Mit dem von Miriam Lang, Büroleiterin in Quito, herausgegebenen Band Demokratie, Partizipation, Sozialismus (2012) beteiligt sich die Rosa-Luxemburg-Stiftung an dieser Diskussion. Das Buch selbst hat eine Debatte ausgelöst, aus der wir zwei Beiträge veröffentlichen.1 Tadzio Müller für die Redaktion

Im Labyrinth von »Post-Entwicklung« und »Buen Vivir«

von Dieter Boris In dem von Miriam Lang herausgegebenen programmatischen Band2 kommt der kritische Hinweis auf »eurozentristische« Betrachtungsweisen ziemlich häufig vor, auch wenn dieses Argument keineswegs neu ist. Die unzulässige Übertragung theoretischer Kategorien und systematisch-inhaltlicher Zusammenhänge, die aus der Betrachtung europäischer Realitäten gewonnen wurden, auf außereuropäische Gesellschaften kann als Eurozentrismus qualifiziert werden. Und muss – nach der im linken Spektrum fast einhelligen Meinung – stark relativiert oder zurückgewiesen werden. Dies betrifft insbesondere die damit häufig verbundenen normativen Vorgaben. Eine andere Frage ist, ob damit automatisch alle Kategorien, die in Europa gewonnen wurden, als falsch und unbrauchbar anzusehen sind; zumal dann, wenn bestimmte ökonomische und gesellschaftliche Institutionen von Europa z.B. nach Lateinamerika übertragen wurden. Sind beispielsweise die analytischen Begriffe der Kapitalismusanalyse (Gebrauchswert/Tauschwert; konkrete/abstrakte Arbeit, Mehrwert, Akkumulation etc.) automatisch falsch und deplatziert, wenn kapitalistische Prozesse in Lateinamerika analysiert werden? Ich glaube nicht. Wichtig ist, die Artikulation, d.h. die Verbindung und Verflechtung solcher kapitalistischer Sektoren in gesamtgesellschaftlichen Kontexten, z.B. im Zusammenhang mit vorkapitalistischen Produktionsweisen, kulturellen Eigenheiten etc. zu analysieren. Der in Teilen der lateinamerikanischen Linken weit verbreitete Begriff des »plurinationalen Staates« ist selbst ein hochgradig eurozentristischer Begriff. »Nation« ist seiner Herkunft nach ein europäisches Konzept, das bekanntlich im Europa des 19. Jahrhunderts seinen größte Bedeutung erlebte (vgl. die einschlägigen Analysen bei E. J. Hobsbawm, B. Anderson, A.D. Smith und E. Gellner). Dies kann den Schöpfern dieser Begrifflichkeit in den neuen Verfassungen Boliviens und Ecuadors kaum entgangen sein. In der Ketschua-Sprache, im Nahuatl (im Azteken-Bereich) und den Maya-Sprachen existiert meines Wissens kein Begriff von Nation. Es ist erstaunlich, wie viele linke Theoretiker ohne Bedenken bereit sind, auch die kleinste Ethnie als Nation zu bezeichnen. Zwar ist das Bestreben nach »Gleichwertigkeit« und voller »Anerkennung« zu verstehen; aber die Frage bleibt, ob dies durch die Übernahme der Begriffe der Eroberer geschehen muss.

