Es ist ein radikaler und praktischer experimenteller Versuch, über die eigenen Arbeitsbedingungen und die lokalen Gemeinden selbst zu bestimmen; es wächst stetig, konkurriert erfolgreich mit dem Kapitalismus der alten Ordnung und legt die Grundlagen für etwas Neues – die Mondragón Corporación Cooperativa (MCC). Allerdings ist strittig, worin dieses Neue besteht: ein wichtiger Anstoß in einer jahrhundertealten Genossenschaftstradition? Element eines neuen Sozialismus? Eine raffinierte Verfeinerung des Kapitalismus und reformistischer Irrweg, der scheitern muss? Ein »dritter Weg« voll utopischer Versprechungen, der sich überall reproduzieren lässt?
Ein Priester mit einer Philosophie
Die Geschichte Mondragóns beginnt im Jahr 1941 mit der Ankunft Pater Arizmendis im spanischen Baskenland, nach der Niederlage der Republik im Spanischen Bürgerkrieg. Das Baskenland war ein Zentrum des Widerstands gegen Franco gewesen und durch den Konflikt verwüstet worden. Arizmendi hatte auf republikanischer Seite gekämpft, war in Gefangenschaft geraten und nur knapp der Hinrichtung entkommen. Als junger Priester wurde ihm die Region Arrasate (die baskische Bezeichnung) bzw. Mondragón (die spanische Bezeichnung) zugewiesen. Das Gebirgstal erhielt vom Franco-Regime kaum Unterstützung und war mit permanenter Repression gegen die Basken konfrontiert. Bei der Neuorganisation seiner Gemeinde musste Arizmendi einen Weg finden, wie die Basken sich selbst helfen konnten. Er begann mit der Gründung einer kleinen Berufsfachschule, die finanziert wurde, indem die Anwohner mit bescheidenen Beiträgen eine kleine Kreditgenossenschaft bildeten. Außerdem gründete er Sport- und auf Familien gerichtete Vereine, die trotz der unter den Faschisten beschränkten Versammlungsfreiheit zusammenkommen konnten. Arizmendi war auch Intellektueller, er hatte die katholische Soziallehre studiert, Marx’ politische Ökonomie sowie die Genossenschaftstheorie von Robert Owen, dem britischen utopischen Sozialisten. Mit diesen Ideen im Gepäck baute er mit Hilfe von Spenden und Krediten der Kreditgenossenschaft mit einem Team junger Arbeiter einen kleinen Genossenschaftsbetrieb auf, dessen Namen ULGOR sich aus den Initialen seiner fünf Studenten zusammensetzt. Der Betrieb nahm 20 weitere Arbeiter auf und stellte kleine, praktische Kerosinöfen zum Kochen und Heizen her. Aufgrund der großen Nachfrage nach dem Ein-Brenner-Ofen wuchs die Genossenschaft. Heute trägt sie den Namen FAGOR und ihre gegenwärtig 8000 Mitglieder produzieren in verschiedenen Abteilungen eine große Bandbreite an Haushaltsgeräten. Schon das kleine Startup-Unternehmen realisierte eine Grundlage für den Erfolg von MCC: die Verbindung von Schule, Kreditgenossenschaft und Fabrik, alle im Eigentum und unter Kontrolle der Arbeiter und der Gemeinde. Der Aufbau eines einzelnen Genossenschaftsbetriebs hätte nicht funktioniert; für eine Gründung sind verlässliche Kreditquellen und ein Zufluss von Qualifikation und Innovation entscheidend. In der Regel ist eine MCC-Genossenschaft vollständig im Besitz ihrer Arbeiter: Sie sind gleichmäßig stimmberechtigt und der Lohn entspricht ihrem Anteil am jährlichen Profit; am Ende des Jahres wird der Lohn nach oben oder unten angepasst. Nach dem spanischen Genossenschaftsrecht muss ein Teil des Profits für Schulen, Parks und andere öffentliche Projekte der Gemeinde abgeführt werden. Was übrig bleibt, wird für Reparaturen und Erhaltung von Fabrik und Geräten, für Gesundheitsvorsorge und Renten sowie als Notreserve und für die Löhne der Arbeiter zurückgelegt. Die Arbeiter-Eigentümer bei MCC sind also keine Lohnarbeiter, sondern assoziierte Produzenten. Die Jahresversammlung der Arbeiter entscheidet über (unterschiedliche) Einkommenshöhen und wählt einen Verwaltungsrat, der ein Management und einen leitenden Manager anstellt. Manager können von ihrem Posten entlassen werden; nicht so die Arbeiter-Eigentümer: Neu Angestellte können lediglich während der ungefähr sechsmonatigen Probephase entlassen werden. Nach Ende der Probephase erhalten sie die Möglichkeit, Mitglied der Genossenschaft zu werden. Wenn sie die Mittel für ihre Einlage – heute etwa 3000 Euro – nicht aufbringen können, erhalten sie einen entsprechenden Kredit von der Genossenschaftsbank, den sie im Laufe mehrerer Jahre abbezahlen können. MCC-Genossenschaften haben üblicherweise relativ flache Hierarchien und weniger Vorarbeiter als vergleichbare nicht-genossenschaftliche Unternehmen.
