Du bist Lobbyist für Lastenfahrräder, das klingt lustig. Lastenräder wirken eher wie eine Spielerei von gut verdienenden Grünen in größeren Städten. Können sie zur Mobilitätswende beitragen?

Der Eindruck stimmt nicht. Eine repräsentative Umfrage des Sinus-Instituts hat die »spaß- und erlebnisorientierte moderne Unterschicht und untere Mittelschicht« als das Milieu identifiziert, in dem es die meisten Kaufinteressierten gibt. Ein teures Statussymbol ist ja eher das Auto! Wir müssen die Wahrnehmung verändern, dass ein Auto zum selbstverständlichen Bestandteil eines Haushaltes gehört, während ein deutlich günstigeres Lastenrad als Privileg von Besserverdienenden gilt. Natürlich sind Kaufpreise von 2 000 bis 7 000 Euro für ein neues E-Lastenrad kein Pappenstiel. Aber ein E-Auto kostet das Zehnfache, wird allerdings mit bis zu 3.000 Euro Steuergeld subventioniert.

Und worin läge der Beitrag zur Mobilitätswende?

Lastenräder bieten eine echte Alternative zum privaten oder gewerblichen Auto. Das gilt insbesondere für kleine Transporte im städtischen Raum. Dank des Durchbruchs der Elektromobilität im Fahrradbereich gilt es aber auch für längere Strecken im ländlichen Raum und bei Transporten bis 250 Kilogramm. Lastenräder füllen eine Lücke zwischen dem klassischen Fahrrad und dem Auto bzw. Transporter. Außerdem sind sie emissions-, zulassungs-, versicherungs- und führerscheinfrei, können ohne Spritkosten auf dem Fahrradweg am Autostau vorbeifahren und meist direkt am Ziel parken.

Lässt sich das Potenzial von Lastenrädern quantifizieren?

Laut einer Studie des europäischen Cyclelogistics-Projekts könnten 51 Prozent aller motorisierten Transporte in europäischen Städten auf Fahrräder bzw. Lastenräder verlagert werden (Reiter/Wrighton 2014). Etwa ein Drittel davon sind gewerbliche Fahrten, zwei Drittel private. Bei Letzteren machen private Einkaufsfahrten den Löwenanteil aus. Eine andere Studie sieht im Wirtschaftsverkehr in Deutschland ein landesweites Verlagerungspotenzial von 22 Prozent bei Transporten bis 50 Kilogramm (Gruber/Rudolph 2016). Das ist schon substanziell.

Im privaten Gebrauch kann ich mir das vorstellen – und im Sommer. Aber wie steht es mit der gewerblichen Nutzung für Handwerker oder Paketdienstleister? Auch sie würden sicherlich davon profitieren, nicht stundenlang im Stau zu stehen. Aber was ist, wenn es Minusgrade hat oder regnet?

Klar, Regen und Kälte sind ein Hemmnis beim Umstieg aufs Lastenrad – aber das ist auch eine kulturelle Frage. Technisch gesehen gibt es sehr gute Arbeitskleidung für Radfahrende und einige Schwerlasträder für die Logistikbranche haben eine regengeschützte Fahrerkabine. Genauso wichtig ist aber die Fahrradkultur. Die Briefzustellung funktioniert seit über 100 Jahren verlässlich auf Fahrrädern – zu jeder Jahreszeit. Das ist einfach normal. In den meisten Branchen ist halt das Auto normal. Diesen »Automobilkonsens« gilt es zu knacken. Der Umstieg muss gesellschaftlich honoriert werden, damit das Rad als Befreiung statt als Degradierung erlebt wird. Nur dann sind gut zu fahrende Lastenräder auch ein Genuss und vermitteln ein Freiheitsgefühl. Verkehrswende kann und muss ja auch Spaß machen.

Gibt es gute Beispiele für einen Umstieg im größeren Stil?

Ja, UPS in Hamburg hat beispielsweise 2013 die innerstädtische Paketzustellung auf ein Mikrodepot-Konzept umgestellt. Dabei wird morgens an mehreren Standorten in der Innenstadt per Lkw ein großer Container angeliefert. Von diesem Mikrodepot erfolgt die Feinverteilung auf der sogenannten letzten Meile per Lastenrad und Sackkarre. Dazu gehört aber auch, dass UPS in Hamburg mit eigenen Angestellten arbeitet statt mit Subunternehmen und deren prekär Beschäftigten. Die Qualität der Arbeitsverhältnisse macht für den erfolgreichen Umstieg viel aus.