»Jenseits der Entwicklung«. Post-Developmentalism

Die Gründung der Arbeitsgruppe Más allá del Desarrollo, die von der RLS in Quito 2010/11 angestoßen wurde, spiegelt ein deutliches Interesse an der seit einigen Jahren bestehenden Theorierichtung des Post-Development. Die berechtigte Kritik, der herrschende Entwicklungsdiskurs sei kapitalapologetisch, neokolonialistisch, kulturimperialistisch und teilweise rassistisch, läuft jedoch Gefahr, jedes entwicklungstheoretische Denken diesem Verdacht auszusetzen. Das berühmte Kind wird mit dem Bade ausgeschüttet. Es wird behauptet, der Begriff »Entwicklung« sei erst 1949 von US-Präsident Harry Truman in seiner Point IV Declaration erfunden, und seither im Sinne und im Dienste des US-Imperialismus und des westlichen Kapitalismus gebraucht worden. Diese Position unterschlägt, dass der Entwicklungsbegriff eine längere und vielschichtigere Geschichte besitzt. Spätestens seit der Aufklärung und insbesondere in der Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts meinte er die widersprüchliche, emanzipatorische Entfaltung von inhärenten Potenzialen bei Individuen und Gesellschaften hin zu größerer Autonomie (Erweiterung der Freiheitsspielräume) und einer materiellen wie immateriellen Besserstellung. Diese Tradition hat sich in einem relativ breiten marxistischen entwicklungstheoretischen Denken seit Ende des 19. Jahrhunderts fortgesetzt (z.B. R. Luxemburg, N. Bucharin, P. Baran, P. Khalatbari, P. Jaleé, de Bernis, S. Amin, I. Wallerstein, G.  Arrighi, R.  Kößler, G.  Hauck, K.H.  Tjaden etc.). Mit diesen und anderen marxistischen Entwicklungstheoretikern setzen Lang et al. sich jedoch nicht auseinander. Was wäre denn die Alternative zu einer wohlverstandenen Entwicklung? Schließlich kommen selbst gestandene ›Post-Developmentalisten‹ nicht ganz ohne den Begriff aus. So argumentiert beispielsweise Eduardo Gudynas (2012, 9): »Dieses System des Buen Vivir ist wiederum mit dem ›System der Entwicklung‹ verbunden. Hier erfolgt eine wichtige Präzisierung, denn es wird darauf hingewiesen, dass die Entwicklung dem guten Leben dienen muss.« Die Tatsache, dass der Entwicklungs-Begriff im obigen Sinne ›missbraucht‹ worden ist, kann nicht heißen, komplett auf ihn zu verzichten. Das müsste sonst auch für andere ›missbrauchte‹ Begriffe wie Demokratie, Nachhaltigkeit oder Sozialismus gelten.

Buen Vivir (sumak kawsay)

Das Konzept des buen vivir aus den andinen Kosmovisionen umfasst bestimmte Vorstellungen zum richtigen/guten Leben (samt der entsprechenden Verhaltensweisen). Es kann m.E. jedoch höchstens als entfernter Leitstern für eine bessere, andere, nicht-kapitalistische, nachhaltig wirtschaftende und solidarische Gesellschaft dienen. Als allgemeine Richtschnur und Zielbestimmung gesellschaftlicher Veränderungen sind die Maximen des buen vivir insbesondere für linke, sozialistische oder marxistische Positionen durchaus attraktiv. Nur ersetzen sie in ihrer Allgemeinheit keine konkrete Analyse und Programmatik. Dem Diskurs um buen vivir kommt weder eine analytische (auf zusätzlichen Erkenntnisgewinn angelegte Begrifflichkeit) noch eine kohärente und präzise programmatische Bedeutung zu. Gerade in dieser Übersetzungsarbeit der abstrakten Prinzipien scheint das Hauptproblem zu liegen. Schon beim Kern- und Wesenselement des Diskurses, dem »Bruch mit der Moderne«, gelangt man auf nebulöses Terrain. Was genau ist ›die Moderne‹? Ist es die Renaissance, der Kapitalismus, die neuzeitliche Wissenschaft, die moderne Kunst, die moderne Architektur, sind es die modernen Kriege? Dies wird nicht erläutert. In vielen Ländern Lateinamerikas bestehen die Bevölkerungen mehrheitlich aus Mestizen oder Weißen; müssen sie sich nun die andinen Kosmovisionen aneignen? Wollen denn alle indigenen Bevölkerungsteile nach dieser Philosophie leben? Der jüngste Wahlausgang in Ecuador, in dem Alberto Acosta, der Kandidat der ›Postentwicklungslinken‹ gegen den ›Extraktivisten‹ Rafael Correa verloren hat, scheint nicht in diese Richtung zu deuten. In dem gesamten Diskurs kommen zentrale Begriffe der kritischen Gesellschaftsanalyse höchstens am Rande oder überhaupt nicht vor: Kapitalismus, Herrschaft, Ausbeutung, Diskriminierung, Ungleichheit, Exklusion, ideologisches Bewusstsein etc. Auch werden diese Phänomene nicht erklärt. Oft wird von einer Gesellschaft oder Gemeinschaft jenseits von Kapitalismus und Sozialismus gesprochen.

