Das überfüllte Audimax der Universität Leipzig bildet die erzählerische Klammer von Klaus Dörres neuestem Buch über die »Utopie des Sozialismus«. Im Mai 2019 hatten die Leipziger Students for Future eine Vollversammlung organisiert, auf der eine große Mehrheit einen studentischen Klimastreik in Solidarität mit den Schüler*innen von Fridays for Future beschloss. Die Vollversammlung habe ihn »spüren« lassen, »dass ein ökologisch inspirierter Sozialismus zu einer höchst lebendigen Praxis werden kann« (Dörre 2021, 9). Und tatsächlich: Die meisten derjenigen, die 2019 an der Universität Leipzig Teil der Klimabewegung wurden, erinnern sich noch sehr gut an die Stimmung und Energie, die damals für einige Wochen den Campus erfüllte. Auch wenn die Hochschulen keinen Querschnitt der Gesellschaft abbilden, möchte ich hier darstellen, warum sich in dieser Erfahrung Auswege aus dem derzeitigen Frust der LINKEN andeuten, und diskutieren, welche unserer Stärken sich für den notwendigen Parteiaufbau verallgemeinern lassen.

Was war besonders an der Leipziger Vollversammlung? Der »tosende Applaus«, den Klaus Dörre (wie von uns erhofft) erhielt, als er für die Notwendigkeit eines nachhaltigen Sozialismus plädierte? Sicher. Dass ein Betriebsrat der Leipziger Verkehrsbetriebe wie selbstverständlich bei einer studentischen Versammlung auftrat? Ebenso. Entscheidend aber ist, dass sich mit der Leipziger Vollversammlung eine neue Generation an den Hochschulen auf den Weg gemacht hat, ihre eigene Form von sozialistischer Politik zu entwickeln. Es ist der Weg zur Leipziger Vollversammlung, die Geschichte, die davor passierte, was wir uns genauer angucken sollten. Denn hier zeigen sich exemplarisch die ersten Gehversuche einer sozialistischen Politik unserer Generation.

Unsere Gehversuche zeichnen sich durch drei Dinge aus, die auch für die LINKE von Bedeutung sind. Wir sind erstens davon überzeugt, dass es für ein gutes Leben für alle in der Zukunft eine radikale Alternative zum Kapitalismus im Kapitalozän braucht. Im Zentrum unserer Vision steht eine ökosozialistische Strategie. Zweitens gehen wir davon aus, dass auch die kleinsten Veränderungen nur mit gesellschaftlichen Mehrheiten durchgesetzt werden können, weil wir a) sonst nicht gewinnen und dies b) einem Kerngedanken der sozialistischen Bewegung – dem Ausbau der Demokratie – entspricht. Deshalb suchen wir das Bündnis mit Arbeiter*innen und sind bereit, jene zu überzeugen, die unsere Positionen nicht teilen. Denn drittens wissen wir, dass Mehrheiten für Veränderungen nicht auf Zuruf entstehen, sondern systematisch organisiert werden müssen. Sie kommen vor allem dann produktiv zusammen, wenn sie eine konkrete Perspektive auf Erfolg haben. Radikal in der Analyse und mehrheitsorientiert in der Praxis bedeutet für uns, eine Politik zu machen, die aus den gesellschaftlichen Widersprüchen heraus Vorschläge für gemeinsame Bewegung entwickelt, um zu gewinnen.

Kosmos Hochschule

Die Hochschulen und Universitäten sind ein besonderer Raum. Hier kommen viele junge Menschen an wenigen zentralen Orten zusammen – in »Lernfabriken«, wie manche sagen. Viele wollen sich ausprobieren, »endlich etwas tun«, suchen nach alternativen Denk- und Lebensformen. Gleichwohl studiert in Deutschland mittlerweile die Hälfte eines Jahrgangs, aktuell sind über drei Millionen Menschen an einer Hochschule immatrikuliert. Mit dem Anstieg der Arbeits- und Leistungsdichte ist Zeit auch für Studierende zu einer kostbaren Ressource geworden. Wer sich entscheidet, politisch aktiv zu werden, macht zwangsläufig Abstriche im Studium, bei Familie, Freund*innen oder Hobbys und will folglich auch etwas erreichen. Doch linke Siege kennen wir kaum. Das Bewusstsein vieler Studierender entspricht einem »kapitalistischen Realismus« (vgl. Fisher 2013): Viele können sich eher das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorstellen. Dementsprechend dominieren »Gefühle der Distanz und Ohnmacht gegenüber organisierter Politik«, da diese in allen lebensrelevanten Fragen weit entfernt von den eigentlichen Bedürfnissen zu sein scheint (Lill 2021).