Und im Privaten?

Hier reicht ein Blick nach Kopenhagen und Amsterdam. Dort hat das private Auto in den Innenstädten seine hegemoniale Stellung längst verloren. Regelmäßig kursieren auch Bilder von Mitgliedern der Königsfamilien auf Lastenrädern. Damit wird deren gesellschaftliche Normalität und Wertschätzung unterstrichen. Sie sind ein wichtiger Faktor, damit sich Menschen mit ihrer Vielzahl an Transportbedürfnissen aus der Autoabhängigkeit befreien können. Autofreie Städte werden so erst konkret vorstellbar. Es darf aber nicht primär um attraktive Innenstädte gehen, deren Aufwertung die soziale Spaltung der Stadt vorantreibt. Deswegen müssen Lastenräder auch in den Peripherien der Städte und für Einkommensärmere nutzbar sein. Hier kommt auch Lastenrad-Sharing ins Spiel. Es gibt erste kommerzielle Anbieter und öffentliche Fahrradverleihsysteme mit Lastenrädern.  Bemerkenswert ist die schnell wachsende Bewegung der »Freien Lastenräder«. Bundesweit über 70 Initiativen verleihen Lastenräder auf Grundlage des Commons-Gedankens kostenlos. In Berlin ist die »Flotte« des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) innerhalb von zwei Jahren auf 120 Räder angewachsen. Mit Unterstützung von Berliner Bezirken sind inzwischen auch gezielt Verleihstationen in den Außenbezirken entstanden. Diese Bewegung steht für das Recht auf Mobilität und Stadt für alle jenseits von Privatbesitz.

Oft wird über den notwendigen Dreiklang der Mobilitätswende gesprochen, dass wir Verkehr vermeiden, verlagern und verändern müssen. Jenseits des Verlagerns, welchen Beitrag kann das Lastenrad leisten?

Naja, im Wirtschaftsverkehr können die Räder auch der systemimmanenten Effizienz- und Gewinnmaximierung dienen: also noch schnellere und noch mehr (unnötige) Lieferungen im Rahmen der globalisierten Gig Economy mit prekär Beschäftigten – auf emissionsfreien Lastenrädern. Umgekehrt können sie aber auch Utopieträger für ein nachhaltiges, stärker regional organisiertes Wirtschaftssystem sein: mit weniger und kürzeren Transporten, aber mehr Wertschätzung für die Beschäftigten. Einige Radlogistikunternehmen sind als Genossenschaft organisiert und setzen auf regionale Produkte. Hier ist das Prinzip Kiezkaufhaus interessant: Es kombiniert Online-Shopping bei lokalen Einzelhändlern mit Same-Day-Delivery-Service auf Lastenrädern. Symbolisch auf die Spitze treibt den utopischen Gehalt der Lastenräder die sogenannte Schokofahrt. Regelmäßig transportieren Hunderte Lastenradler*innen mehrere Tonnen Fairtrade-Schokolade per Lastenradkonvoi von Amsterdam in unzählige deutsche Städte. Sie stellen eine fundamentale Frage: Wie und wie viel wollen wir in Zeiten der Klimakrise zukünftig konsumieren und transportieren?

Spielen E-Cargo-Bikes auch in der Konver­sionsdebatte eine Rolle? Könnten sie einen Teil der wegfallenden Autoproduktion ersetzen?

Die deutschen Automobilzulieferer sind schon längst in der Fahrradwirtschaft tätig. Bosch ist Marktführer bei Pedelec-Motoren für E-Bikes, aber auch Brose und ZF stellen sie her. Gerade bei Lastenrädern und speziell Schwerlasträdern ist die Überschneidung mit der Auto- und Nutzfahrzeugindustrie besonders groß. Denn Lastenräder brauchen Komponenten und Konzepte für höhere Belastungen, und die Unternehmen wissen, dass sie für den Stadtverkehr Alternativen bieten müssen. So entwickelt unter anderem Schaeffler ein überdachtes vierrädriges Lastenrad für die private und gewerbliche Nutzung. Sortimo und Krone haben gemeinsam mit Fahrradherstellern bereits eigene Lastenräder auf den Markt gebracht. Ganz groß präsentierte VW auf der Internationalen Automobil-Ausstellung (IAA) Nutzfahrzeuge 2018 ein eigenes Cargobike, das in Hannover produziert werden soll. Technisch gesehen ist das VW-Lastenrad zwar ein Flop und bisher auch nicht auf dem Markt. Aber es zeigt, dass kaum noch ein Akteur der Autoindustrie am Lastenradthema vorbeikommt.

