Im April 2008 traten in der polnischen Kleinstadt Wałbrzych Frauen in Hungerstreik. Drohende Obdachlosigkeit und Armut hatten sie veranlasst, leerstehende Wohnungen in einem stark verfallenen Stadtteil von Wałbrzych zu beziehen. Als die lokalen Behörden in diesen Häusern Strom- und Wasserversorgung abschalten und mit Räumung drohen, organisieren die Frauen einen »Mütterstreik«. Sie erfahren breite Unterstützung und erreichen, dass Strom und Wasser wieder angeschaltet werden. Die strukturellen Ursachen ihrer prekären Situation bestehen jedoch fort. Im Anschluss an den Streik begann der Think Tank Feministycznyeine aktivierende Untersuchung, die – gemeinsam mit den Frauen – auf eine Erweiterung politischer Handlungsfähigkeit zielte. Wir dokumentieren Auszüge dieser Forschung.2

Wałbrzych in sozioökonomischer Perspektive

Wałbrzych ist eine ehemalige Bergarbeiterstadt. Im Zuge der Transformation gingen hier etwa 25000 Arbeitsplätze verloren. Neben der Schließung von Gruben waren auch viele frauenspezifische Arbeitsstätten in der Produktion von Rundfunk- und Fernsehgeräten, der Textilindustrie und in Porzellanfabriken betroffen. Der Konkurs von Betrieben hält an: 2009 machten zwei Porzellanfabriken dicht. Die 400 überwiegend weiblichen Angestellten wurden zu Sozialhilfeempfängerinnen. Heute leben in Wałbrzych 119000 Menschen. Die Arbeitslosenquote in der Region beträgt 20 Prozent.

Wie viele polnische Städte setzt Wałbrzych auf den Bau exportorientierter Industriezentren, auf die Entwicklung des Dienstleistungssektors und des Tourismus. Öffentliche Gelder fließen in den Ausbau gewerblicher Infrastruktur und in Objekte von kulturellem und touristischem Interesse. Wesentliche Bereiche der Daseinsfürsorge wie Wohnraum, Sozialfürsorge oder Kinderbetreuung gelten als nicht profitabel und spielen im Haushaltsplan quasi keine Rolle. Der steigenden Verschuldung wird unter anderem durch den Verkauf kommunaler Wohnungen begegnet. Diese sollen bis 2013 von 16510 auf 14410 reduziert werden. Die Privatisierung von Wohnraum führt zu steigenden Kauf- und Mietpreisen, Wohnungen für Menschen mit niedrigen Einkommen sind rar.

Sozioökonomisch ist die Stadt zweigeteilt: Während in den wohlhabenderen Stadtteilen eine funktionsfähige städtische Infrastruktur besteht, kann der Zustand der ärmeren Viertel als verwahrlost bezeichnet werden. Diese Gegenden bestehen zum größten Teil aus unsanierten Vorkriegsbauten, der Zustand von Gehwegen und Straßen ist schlecht. Die Wohnungen in den ehemaligen Arbeiterquartieren haben oftmals keine Heizung, Warmwasser oder Bäder. Es gibt viel Leerstand. Hier befindet sich der Großteil der kommunalen Wohnungen. Die Zahl der SozialhilfeempfängerInnen in diesen Gegenden liegt bei ca. 20 Prozent. Das Stadtzentrum befindet sich an der Grenze zwischen beiden Teilen. Am Marktplatz gibt es nur wenige Cafés und Restaurants, es überwiegen Pfandleiher, Kommissionsgeschäfte, Secondhandshops und Lebensmittelläden. Gleichzeitig verändert sich die Innenstadt – eine kostspielige, zum Teil EU-finanzierte Revitalisierung soll sie für Touristen und BewohnerInnen attraktiv machen.

Der landesweite Trend, Aufgaben der Sozialfürsorge an Privatinstitutionen zu delegieren, ist auch in Wałbrzych spürbar. Seit 2001 verwaltet beispielsweise eine GmbH (Miejski Zarząd Budownictwa – MZB) im Auftrag der Kommune den gesamten Wałbrzycher Wohnungsbestand. Da diese nun für die technische Ausstattung und Renovierung der nach wie vor kommunalen Wohnungen zuständig ist, schieben sich Stadtverwaltung und MZB gegenseitig die Verantwortung für deren schlechten Zustand zu. Gleichzeitig ist die MZB nicht demokratisch legitimiert und agiert ausschließlich profitorientiert – hat also das Wohl der städtischen Gemeinschaft nicht zum Ziel.