Die zehn Prinzipien
Die von Arizmendi aufgestellten zehn Prinzipien beschreiben die Struktur von MCC und kommen in allen Genossenschaften zur Anwendung: Freier Zugang: Jeder und jede darf den Genossenschaften beitreten, Basken und NichtBasken, Religiöse und Atheisten, Mitglieder aller politischen Parteien oder Parteilose. Demokratische Organisation: Im Zentrum steht das Prinzip »ein Arbeiter, eine Stimme«, im weiteren Sinne geht es um partizipatorische Demokratie am Arbeitsplatz und in der Zusammenarbeit mit dem Management. Souveränität der Arbeit beschreibt das grundlegende Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit und bestimmt, dass die Arbeit über das Kapital herrschen soll, zumindest innerhalb der Genossenschaften, wenn nicht insgesamt in der lokalen Gemeinde. Kapital als Mittel ergibt sich aus dem Vorangegangenen: Kapital wird als Instrument definiert, das von der Arbeiterschaft benutzt, eingesetzt und kontrolliert werden soll statt umgekehrt. Selbstverwaltung betont, dass die Arbeiter-Eigentümer nicht nur über ihren Arbeitsbereich und ihre Arbeitsorganisation entscheiden können sollen, sondern auch die in den Verwaltungsrat Gewählten oder ins Management Aufgenommenen so weitergebildet werden sollen, dass sie die Genossenschaften strategisch lenken können. Einkommenssolidarität: Die Arbeiter-Eigentümer legen den Abstand zwischen den niedrigsten Einkommen und der Bezahlung der Manager sowie der diversen Qualifikations- und Altersstufen dazwischen fest. Ursprünglich war das Verhältnis 3 zu 1, wurde später aber angepasst, weil es zu schwierig wurde, gute Manager zu halten. Heute liegt das Verhältnis im Durchschnitt bei 4,5 zu 1 im Gegensatz zum Durchschnitt von 350 zu 1 bei US-Unternehmen. Der größte Abstand liegt bei 9 zu 1, und dies lediglich bei Caja Laboral, der arbeitereigenen Bank bei MCC. Zusammenarbeit zwischen den Genossenschaften soll ermöglichen, gemeinsame branchenspezifische Strategien zu entwickeln. Auch können Mitglieder zwischen den Genossenschaften wechseln, wenn ein Unternehmen zwischenzeitlich zu wenige Aufträge hat. Soziale Transformation: Die Genossenschaften sollen sich nicht nur mit sich selbst beschäftigen, isoliert von der umliegenden Gemeinde. Sie sollen die Genossenschaftswerte dazu einbringen, die Gesellschaft insgesamt verändern zu helfen. Allgemeine Solidarität: Die Genossenschaften sollen nicht nur untereinander, sondern auch mit der gesamten Arbeiterbewegung – in Spanien und auf der ganzen Welt – Solidarität üben. MCC unterhält mehrere Projekte, die in abgelegenen Gebieten der Dritten Welt Unterstützungsarbeit leisten. Bildung: So wie der ersten Genossenschaft eine Schule und die Bildung eines Kaders mit genossenschaftlichem Bewusstsein vorausging, betrachtet MCC weiterhin Bildung als einen ihrer zentralen Werte – Vergesellschaftung von Wissen wird als Schlüssel zur Demokratisierung von Macht gesehen – sowohl in der Ökonomie als auch in der Gesellschaft. Arizmendi sah es als einen Fehler in Owens Genossenschaftstheorie, dass Anteile an jede beliebige Person verkauft werden könnten. Dadurch konnten externe Finanziers Anteile der erfolgreicheren Unternehmen aufkaufen, während die anderen zugrunde gingen. Bei MCC besteht diese Möglichkeit nicht: Ein Arbeiter, der aus der Genossenschaft austritt, kann sich »auszahlen« lassen, seinen Anteil darf er aber lediglich neu eintretenden Arbeitern oder der Genossenschaft selbst verkaufen, die ihn einbehält, bis es wieder Neuzugänge gibt. Auf