverschuldung der Türkei, private und öffentliche Schulden zusammen, liegt bei 416 Milliarden US-Dollar (Stand drittes Quartal 2016). Kurzfristige Schulden, die spätestens innerhalb von 12 Monaten zurückzuzahlen sind, machen etwa ein Viertel der Gesamtschulden aus. Diese Daten legen nahe, dass der aktuelle Wertverlust der Lira höchstwahrscheinlich Bilanzdiskrepanzen und wirtschaftliche Belastungen für finanzielle wie nicht-finanzielle Institutionen hervorbringen wird, sofern sie hochverschuldet sind. Das Leistungsbilanzdefizit bildet einen anderen Aspekt der ökonomischen Vulnerabilität. Die Tabelle unten fasst einige wichtige Informationen bezüglich der Zahlungsbilanz der letzten zehn Quartale zusammen. Die Gesamtfinanz zeigt uns die Richtung und das Ausmaß der Kapitalzuflüsse an. Sie kann als die Summe aus Finanzbilanz und „net error and omission“ kalkuliert werden. Letztere sind hauptsächlich nicht registrierte Nettokapitalflüsse, also Kapital unbestimmter Herkunft. Die Tabelle zeigt deutlich, dass das Leistungsbilanzdefizit durchschnittlich 2-3 Milliarden US-Dollar Nettokapitalzuflüsse benötigt. Mit den offiziellen Dollar-Reserven der Zentralbank alleine könnte dieses Defizit nicht für lange Zeit ausgeglichen werden. Es gibt Grund für Pessimismus, da die FED angekündigt hat, den Zinssatz in den USA weiter zu erhöhen, wodurch mehr Kapital angezogen wird. Die Nettokapitalzuflüsse zu Schwellenländern wie die Türkei würden dadurch verlangsamen.

Tabelle wichtige Indikatoren

(US- Dollar Millionen)LeistungsbilanzGesamtfinanzOffizielle Reserven
2014Q2-12144182856138
2014Q3-611078001647
2014Q4-1431310943-3373
2015Q1-105296897-3633
2015Q2-1133110416-915
2015Q3-26913469773
2015Q4-7619-422-8056
2016Q1-785599472107
2016Q2-11210175656355
2016Q3-57282902-2818


Die aktuelle Abschwächung der Konjunktur und die Geldentwertung sollten als Ausdruck von Fragilität gesehen werden, die in das makroökonomische Regime eingeschrieben ist. Die innenpolitische Instabilität ist höchstens ein Auslöser, doch könnte dies auch von anderen Ereignissen ausgehen, die in der Türkei oder im Rest der Welt passieren. Es lässt sich nicht voraussehen, ob die Zentralbank der Türkei den Wertverfall der türkischen Lira aufhalten kann, und ob politische Entscheidungsträger die Konjunktur noch mal ankurbeln können. Klar ist aber, dass die Fragilität gegeben ist und sich in Abhängigkeit von der Richtung der finanziellen Flüsse zu einer vollkommenen Währungs- und Wirtschaftskrise entfalten kann. 

Dieser Artikel erschien zuerst im Infobrief Türkei.