Und quantitativ?

Zur Konversion der Autoindustrie können Lastenräder natürlich nur einen kleinen Teil beitragen. Sie sind eher ein Symbol für Degrowth. Das gilt jedoch nicht für die eigentlichen Lastenradhersteller. Oft sind das kleine spezialisierte Unternehmen, teils mit Ursprung in der Alternativökonomie. Dort gibt es momentan ein kräftiges Wachstum und es entstehen neue Arbeitsplätze. Wenn die Automobilindustrie es mit der Konversion ernst meint, sollte sie hier Partner suchen.

Was müsste auf politischer Ebene passieren, um den Umstieg zu erleichtern?

Um Lastenräder für alle erschwinglich zu machen, bräuchte es neben dem Sharing bundesweite Kaufprämien, am besten sozial gestaffelt und mit einer Auto-Abwrackprämie gekoppelt. So würden viel mehr Menschen umsteigen, das zeigt der riesige Erfolg kommunaler Kaufprämienprogramme letztes Jahr zum Beispiel in Köln, Hamburg und Leipzig. Mit wachsendem Markt wird sich dann auch ein Gebrauchtmarkt mit günstigeren Modellen entwickeln.

Darüber hinaus braucht es das, was die Fahrradförderung insgesamt braucht: mehr Platz im Straßenraum, mehr Rechte im Straßenverkehr, mehr Investitionen in Infrastruktur, Serviceangebote und Kommunikationskampagnen. Ohne den konstanten Druck von unten, von den landesweit erfolgreichen Radentscheid-Initiativen und von den Gerichten im Rahmen der Luftreinhaltung geschieht meist nicht viel. Die Politik fürchtet um Wählerstimmen und scheut den Konflikt mit der Autolobby. Umso wichtiger ist es, dass die Fahrradlobby ihren politischen Fokus weitet, so wie das bei den erfolgreichen Protesten gegen die IAA in Frankfurt a. M. letztes Jahr der Fall war.

Und die Kommunen?

Die könnten einiges tun: Neben der Umverteilung von Verkehrsfläche und Zufahrtsbeschränkungen für Kraftfahrzeuge können sie in der Beschaffungs- und Vergabepolitik umsteuern und neue Logistikinfrastrukturen ermöglichen. Im eigenen Fuhrpark von Behörden zum Beispiel, in kommunalen Unternehmen und Einrichtungen wie Bibliotheken oder bei der Vergabe von Transportaufträgen kann die öffentliche Hand gezielt Kraftfahrzeuge durch Lastenräder ersetzen. So hat der Stadtrat von Leipzig entschieden, dass bei der Neuausschreibung des Botendienstes für die Stadtverwaltung Lastenräder zu berücksichtigen sind.Was die urbane Logistik betrifft, müssen wir weg davon, dass öffentlicher Straßenraum von Lkw als kostenloser Lagerraum genutzt wird, während für Mikrodepots hohe Mieten anfallen. Hier ist das Modellprojekt KOMODO des Berliner Senats mit fünf großen Paketzustellern beispielhaft. Betrieben wird die gemeinsame Depotfläche von der landeseigenen Berliner Hafen- und Lagerhausgesellschaft. Idealerweise würden solche Mikrodepots in Zukunft per Bahn oder Schiff und nicht mit Lkw beliefert.

Für private Lastenräder braucht es mehr sichere und komfortabel erreichbare Stellplätze an Wohnhäusern, Arbeitsstätten, Einkaufsmeilen und Bahnhöfen für alle Fahrradtypen. Dazu müssen Parkplätze umgewandelt werden. Auf einen Autoparkplatz passen mindestens drei Lastenräder.

Das Gespräch führte Barbara Fried.