Nach Schließung zahlreicher Betriebskindergärten im Zusammenhang mit der Liquidierung von Gruben und Industriebetrieben gibt es heute in Wałbrzych nur noch 14 private und fünf öffentliche Kindergärten (mit entsprechend langen Wartelisten). Der Beitrag liegt in den öffentlichen Kindergärten bei 15 Prozent des Lohns, für Eltern in schwierigen finanziellen Verhältnissen bei 10 Prozent (plus Essensgeld und Zusatzleistungen); in privaten ist er deutlich höher. Der Mangel an bezahlbaren Kindergartenplätzen führte dazu, dass nur circa 50 Prozent der Kinder im entsprechenden Alter einen Kindergarten besuchten (darunter die Kinder im obligatorischen letzten Jahr vor Schulbeginn). Von den 25 befragten Frauen hatten 15 Kinder im Kindergartenalter, aber nur vier hatten einen bezahlbaren Kindergartenplatz gefunden.

Die Kosten für Daseinsfürsorge werden auf stets niedrigere Ebenen der Verwaltung, auf Privatinstitutionen und letztendlich auf die privaten Haushalte verschoben. All das schlägt sich tiefgreifend in der Lebenssituation der BewohnerInnen nieder. Arbeiten, Wohnen, Kinder betreuen und für die eigene Gesundheit zu sorgen, ist in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts für viele Menschen, insbesondere Frauen mit Kindern, sehr kompliziert geworden. Begleitet wird diese Situation von einem Diskurs, der die Probleme den Einzelnen zuschiebt und die Politik entlastet.

Die Arbeit in der »Zone«

Auf Initiative der lokalen Behörden war in Wałbrzych 1994 eine Sonderwirtschaftszone entstanden. Vor allem Automobilzulieferer und kleinere Textil- und Lebensmittelfabriken siedelten sich an. Den Investoren wurde alles geboten: Zuschüsse, langjährige Steuerbefreiungen und eine Masse flexibler Arbeitskräfte, die von Zeitarbeitsfirmen »geleast« werden. Die Zone sollte fehlende Investitionen bringen und die hohe Arbeitslosigkeit senken. Tatsächlich führte sie zu einem massiven Angriff auf Arbeitnehmerrechte. Da die Unternehmen weitgehend von Abgaben und Steuern befreit wurden, entstanden für die Kommune zwar kaum Einnahmen, dafür aber eine Menge prekärer Beschäftigungsverhältnisse.

Die Zone steht für einen Trend in der Wirtschaft Polens. Steuererleichterungen und Investitionen in gewerbliche Infrastruktur sind Teil einer Politik, die öffentliche Gelder nur noch einem privilegierten Teil der Bevölkerung zukommen lässt. Die Sicherung gesellschaftlichen Wohlergehens, wie die Schaffung guter Arbeitsbedingungen, sozialer Wohnungspolitik und einer guten öffentlichen Kinderbetreuung werden zugunsten von Investitionen zurückgestellt, die einen unkalkulierbaren Nutzen für die Zukunft haben, und von denen – trotz anderslautender Versprechen von Politikern und Experten – ohnehin nur kleine Teile der Gesellschaft profitieren.

»Hier gibt es keine Bedingungen für nichts« – Frauen und das Leben in Armut

Die interviewten Frauen lernten Armut, ökonomische Unsicherheit und lebensweltliche Instabilität in der Regel erst mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter kennen. In ihrer Kindheit während des Staatssozialismus waren meist beide Eltern berufstätig. Der Staat gewährleistete ein – an die Betriebe gekoppeltes – breites soziales und kulturelles Versorgungsangebot. Als materielle Sicherheit und soziale Infrastrukturen durch die Transformation wegfielen, hinterließ dies deutliche Spuren im Leben der Frauen. Die verarmten Eltern konnten ihren Kindern in der Ausbildungs- und Berufsfindungsphase kaum materiell unter die Arme greifen. Statt ihre Ausbildungen abzuschließen, nahmen sie oft schlecht bezahlte Jobs an.

