Kaum jemand weiß, dass die Hessische Verfassung von der tiefen Überzeugung geprägt ist, dass es nie wieder Krieg geben darf, und von der Einsicht, dass Krieg und Faschismus auch mit wirtschaftlicher Macht und der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zusammenhängen. Daher betont sie an verschiedenen Stellen ausdrücklich die sozialen und wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Menschen.
Eine besondere Bedeutung hat in dieser Hinsicht Artikel 41 der Hessischen Verfassung – er sieht nämlich eine Enteignung der Großindustrie vor. Bis heute heißt es dort:
»Mit Inkrafttreten dieser Verfassung werden in Gemeineigentum überführt: der Bergbau (Kohlen, Kali, Erze), die Betriebe der Eisen- und Stahlerzeugung, die Betriebe der Energiewirtschaft und das an Schienen oder Oberleitungen gebundene Verkehrswesen; vom Staat beaufsichtigt oder verwaltet: die Großbanken und Versicherungsunternehmen.«
Leider wurde er nie umgesetzt. Aber dieser und andere flankierende Artikel der Hessischen Verfassung sind Ausdruck der 1945/46 verbreiteten Überzeugung, dass das Ende der Weimarer Republik und der Aufstieg der NSDAP nur mit der Unterstützung von Großkonzernen, Industriellen und Medienmagnaten möglich waren. Der breite gesellschaftliche Konsens – von SPD und KPD bis in die Reihen der Union – war, dass eine politische Neuordnung auch eine grundlegende wirtschaftliche Reorganisation nach sich ziehen müsse. Oder wie es Max Horkheimer formulierte: »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.«
Artikel 41 ist dabei Teil einer umfänglichen Neuausrichtung des Wirtschaftens, wie sie 1946 als notwendig erachtet wurde. Die Hessische Verfassung untersagt jeden »Missbrauch der wirtschaftlichen Freiheit insbesondere zu monopolistischer Machtzusammenballung zu politischer Macht« (Artikel 38.1 HV). Vermögen, »das die Gefahr solchen Missbrauchs wirtschaftlicher Freiheit in sich birgt, ist […] in Gemeineigentum zu überführen« (Artikel 38.2 HV). »Bei festgestelltem Missbrauch wirtschaftlicher Macht« ist eine Entschädigung »zu versagen« (Artikel 38.3 HV).
Diese Verfassung wurde am 1. Dezember 1946 in einer Volksabstimmung von 77 Prozent der mitwirkenden Stimmberechtigten angenommen und in Kraft gesetzt. Die US-amerikanische Militärregierung hatte damals darauf gedrängt, den Artikel 41 getrennt abstimmen zu lassen, wohl in der Erwartung, dass dieser von der Bevölkerung abgelehnt werden würde. Diese Rechnung ging jedoch nicht auf. Letztlich stimmten1 081 124 Wähler*innen mit Ja – das waren 72 Prozent der gültigen Stimmen. 219 971 Stimmen waren ungültig.
Und heute?
Dieselgate, börsennotierte Strom- und Wohnungskonzerne oder auch Datenkraken zeigen ganz aktuell, dass Enteignung als Mittel gegen »monopolistische Machtzusammenballung zu politischer Macht« keinesfalls in die Mottenkiste gehört.
Ein Blick auf die damaligen Debatten und die ersten Schritte zur Umsetzung lohnt daher auch deshalb, weil sie erstaunlich modern sind und für aktuelle Diskussionen wichtige Lehren beinhalten. So spielte bereits die Unterscheidung zwischen Sozialisierung (oder Vergesellschaftung) als Überleitung von Privateigentum in gemeinwirtschaftliche Zwecke einerseits und Verstaatlichung andererseits eine zentrale Rolle.Gerade als Ausdrucknotwendiger Demokratisierung wurde die Überführung von individuellem Privateigentum an Produktionsmitteln in das Eigentumvon Gesellschaftern bzw. in das Eigentumeiner Gesellschaft, in der sich Menschen genossenschaftlich assoziieren, gefordert. Damit wurde in Abgrenzung zu einer lediglich die Eigentumsverhältnisse verändernden Verstaatlichung insbesondere ein konkretes, wirtschaftsdemokratisches Organisationsprinzip betont.
Im Weiteren ging es darum, wie 19 Braunkohlegruben, elf Energie- und ein eisenproduzierendes Industrieunternehmen (Buderus Wetzlar) konkret zu vergesellschaften wären. Ein Gesetz musste her. Der Entwurf hierzu ist von Anfang 1948. Er sollte die Betriebe in den betroffenen Wirtschaftsbereichen zu »Sozialgemeinschaften« zusammenführen und ihre Wirtschaftsführung auf eine gemeinwirtschaftliche Zielsetzung verpflichten. Geleitet werden sollten diese von einem drittelparitätisch zusammengesetzten Verwaltungsrat. Darin sollten je zu einem Drittel Gewerkschaften, die Standortgemeinde als Konsumentenvertretung und eine »Landesgemeinschaft« vertreten sein. Letztere sollte ebenfalls drittelparitätisch aus den durch den Landtag, den Freien Gewerkschaftsbund Hessen sowie die kommunalen Spitzenverbände Berufenen gebildet werden. Der Verwaltungsrat hatte wiederum die Aufgabe, einen Vorstand aus einem kaufmännischen, einem technischen und einem Sozialdirektor (damals selbstverständlich alles in männlicher Form) zur alltäglichen Betriebsleitung zu berufen. Zwei Fünftel der erwirtschafteten Beträge sollten in einen Investitions- und Ausgleichsfonds fließen.
All das sind interessante und auch für heute wegweisende Konstruktionen – auch wenn sie leider nie wirklich umgesetzt wurden: Die damaligen Koalitionäre SPD und CDU zerstritten sich und am 6. Dezember 1948 verbot die US-Militärregierung die Sozialisierung der Braunkohlebergwerke und der Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie. Auf die für Hessen wichtigsten KonzerneHoechst und Merckhatte das Land ohnehin keinenZugriff. In einem zunehmend auf Wettbewerb ausgerichteten und sich nach kapitalistischen Grundsätzen reorganisierenden Umfeld hatte zuerst die CDU den Entwurf aufgeweicht. Doch auch der weichgespülte Gesetzentwurf wurde im Oktober1950 mit Stimmengleichheit abgelehnt. Soweit zur Geschichte.
Von alledem wurde nur wenig umgesetzt. Aber nicht, weil es grundgesetzwidrig wäre, sondern weil die Regelungskompetenz für die erforderlichen Einzelgesetze ab 1949 den Ländern nach und nach entzogen wurde. Trotzdem behalten diese Bestimmungen ihre rechtliche Bedeutung, sei es als Programmsätze, sei es als Auslegungshilfe. Denn das Grundgesetz bekennt sich zwar zum Sozialstaatsprinzip, es konkretisiert dieses aber nicht explizit. Außerdem bezieht die Verfassung in einem historischen Kontext Stellung zu wirtschaftsethischen und gesellschaftspolitischen Fragen.
In einer Zeit realer und drohender Kriege sowie der neoliberalen, demokratiefeindlichen Durchdringung der Gesellschaft ist es zentral, sowohl die historischen Debatten, als auch die bestehenden verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen von Vergesellschaftung zu kennen. In dieser Hinsicht kommt den Grundsätzen der Hessischen Verfassung mehr denn je eine aktuelle Bedeutung zu.