Auch wenn Studierende nach wie vor nicht den gesellschaftlichen Querschnitt abbilden – der Zugang zu akademischer Bildung ist immer noch höchst ungerecht verteilt –, lassen sich dennoch einige gesellschaftliche Phänomene im »kleinen« Kosmos Universität wiedererkennen, zum Beispiel die Stärken und Schwächen der linken Bewegung und ihrer Organisationen.

Als Studierendenverband erreichen wir – wie die LINKE – nicht alle Milieus gleichermaßen. Wir sind noch viel zu wenig an Fachhochschulen verankert, bestimmte Fakultäten und Institute (ja, es sind die Geisteswissenschaften) sind besser vertreten als andere. Das hängt damit zusammen, wo wir aktiv sind, wie und worüber wir sprechen, was wir fordern, wie wir aussehen, wann wir uns treffen. Während es uns häufig gelungen ist, als radikale Minderheit Debatten anzustoßen und Aufmerksamkeit zu erregen, und wir an den Hochschulen durchaus von einer passiven Mehrheit sozial-ökologischer Positionen ausgehen können, waren wir gleichzeitig nur selten in der Lage, für bestimmte Forderungen eine aktive Mehrheit aufzubauen und entsprechende Veränderungen durchzusetzen.

Die Leipziger Vollversammlung

Das wollten wir 2019 ändern. Mit dem Aufkommen der Schulstreiks von Fridays for Future wäre es für uns ein Leichtes gewesen, eine radikale, parallel zum Klimastreik stattfindende Kundgebung für Klimagerechtigkeit zu organisieren. Auch eine Hörsaal-Besetzung hätten wir innerhalb von Stunden auf die Beine stellen können, eine Vollversammlung hätte der Studierendenrat einfach einberufen können. Wir entschieden anders: Wir wollten die Versammlung von unten aufbauen. Unser Ziel war nicht, dass viele unserer Einladung folgen, sondern dass viele die Vollversammlung als ihr Projekt verstehen und wir dadurch herausfinden, wie stark die Klimabewegung an der Hochschule wirklich ist. Also starteten wir eine Petition, die nur handschriftlich und nach einem Gespräch unterzeichnet werden konnte. Die Forderung: Einberufung einer studentischen Vollversammlung, um einerseits Solidarität mit den Schüler*innen zu üben und andererseits über die Beteiligung von Studierenden und der Universität im Allgemeinen am Klimastreik zu beraten. Es gelang uns, innerhalb von wenigen Tagen über 2.000 Unterschriften von Studierenden zu sammeln. Das sind doppelt so viele Stimmen wie für die Einberufung einer Vollversammlung nötig gewesen wären. Wir gingen dabei systematisch vor. Das heißt, wir unterteilten die Universität in verschiedene Einheiten. Und es war unser Ziel, in jeder dieser Einheiten die Mehrheit der Studierenden vom Sinn einer Klima-Vollversammlung zu überzeugen.

Die Vollversammlung wurde die größte seit vielen Jahren. Das Audimax war so überfüllt, dass wir mehrere Livestreams vor dem Hörsaal anbieten mussten. Beim Klimastreik war der Campus proppenvoll. Es folgte eine weitere Vollversammlung von ähnlicher Größe, eine bundesweite Klimastreikwoche, aber vor allem eine enge Zusammenarbeit von Klimaaktivist*innen und Bus- und Bahnfahrer*innen in über 30 Städten – über die an anderer Stelle genug und besser geschrieben wurde[1] –, die eine so starke Ausstrahlungskraft hatte, dass auch Sahra Wagenknecht in ihrer Abrechnung mit den »Selbstgerechten« nicht darüber schweigen konnte (Wagenknecht 2021, 34).