Die Geburt von Kindern markierte schließlich den Beginn einer Folge quasi unlösbarer Probleme. Mutterschaft schließt Frauen angesichts des Mangels an bezahlbaren Kindergartenplätzen faktisch vom Arbeitsmarkt aus. Vor allem die geforderten flexiblen Arbeitszeiten stellen ein Problem dar, für das die Behörden blind sind: Das Arbeitsamt bietet Jobs im Dreischichtsystem oder an weit entfernten Arbeitsorten an und zwingt auch junge Mütter, solche Jobs anzunehmen. Magdalena musste bereits einen Monat nach der Geburt ihres Kindes einen Arbeitsweg von 120 km täglich bewältigen. »Das war im Schichtsystem. Mein Mann und ich standen um 4 Uhr auf und fuhren nach Wrocław. Um 17:30 Uhr kamen wir wieder. Die 73-jährige Großmutter hat das Kind betreut, eigentlich haben wir es nur zweimal in der Woche gesehen.« Daria arbeitete in der Nachtschicht, da sie keine Betreuung für ihre drei Kinder gefunden hatte. Vor der Arbeit brachte sie die Kinder zum Schlafen bei einer Freundin unter. »Früh holte ich sie wieder ab, kehrte heim, blieb mit ihnen in der Obdachloseneinrichtung und machte Mittag. Ich konnte nie schlafen – nachts die Fabrik und tagsüber die Kinder. Manchmal bin ich bei der Arbeit eingeschlafen, die Kolleginnen haben mich mit Kartons zugedeckt, damit ich mich mal ausschlafen kann.«

Als vermeintlicher Ausweg aus der Arbeitslosigkeit werden den Frauen vom Arbeits- und Sozialamt ständig Praktika und Schulungen aufgezwungen. Sie sollen zur »Aktivierung auf dem Arbeitsmarkt« beitragen und nähren die Illusion, dass höhere Kompetenzen die Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern. Viele Frauen besitzen eine Unmenge von Zertifikaten aus Kursen zu Floristik, Kosmetik, Bedienung von Registrierkassen oder Gabelstaplern. Diese führen jedoch nicht zu einer langfristigen Beschäftigung, sondern einzig dazu, in einer permanenten Bereitschaft als billige Arbeitskraft zu verharren. Um sie vor den »negativen Konsequenzen der Arbeitslosigkeit« zu bewahren, werden die Frauen zu unentlohnten gemeinnützigen Arbeiten in der Stadt herangezogen.

Arbeit haben – Bedingungen von Lohnarbeit

Wenn Frauen dennoch Arbeit finden, verbessert sich ihre soziale Lage in den seltensten Fällen. Dies hat mit der Aushöhlung der Arbeitnehmerrechte zu tun. In der Sonderwirtschaftszone sind Frauen in den am schlechtesten bezahlten Bereichen wie der Montage, der Produkt- und Qualitätskontrolle eingesetzt. Die Einkünfte reichen oft nicht aus, um sich und die Kinder zu ernähren oder betreuen zu lassen. Karolina berichtete, sie hätte bei einem Monatsverdienst von 1000 Złoty (Zł) für zwei Kinder im Kindergarten 680 Zł zahlen müssen.»Vom Sozialamt kommt nichts extra, wenn ich arbeite. Nur wenn ich arbeitslos bin, zahlen sie mir die Hälfte der Kitagebühr.« Marzena erzählt: »Zuerst habe ich in der Produktion gearbeitet. Nach sieben, acht Monaten fing ich in der Qualitätskontrolle an. Aber immer an unterschiedlichen Orten, an verschiedenen Abschnitten. Zuerst bekam ich 600 Zł brutto plus 250 Zł Prämie, dann 750 Zł, dann etwas über 800 Zł und zum Schluss schon 960 Zł brutto plus 600 Zł Prämie. Die Prämie gab es mal und mal nicht. Und zusätzlich hatte ich eine halbe Stelle, einen zweiten Vertrag mit einer Zeitarbeitsfirma, für Putzarbeiten.« Karolina berichtet, dass sie über längere Zeit gänzlich ohne Vertrag gearbeitet habe: »Als ich nach Wałbrzych gezogen bin, hat mir ein Freund eine Arbeit in einem Subunternehmen in der Zone besorgt. Das war in den Hallen einer ehemaligen Fabrik. Eine Firma hatte sie gekauft, die Kartons herstellte, aber in Wirklichkeit machten wir Kopfstützen. Da waren nur drei mit Vertrag eingestellt und 15 ohne. Ich wusste, dass sie mich nicht registrieren. Wir haben für 2 Zł die Stunde gearbeitet und das Geld wöchentlich bekommen. Es gab dort viele Unfälle. Wenn wir was gesäubert haben, hat die Maschine einem den Ärmel reingezogen oder so was. Niemand war da versichert.« Zu den Praktiken gehört es auch, die Frauen in Subunternehmerstellungen zu zwingen, in denen sie die gleiche Arbeit für den gleichen Lohn verrichteten, aber selbst ihre Sozialversicherungsbeiträge abführen müssen. Das monatliche Nettoeinkommen der Befragten schwankt zwischen 350 Zł und 1800 Zł.