(Neo-)Extraktivismus

Als (Neo-) Extraktivismus wird eine wirtschaftspolitische Tendenz bezeichnet, in der der Abbau von Bodenschätzen und Agrargütern für den Export ein wachsendes und tendenziell schädliches Gewicht erlangt. In Lateinamerika ist eine solche Tendenz allgemein zu beobachten. Dies liegt nicht zuletzt an den erheblichen Preissteigerungen von Rohstoffen auf den Weltmärkten während der letzten Dekade und dem Versuch, hierüber nicht nur die volkswirtschaftlichen Deviseneinnahmen, sondern auch die staatlichen Einnahmen zu steigern. Daran entzünden sich zahlreiche soziale Konflikte. Die Zahl sozial-ökologisch bedingter Auseinandersetzungen hat in diesem Zeitraum zugenommen, viele der Proteste sind verständlich und verdienen Unterstützung. Mittel- und langfristig gesehen stellt der Neo-Extraktivismus also eine Fehlentwicklung dar, die aus unterschiedlichen Gründen korrigiert werden sollte: aus ökonomischen (einseitige Abhängigkeit), ökologischen (Klimawandel, Naturzerstörung, Gefährdung des Wassers etc.), sozialen (Bedrohung der betroffenen Bevölkerung) und arbeitsmarktpolitischen Gründen (geringe Arbeitskraftintensität). Der (Neo-)Extraktivismus ist aber nicht in allen Ländern Lateinamerikas gleichermaßen ausgeprägt (vgl. Matthes 2013), und es gibt einige Aspekte, die seine Bedeutung relativieren: Der exorbitante Anstieg der Preise (zumindest für manche Rohstoffe) suggeriert eine Expansion von Exporten, die oftmals nicht existiert. In Venezuela beispielsweise haben sich die Exporteinnahmen aus dem Erdöl seit 2003 verdreifacht. Die Exportmenge hat gegenüber jener Zeit jedoch klar abgenommen.3 Auch wenn Rohstoffexporte insgesamt zunehmen, wächst in einigen Länder die industrielle Produktion absolut und sogar relativ (in Bezug auf das BIP). Dies gilt beispielsweise für Brasilien, Argentinien und Costa Rica. Die These, wonach die dynamische Wirtschaftsentwicklung der letzten zehn Jahre in Lateinamerika nur auf die Expansion des Rohstoffabbaus und dessen Export zurückzuführen sei, ist falsch. In Ländern wie Argentinien, Brasilien, Uruguay, Ecuador, Venezuela waren vor allem der Anstieg der Reallöhne, die teilweise drastische Erhöhung der Minimallöhne, die Zunahme formeller Arbeitsverhältnisse sowie die Verbesserung der gewerkschaftlichen Verhandlungsposition (auch in rechtlicher Hinsicht) für das Wachstum des Binnenmarkts verantwortlich. Auch die Konjunktur-, Wechselkurs- und Fiskalpolitik sowie die Sozialpolitik der progressiven Regierungen waren wichtige Faktoren dieser Entwicklung; ebenso wie die Verringerung der »demographischen Abhängigkeit«, d.h. die günstigere Relation von arbeitsfähiger und nicht arbeitsfähiger Bevölkerung. Schließlich haben die deutliche Steigerung der Frauenerwerbstätigkeit und der Anstieg der Transfers von ArbeitsmigrantInnen das durchschnittliche Haushaltseinkommen in vielen Ländern Lateinamerikas spürbar erhöht (vgl. Boris 2013, 138ff). Für einen Ausweg aus dem skizzierten Dilemma könnten sicherlich kurz- und mittelfristige Kompromisse gerade unter den progressiven Regierungen gefunden werden. Durch scharfe Umwelt- und Arbeitsauflagen, eine nationale Kontrolle der betreffenden Unternehmen und die Beteiligung der Kommunen bei Investitionsentscheidungen könnten Negativfolgen abgemildert werden. Würde man perspektivisch die Entnahme von Rohstoffen reduzieren und diese überwiegend national und regional verarbeiten, könnte dies langfristig zu größerer Nachhaltigkeit und Diversität der Produktionsstrukturen führen. Solche Schritte in absehbarer Zeit zu gehen, scheint möglich.