diese Weise ist das Kapital von MCC in der Hand ihrer Arbeiter geblieben – ein Grund für den Erfolg. Die Arbeiter behalten durch diese Prinzipien die Kontrolle über ihren Mehrwert, was ihnen einen bescheidenen, aber überdurchschnittlichen Lebensstandard ermöglicht, während sie gleichzeitig ihre Ressourcen für ein maßvolles und geplantes Wachstum der Genossenschaft einsetzen. Heute umfasst MCC 122 Industrieunternehmen, sechs Finanzorganisationen, 14 Vertriebe (einschließlich der Eroski-Kette mit über 200 Verbrauchermärkten, Supermärkten und Nachbarschaftsläden), außerdem sieben Forschungszentren, eine Universität und 14 Versicherungsunternehmen und internationale Handelsdienstleister. Der Gesamtumsatz belief sich 2009 auf 13,9 Milliarden Euro und eine Belegschaft von fast 100000 Arbeitern. In den 50 Jahren seit Bestehen von MCC sind lediglich 6 der 120 Genossenschaften gescheitert. In der letzten Krise hat MCC den Sturm recht unbeschadet überstanden. Keine Genossenschaft musste aufgegeben werden, die Einkommensminderung hielt sich in Grenzen und lediglich Arbeitern in der Probezeit wurde gekündigt. Mittlerweile zieht die Produktion wieder an. MCC bleibt eine bestimmende Kraft in der baskischen Wirtschaft, dem Zugpferd der spanischen Volkswirtschaft insgesamt, und drängt nun in die globale Hightech-Produktion.
Genossenschaften und Gewerkschaften
Die Basken sind bekannt als Hochgebirgs-Schäfer, aber es gibt auch eine lange industrielle Tradition in den Tälern und Küstenstädten, insbesondere in der Eisen- und Metallverarbeitung. Die Arbeiter in diesen Gebieten wie dem Arrasate-Mondragón-Tal haben früh begonnen, Gewerkschaften zu bilden, und besitzen eine Tradition der branchenübergreifenden Solidarität. Sharryn Kasmir (1996) hat bei einem Aufenthalt im Baskenland Einstellungen von Arbeitern innerhalb und außerhalb der Genossenschaften zu MCC erforscht. Kasmir zeigt, dass die traditionellen Ausdrucksweisen der gegenseitigen Verbundenheit in einigen Gebieten, in denen die Mondragón-Genossenschaften dominieren, zurückgegangen sind. Andere Arbeiter betrachten die ArbeiterEigentümer von MCC als »zu schwer arbeitend« und zu wenig beteiligt an den politischen Diskussionen in den Kneipen. Dazu kommt, dass die Arbeiter von MCC nur symbolische Präsenz zeigen oder gar nicht erst erscheinen, wenn Streiks ausgerufen und andere Arbeiter zur Solidarität aufgefordert werden. Kasmir zeigt, dass die traditionellen Ausdrucksweisen der gegenseitigen Verbundenheit in einigen Gebieten, in denen die Mondragón-Genossenschaften dominieren, zurückgegangen sind. Andere Arbeiter betrachten die ArbeiterEigentümer von MCC als »zu schwer arbeitend« und zu wenig beteiligt an den politischen Diskussionen in den Kneipen. Dazu kommt, dass die Arbeiter von MCC nur symbolische Präsenz zeigen oder gar nicht erst erscheinen, wenn Streiks ausgerufen und andere Arbeiter zur Solidarität aufgefordert werden. Kasmir nennt das Beispiel einer kleinen Gruppe junger maoistischer Arbeiter im ULGOR-Betrieb, die in den 1970er Jahren versuchten, Streiks zu organisieren, aber keine große Unterstützung erhielten. Sie wurden von den anderen Arbeiter-Eigentü- mern aus der Genossenschaft ausgeschlossen, allerdings durfte ein Großteil von ihnen nach einigen Jahren zurückkehren. Dies war der einzige Streik in der 50-jährigen Geschichte von MCC, auch wenn es andere Konflikte über Regionalismus und überbetriebliche Zusammenarbeit gab, die zur Abspaltung einiger weniger Genossenschaften führten.