Inwiefern aber lassen sich diese Entwicklungen als erste Gehversuche einer sozialistischen Politik unserer Generation verstehen? Zunächst kam in dem großen Zuspruch, den Dörres Sozialismus-Plädoyer auf unserer Vollversammlung erhielt, zum Ausdruck, dass klar vorgetragene radikale Antworten angesichts der Klimakrise auf breite Zustimmung stoßen können. Der Aufbau der Vollversammlung über eine Petition sowie das Einladen eines Betriebsrates stehen zweitens beispielhaft für die Mehrheitsorientierung. Drittens war die Vollversammlung Ergebnis einer sehr systematischen und – wie wir mit Jane McAlevey sagen – strukturbasierten Vorgehensweise (McAlevey 2019). Unsere eigene Stärke lernten wir einzuschätzen, indem wir große Mappings und Tabellen erstellten, in denen wir dokumentierten, mit wem wir wo mit welchem Ergebnis gesprochen hatten. Alle, die die Petition unterschrieben oder uns infolge von Ansprachen in Vorlesungen und Seminaren ihre Kontaktdaten gegeben hatten, wurden von uns in einer Telefonaktion erneut angerufen und eingebunden. Riesige selbst gebastelte Tabellen im Seminarraum, die in einem Plenum von über 100 Leuten gemeinsam ausgefüllt werden. Ein politisches Callcenter dort, wo sonst in Politikwissenschaft eingeführt wird – diese disziplinierte, ernsthafte Arbeitsweise hat überhaupt erst den Spielraum für Experimente ökologischer Klassenpolitik eröffnet und nebenbei bemerkt dazu geführt, dass der SDS Leipzig heute fast 100 Aktive zählt, die sich wöchentlich treffen.

Was bedeutet das für die LINKE?

Die LINKE hat in meinen Augen den gesellschaftlichen Auftrag, dem »kapitalistischen Realismus« sowohl die Vision einer sozial-ökologischen Alternative gegenüberzustellen, als auch, Beispiele konkreter Veränderung aufzubauen, zu unterstützen und zu popularisieren. Die LINKE muss diesen Auftrag umso mehr erfüllen, als dass ihr Gründungscharakter als Protestpartei gegen die Agenda 2010 vorbei ist und sie sich den Anders-als-die-anderen-Status erst neu erarbeiten muss. Die »Ampel« als »Modernisierungskoalition des Übergangs« (Candeias) wird dafür ausreichend Gelegenheiten bieten. Rasch wird sie insbesondere die Erwartungen von progressiver Seite enttäuschen. Die Klimakrise wird voranschreiten, Transformationskonflikte in Auto- und Energieindustrie werden sich verschärfen. Ob die LINKE davon profitieren kann, ist offen.

Ich bin davon überzeugt, dass unsere kleinen Erfahrungen Hilfestellungen für diese Herausforderung andeuten. Wir Linke sind gut beraten, realistisch und deshalb radikal in die Zukunft zu blicken. Ein »System Change« ist notwendig, seine Voraussetzungen müssen aber auch klar und ehrlich kommuniziert werden. Wir haben keine Zeit für offensichtlich unhaltbare Versprechen wie »Wir machen das« (die LINKE) oder »Mit Euch mach ich das« (Lederer), sondern müssen Fragen wie »Was bist du selbst bereit zu tun?« in den Vordergrund stellen. Es gibt Wege, jenseits der Regierung Macht aufzubauen. Wer mit Systematik und einem klaren Plan to Win arbeitet, der kann Stärke aufbauen. Das haben wir im Kleinen gezeigt, das zeigen aktuell die TVStud-Initiativen in Hamburg oder Bremen. Und das hat im bisher mit Abstand größten und beeindruckendsten Maße die Berliner Krankenhausbewegung bewiesen – die kräftigste Streikbewegung der jüngeren Geschichte, die ihre Stärke und ihren Erfolg im Wesentlichen aus ebendiesem konsequenten Machtaufbau von unten entwickelte.

Auch die LINKE wird Gelegenheiten bekommen, zu neuer Stärke zu finden – im Rahmen weiterer Auseinandersetzungen in der Pflege oder wenn die Tarifverträge im Nahverkehr wieder verhandelt werden und an vielen Stellen, die wir jetzt noch nicht kennen. Dabei muss sie denjenigen, die grundlegenden Wandel wollen, den Spiegel vorhalten und sinnvolle Vorschläge machen, was jede*r selbst tun kann. Das ist alles andere als einfach. Aber ohne herauszufinden, wie aus interessanten Umfragen und Potenzialen Mehrheiten werden, die etwas durchsetzen, wird es schwierig, für die LINKE in der Zukunft einen Platz zu finden.