Staatsanalyse

Die Analyse der Rolle des Staates im Transformationsprozess ist ein zentrales Thema in den genannten Texten und Diskussionen. Die Debatte krankt bisher an verschiedenen Punkten: Es existiert kein theoretisches Konzept vom Staat in peripher-kapitalistischen Ländern; stattdessen wird vom »bürgerlichen Staat« als solchem gesprochen, ohne die Spezifika des Staates in den betreffenden Gesellschaften theoretisch-konzeptionell zu bestimmen. Eine genaue Analyse der sich im Transformationsprozess verändernden Kräfteverhältnisse in den Gesellschaften sowie im Staat und in seinen Apparaten fehlt weitgehend. Genau dies wäre aber die Hauptaufgabe einer Analyse der Rolle, der Schranken und Möglichkeiten von Staaten im Transformationsprozess. Letzteres würde auch einschließen, einzelne Staatsapparate (Militär, Polizei, Justiz z.B.) oder Bildungs- und Gesundheitsinstitutionen hinsichtlich ihrer Stabilität sowie hinsichtlich ihrer bereits vollzogenen Veränderung zu überprüfen. Statt solche theoretisch-konzeptionellen und empirischen Analysen vorzulegen, finden sich viele zukunftsbezogene Beiträge darüber, wie der »Plurinationale Staat« am besten funktionieren sollte. Zentrale Fragen, inwiefern z.B. der in Transformation befindliche Staat in der Lage ist, die systemerhaltenden Oppositionskräfte zurückzudrängen, eventuelle Boykottmaßnahmen zu minimieren oder gewaltsame Rollbackversuche wie beispielsweise in Chile zwischen 1970 und 1973 zu verhindern, sind in den vorliegenden Texten kaum zu finden. Für eine ernsthafte Analyse müsste man sich über die zentralen Fragen eines Transformationsprozesses verständigen – hier scheinen große Unterschiede zu bestehen. Und diese müssten dann sowohl theoretisch als auch empirisch untersucht werden, ohne inhaltsleere Schlagworte (»jenseits der Entwicklung«, buen vivir etc.) an die Stelle konkreter Analyse zu setzen. Beispielsweise wäre zu klären, inwieweit der Staat bereits weitgehend in die Gesellschaft zurückgenommen wurde, folglich permanente Partizipation und Kontrolle nun leichter möglich ist als früher.

Gravierende Defizite

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in den genannten Diskussionen die Dimension internationaler politischer und ökonomischer Beziehungen weitgehend ausgeblendet wird; es kaum Ansätze von Sozialstrukturanalysen in den betreffenden Transformationsländern gibt (vor allem eine Analyse der herrschenden Klasse fehlt); zentrale Aspekte der ökonomischen Produktion und Reproduktion zumeist ausgespart sind oder unterbelichtet bleiben; die ideologischen Auseinandersetzungen sowie die medialen Konstellationen in den jeweiligen Ländern kaum erwähnt werden; eine ernsthafte Analyse des Staates, der einzelnen Staatsapparate, des Ausmaßes der bisherigen Veränderungen zugunsten eines recht pauschalen Anti-Etatismus fast vollständig in den Hintergrund tritt; eine differenzierte Analyse der sich verändernden Kräfteverhältnisse im Prozess der Transformation nicht zu erkennen ist. In dem von Miriam Lang herausgegebenen Band bleiben in den meisten Artikeln wichtige Ausschnitte der Realitäts unbeachtet oder werden stark vernachlässigt. Arbeiten, die beanspruchen, gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse zu analysieren, dürfen jedoch von zentralen Realitätsbereichen nicht abstrahieren. Eine wissenschaftlich und politisch angemessene Transformationsforschung müsste aus linker (oder gar marxistischer) Perspektive anders aussehen.  

»Buen Vivir« als partizipativer Gegenentwurf

von Klaus Meschkat Die inneren Konflikte in den bolivarianischen Ländern (Venezuela, Bolivien und Ecuador) haben in den letzten Jahren zugenommen, obwohl sich die progressiven Regierungen gegen putschistische Manöver der extremen Rechten durchsetzen und überall, zuletzt in Ecuador, bei Wahlen eindrucksvolle Erfolge erzielen konnten. Die Rechte wurde zurückgedrängt, zugleich aber haben sich die Spannungen zwischen sozialen Bewegungen und den Spitzen der Staatsapparate verschärft. Sie führten in Ecuador bei den letzten Wahlen sogar dazu, dass auf der Linken ein eigener Präsidentschaftskandidat gegen Correa auftrat. In Bolivien kulminieren sie im TIPNIS-Konflikt, der Auseinandersetzung um den Bau einer Fernstraße durch ein Naturschutzgebiet im Amazonasbecken. Wie man diese Konflikte beurteilt, hängt auch von einem Verständnis der progressiven Regime in den Anden-Ländern ab.