Klasse: ein Blick zurück, ein Blick nach vorne
Es bestehen wesentliche Unterschiede zwischen den Arbeitern in MCC-Genossenschaften und Arbeitern in anderen Unternehmen. Die Arbeiter bei MCC sind keine Lohnarbeiter, sondern assoziierte Kleinproduzenten. Die meisten Unternehmen bei MCC haben weniger als 500 Arbeiter, viele Betriebe sind deutlich kleiner. Die Manager und die Arbeiter-Repräsentanten in den Verwaltungsräten besitzen denselben Anteil und nur eine Stimme bei der Abstimmung. Wenn Arbeiter in normalen Unternehmen in Solidaritäts-Streik treten, richteten sie sich ggen die Interessen externer Bosse bzw. üben Druck auf sie aus; wenn Arbeiter bei MCC ihre Arbeit niederlegen, schädigen sie ihre eigenen materiellen Interessen. Sie können sich aus Solidarität dazu entscheiden, so wie ein Ladenbesitzer für den Tag eines politischen Streiks schließen kann, aber die Interessenstruktur unterscheidet sich deutlich von der der Lohnarbeiter. Ebenso geht die Zeit, die sie länger im Betrieb bleiben oder nach der Arbeit in der Schule oder bei Fortbildungskursen verbringen, von ihrem Aufenthalt in Kneipen ab (in denen sich viel alltägliche Solidarität abspielt), trägt aber direkt zum Wachstum der Genossenschaft bei und ist in der Weise zu ihrem eigenen Vorteil, während erzwungene Überstunden in einem gewöhnlichen Betrieb hauptsächlich dem externen Eigentümer nutzen. Daraus ergibt sich die Frage, ob die Klassenposition der Arbeiter-Eigentümer von MCC einen Rückfall in eine kleinbürgerliche Vergangenheit oder einen Schritt in Richtung einer sozialistischen Produktionsweise der Arbeiterkontrolle darstellt. In Anbetracht der erfolgreichen Ausweitung von MCC legt das Gesamtbild die zweite Antwort nahe.
Repräsentative und partizipatorische Demokratie
Kann die interne Praxis der MCC-Unternehmen noch als Beispiel für direkte und partizipatorische Demokratie am Arbeitsplatz dienen? George Cheney (1999) hat untersucht, wie die Prinzipien von MCC in der Praxis umgesetzt werden. Das höchste Entscheidungsgremium jeder Genossenschaft und von MCC insgesamt ist die Vollversammlung oder der Kongress. Die durchschnittliche Beteiligung liegt bei etwa 70 Prozent, es besteht Anwesenheitspflicht (Abwesenheit zieht beim ersten Mal eine Warnung nach sich, beim zweiten Mal muss eine Gebühr bezahlt werden). Die Abteilungen wählen einen Sozialrat, der die Interessen der Arbeiter vertritt und die beidseitige Kommunikation zwischen Management und Arbeitern unterstützt. Einkommenssolidarität und die Verteilung der Profite an alle Arbeiter-Mitglieder sind weitere wichtige Elemente der Unternehmenspolitik. Fred Freundlich sieht darin einen wesentlichen Grund für die starke Verbundenheit mit dem Unternehmen, die sich auch in Marktvorteilen niederschlage.1