Neo-Extraktivismus

Fast gleichzeitig mit dem von Miriam Lang (2012) herausgegebenen Buch erschien eine deutschsprachige Publikation des Forschungs- und Dokumentationszentrums Chile-Lateinamerika – FDCL (2012) zum Neuen Extraktivismus. Dort werden eine ganze Reihe Fragen zufriedenstellend klärt, die Dieter Boris in seiner kritischen Rezension aufwirft. Es wird beispielsweise empirisch belegt, in welchem erschreckenden Umfang der Extraktivismus das vorherrschende Wirtschaftsmodell fast aller lateinamerikanischer Länder geworden ist. Dennoch gibt es Unterschiede zwischen dem auf die Spitze getriebenen Extraktivismus in Ländern wie Kolumbien, wo die »Bergbaulokomotive« beschworen wird, und dem Neo-Extraktivismus unter progressiven Regimen. Eduardo Gudynas hat diesen Unterschied m.E. überzeugend herausgearbeitet: Im Neo-Extraktivismus spielt der Staat die entscheidende Rolle bei der Aneignung und Verwendung der Überschüsse aus den gesteigerten Rohstoffexporten, und er benutzt diese zusätzlichen Einnahmen gezielt für eine Verbesserung der materiellen Lage der Mehrheit der Bevölkerung (vgl. 2012, 55). Dies scheint mir die Grundlage für die Wirtschaftspolitik der bolivarianischen Regime zu sein, und es ist mir ganz unverständlich, warum Boris abstreitet, dass die günstige wirtschaftliche Entwicklung der letzten zehn Jahre vor allem »auf die Expansion des Rohstoffabbaus und dessen Export zurückzuführen sei« (Boris in diesem Heft). Im Gegenteil ist seit dem Beginn der Präsidentschaft von Hugo Chávez der Vorrang von Erdölexporten in der Praxis niemals in Frage gestellt worden, und weder die Regierung noch ihre Kritiker auf der Linken oder Rechten haben jemals ernsthaft den sofortigen Ausstieg aus der Rohstoffextraktion gefordert. Chávez’ Leistung besteht zweifellos darin, gegen große Widerstände die Kontrolle des Staates über die Erträge aus der Ölförderung durchgesetzt zu haben und, begünstigt durch steigende Ölpreise, diese Mittel für Sozial-, Gesundheits- und Bildungsprogramme im Land und für umfangreiche Maßnahmen internationaler Solidarität nach außen zu verwenden. Trotz vieler Absichtserklärungen, die Abhängigkeit von Rohstoffexporten vermindern zu wollen, hat sich der Neo-Extraktivismus jedoch eher konsolidiert – in Venezuela wie in Ecuador und Bolivien. In Ecuador scheint es mir bemerkenswert, dass Rafael Correa sogar klare Bekenntnisse zu einer Expansion des modernen Bergbaus abgelegt hat, verbunden mit einer aggressiven Anprangerung aller Gegner dieser Politik als Handlanger des Imperialismus. Die wirtschaftlichen Folgen und Gefahren einer Vertiefung des Neo-Extraktivismus sind vielfach analysiert worden, seine politischen Konsequenzen müssten aber noch weiter ausgelotet werden. Nach meiner Auffassung besteht ein enger Zusammenhang zwischen Extraktivismus und der Verstärkung von Zentralismus und autoritären Tendenzen im politischen Bereich. Eine Staatsspitze, die unbeschränkt und unkontrolliert Zugang zu den ertragreichsten Ressourcen ihres Landes hat, kann bequem die Fortdauer ihrer Herrschaft sichern, ohne sich mit unabhängigen gesellschaftlichen Kräften auf Augenhöhe auseinandersetzen zu müssen. Auch wenn sie sich in regelmäßigen Abständen freien Wahlen stellen muss. Sie handelt nach ihrem Selbstverständnis demokratisch im Dienste der breiten Mehrheit der Bevölkerung, selbst wenn dies die dauerhafte Verwüstung bestimmter Gebiete und den Verlust der Lebensgrundlage der dort lebenden Menschen, oft ganzer indigener Völker, bedeutet. Es ist unvermeidlich, dass sich die unmittelbar Betroffenen zu Wehr setzen. Regionaler Widerstand organisiert sich in Ländern mit rechtsgerichteten Regierungen (Peru, Kolumbien), aber auch in Venezuela, Ecuador und Bolivien. Leider ist auch dort zu beobachten, dass dem Widerstand mit repressiven Maßnahmen begegnet wird, und dass die Konflikte als das Werk proimperialistischer Kräfte in Gestalt auslandsfinanzierter NGOs gebrandmarkt werden. Solche Töne klingen bei Boris glücklicherweise nur schwach an, deutlich wird indes ein schier unbegrenztes Vertrauen in das verantwortliche Handeln der jeweiligen Staatsführungen, denen zugestanden und zugetraut wird, pragmatisch nach verantwortbaren Kompromissen zu suchen. Dies scheint mir nach den Erfahrungen der letzten Jahre kaum gerechtfertigt – es sei denn, man identifiziert sich wieder einmal unbesehen mit Staatsführungen und staatstragenden Parteien, weil sie den real möglichen Fortschritt erkämpfen wollen.

Buen Vivir

Buen vivir benennt das Gegenprinzip zum Festhalten an einem extraktivistischen Wirtschaftsmodell. Es ist nicht etwa in Gestalt postmoderner Theoriefetzen nach Lateinamerika gelangt, sondern dort im Zuge der Ausarbeitung von neuen Verfassungen von indigenen Intellektuellen wie z.B. dem bolivianischen Außenminister Choquehuanca entwickelt worden. Dabei handelte es sich aber nicht nur um eine gerechtere Berücksichtigung von Minderheiten in einem immer noch zentralistischen Nationalstaat. Es ging vielmehr um eine grundlegende politische Umwälzung in Ländern, die bis vor kurzem von kleinen Minderheiten der Nachkommen und Nachfolger spanischer Eroberer beherrscht worden waren. Der dieser Umwälzung entsprechende staatliche Neubau findet seinen Ausdruck in der Benennung des Staates als plurinational: Nicht ein homogen gedachtes Staatsvolk ist Träger des neuen Staates, vielmehr sind es Nationalitäten, wenn nicht gar Nationen, die im Rahmen eines kommunitären, dezentralen Staates mit weitgehenden Autonomien zusammengeschlossen sind. In den Verfassungen Boliviens und Ecuadors wird als Grundlage des neuen Staates ein neues Prinzip verkündet, das auf Quechua sumak kawsay und auf Aymara suma qamaña heißt, im Spanischen meist mit buen vivir übersetzt. Die deutsche Übersetzung als »Gutes Leben« gibt den ursprünglichen Sinn kaum wieder. Gutes Leben bedeutet nämlich keineswegs ein Leben in einem Wohlstand, der nur durch ständiges Wachstum erworben werden kann, sondern im Gegenteil ein Leben in Harmonie und Gleichgewicht mit der Natur und den Mitmenschen. Dies impliziert einen Bruch mit der unverzichtbaren Grundlage kapitalistischen Wirtschaftens, dem Zwang zum unbegrenzten Akkumulieren. Was dies für die Organisation von Staat und Wirtschaft bedeutet, wird in beiden Verfassungen teils angedeutet, teils ausgeführt, ohne dass der damit verbundene Verfassungsauftrag an die Gesetzgebung bisher auch nur in Ansätzen eingelöst wurde. Das buen vivir bezeichnet also das Ziel einer solidarischen Gesellschaft, in der ein menschenwürdiges Leben aller nicht mit einer Zerstörung der Natur erkauft wird – und wenn in der Verfassung von Ecuador ein eigenes Recht der Natur postuliert wird, so hängt auch dies eng mit dem Konzept des buen vivir zusammen. Es wird durchaus eine Zielvorstellung benannt, deren Fehlen Boris zu Unrecht bemängelt. Der damit gegebene Verfassungsauftrag muss allerdings konkretisiert werden – ähnlich wie zum Beispiel der Verfassungsauftrag des Grundgesetzes, dass Eigentum verpflichtet. Die linken Kritiker werfen den Regierungen in Ecuador und Bolivien vor, dass sie keine Strategien entwickeln, um diesen Verfassungsauftrag zu erfüllen. Sie befürchten, dass Chávez’ Slogan vom »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«, der von Evo Morales und Rafael Correa ebenfalls in Anspruch genommen wird, in Wahrheit auf eine Wiederholung des real existierenden Sozialismus des vergangenen Jahrhunderts hinausläuft. Dieser war bekanntlich bereit, die Zerstörung der Natur zugunsten des Fortschritts in der Entfaltung der Produktivkräfte in Kauf zu nehmen. Das in den Verfassungen verankerte Prinzip des buen vivir wird aus der Sicht der Kritiker einem weitergetriebenen Extraktivismus geopfert.

Das Beispiel TIPNIS

Erstaunlich in der Rezension von Dieter Boris ist die Tatsache, dass er den für die Debatte zentralen Konflikt um den Erhalt des Nationalparks von TIPNIS (Territorio Indígena y Parque Nacional Isiboro-Sécure) nur am Rande erwähnt. Die dort geplante Fernstraße von Brasilien nach Peru läuft quer durch ein Gebiet, das nicht nur seit 1965 Nationalpark ist, sondern in Folge eines Marsches der Tieflandindianer zu Beginn der 1990er Jahre außerdem als indigenes Territorium ausgewiesen wurde. Obwohl laut Verfassung nur mit Konsultation der im TIPNIS ansässigen indigenen Völker gestattet, vereinbarte Evo Morales 2007 mit dem damaligen brasilianischen Präsidenten Lula da Silva dort den Bau einer Straße, die den Weg brasilianischer Exportprodukte an die Pazifikküste des Subkontinents verkürzen sollte. Mitte 2011 organisierten die Tieflandindianer einen weiteren Marsch, der den Präsidenten schließlich veranlasste, den Bau des mittleren Abschnitts der Fernstraße zu stoppen und das Herz des TIPNIS für unantastbar zu erklären. Der Konflikt schien zunächst ausgestanden, flammte jedoch erneut auf, als Siedler und mit ihnen kooperierende Indígenas aus der südlichen Region des TIPNIS, die an die Koka-Gebiete des Chapare angrenzt, für die Fortsetzung des Baus mobilisierten. Mit Hilfe der Regierung gründeten sie eine rivalisierende indianische Organisation, die eine plebiszitäre Abstimmung zum Bau der Straße verlangte. Wegen der Spaltung der Indígena-Organisationen ergab das umstrittene Plebiszit letztlich eine Mehrheit für den Bau der Fernstraße. Eine Analyse des Konflikts erhellt verschiedene Aspekte: Das oberste Ziel des Bauprojekts ist die Erleichterung brasilianischer Exporte nach Fernost. Finanziert durch eine brasilianische Entwicklungsbank und durchgeführt von einem brasilianischen Bauunternehmen diente es der verstärkten Bindung Boliviens an das mächtige Brasilien. Für Bolivien selbst hätte die neue Direktverbindung zwischen Cochabamba/La Paz und den ertragreichen Landwirtschaftszonen des Tieflands die Folge, dass Santa Cruz seine bisherige Monopolstellung als Drehscheibe der Agrarindustrie verlieren würde. Für Morales’ Partei MAS wäre das ein willkommener Nebeneffekt in der Auseinandersetzung mit der rechten Opposition im Osten Boliviens. Bei dem Konflikt zwischen den Gegnern und Befürwortern der Fernstraße stoßen zwei unterschiedliche Logiken aufeinander: Einmal die amazonische Wirtschaftsweise der im TIPNIS ansässigen Indigenen, die auf Subsistenz und Ernährungssicherheit ausgerichtet ist und kollektive Nutzungs- und Verbrauchsrechte an den Produkten des Waldes einschließt. Zum anderen die auf individueller Landzuteilung beruhende Ökonomie der andinen Siedler, die den Wald in Land für den Koka-Anbau verwandeln wollen (ebd., 82ff). Im Süden des TIPNIS sind die Auswirkungen dessen bereits sichtbar: Die Zone ist weitgehend entwaldet. Die dort ansässigen Yucare haben ihre kollektiven Gemeinschaftsformen größtenteils verloren und sind als Hilfskräfte in die Koka-Ökonomie einbezogen. Der Bau der Straße hätte zur Folge, dass sich der Koka-Anbau in das Herz des TIPNIS ausweiten würde, was sich gut mit einem ›Extraktivismus‹ anderer Art vereinbaren ließe: 2007 vergab die Regierung Konzessionen zur Exploration großer Teile des TIPNIS an zwei ausländische Erdölgesellschaften, die von brasilianischem und venezolanischem Kapital kontrolliert werden. Dies widerspricht einer seit 2001 bestehenden Schutzbestimmung für den TIPNIS, die Ölförderung ausschließt.

Was fehlt?

Je eindeutiger sich die Wende zum Neoextraktivismus in den progressiven Regimen durchsetzt, desto stärker wächst auch die Neigung, den Widerstand dagegen als konterrevolutionär abzustempeln. Im Juni 2011 verfasste einer Gruppe bolivianischer Intellektueller ein Manifest, in dem sie ihre Regierung zur Einlösung des Verfassungspostulats des buen vivir aufforderte. Darauf antwortete der Vizepräsident Alvaro García mit einem Büchlein »El OENEGISMO, enfermedad infantil del derechismo« (Der NGOismus, Kinderkrankheit des Rechtsabweichlertums). Er warf seinen Kontrahenten vor, Instrument der vom Ausland finanzierten NGOs zu sein. Ähnliche Töne schlug Rafael Correa in seiner Wahlkampagne und in Erklärungen nach seinem Wahlsieg an. Wohin es führen kann, wenn der politische Gegner direkt als Werkzeug finsterer Mächte des Imperialismus verteufelt wird, zeigt die Geschichte. Bei der Warnung, man müsse immer auch die internationalen Kräfteverhältnisse und die Gefahr einer Rückkehr konterrevolutionärer Kräfte bedenken, ist deshalb Vorsicht geboten. Gewiss ist es richtig, die außenpolitischen Zwänge und die fortbestehenden imperialistischen Ambitionen der USA in Rechnung zu stellen – aber ohne sich deshalb der verhängnisvollen Logik zu unterwerfen, dass der Feind meines Feindes immer schon mein Freund sein muss. Für Demokraten und Sozialisten muss beispielsweise die Freundschaft mit den Machthabern eines theokratischen Unterdrückungsregimes unerträglich sein. Dies darf nicht länger schweigend übergangen werden, denn es gehört auch zu einer Positionierung der Linken. Literatur Boris, Dieter, 2013: Neue Tendenzen in den Sozialstrukturen Lateinamerikas, in: PROKLA 170, 138ff FDCL und Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hg.), 2012: Der Neue Extraktivismus. Eine Debatte über die Grenzen des Rohstoffmodells in Lateinamerika, Berlin Gudynas, Eduardo, 2012: Buen Vivir. Das gute Leben jenseits von Entwicklung und Wachstum, in: Lang 2012, 28ff ders., 2012: Der neue progressive Extraktivismus in Lateinamerika, in: FDCL und RLS, 46ff Lang, Miriam, (Hg.), 2012: Demokratie, Partizipation, Sozialismus. Lateinamerikanische Wege zum Sozialismus, RLS, Berlin, www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Manuskripte/Manuskripte_96_Web.pdf Dies. et al. (Hg.), 2013: Alternativas al Capitalismo/Colonialismo del siglo XXI. RLS Quito Matthes, Sebastian, 2013: Eine quantitative Analyse des Extraktivismus in Lateinamerika, Kassel
1     Weitere Debattenbeiträge finden sich in FDCL, RLS 2012; und Lang et al. (Hg.), 2013, Alternativas al Capitalismo/Colonialismo del siglo XXI. RLS: Quito.
2     Siehe hierzu auch meine Besprechung in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung 92 (2012), 178-189. 3     »Als Chávez 1999 sein Amt antrat, lag der Ölpreis bei 10 Dollar je Fass. Heute liegt er über 100 […] Doch die Förderung ist heute um etwa 20 Prozent niedriger als zu Chávez’ Machtantritt.« (FAZ, 11.3.2013, 20)