Insbesondere die ungeregelten Arbeitszeiten stellen für die Mütter ein großes Problem dar. Anna, die in der Kosmetikproduktion arbeitet, wusste nie, wann ihr Arbeitgeber sie anrufen würde. Nicht selten wurde sie telefonisch zur Arbeit gebeten, brachte dann ihre Kinder unter, fuhr an die Arbeitsstelle und erfuhr dort, dass sie inzwischen nicht mehr gebraucht wurde.

Aufgrund der befristeten oder fehlenden Verträge sind insbesondere Frauen ständig von Jobverlust bedroht. Oft reicht eine Schwangerschaft oder längere Krankheit des Kindes für den Verlust des Arbeitsplatzes. Im Grunde wird die Arbeitslosigkeit bloß von kurzfristigen Beschäftigungen für eine Woche, einen Monat, manchmal nur einige Tage unterbrochen.

Obdachlosigkeit, Leerstand und Räumungen

Ein weiterer politischer Missstand trägt zur Instabilität des Lebens der befragten Frauen bei: die Wohnungsproblematik. Aufgrund ihrer prekären Beschäftigungen sind die Teilnehmerinnen der Studie nicht in der Lage, auf dem freien Markt Wohnungen zu kaufen oder angemessene Wohnungen zu mieten. Alle interviewten Frauen und ihre Familien lebten stark beengt in sogenannten Substandardwohnungen; oft bei Freunden oder Bekannten. Jolanta z.B. wohnte mit sieben Personen auf 34 m2. Oft sind die Wohnungen eigentlich unbewohnbar: Türen und Fenster sind undicht, der Putz blättert ab, die Wände schimmeln, im Keller steht Wasser, es existiert keine funktionierende Kanalisation. Da häufig ein Gasanschluss fehlt, kaufen die Frauen zum Kochen teure Gasflaschen. Die Wohnungen besitzen meist keine Bäder oder Toiletten, diese sind eine halbe Treppe tiefer und oft unbenutzbar. In Joannas Haus befand sich die Toilette im Keller, wo das Wasser stand und Ratten lebten. Iwonas Familie benutzt eine Toilette im Nachbarhaus; wenn ihre Tochter nachts dorthin geht, macht sie sich Sorgen. Selbst wenn die Wohnungen zum kommunalen Wohnungsbestand gehören, werden Anträge, Feuchtigkeit zu beseitigen, Fenster zu erneuern oder Gas- und Elektroinstallationen zu reparieren, meist abgelehnt. Seit der Privatisierung der Wohnungsverwaltung sind die Mitarbeiter der MZB angewiesen, Einnahmen zu erhöhen. In Form von Provisionen werden sie an den Gewinnen beteiligt.

Oft übernehmen die Frauen notwendige Ausbesserungen aus eigener Kraft und auf eigene Kosten. Bogna nahm dafür sogar einen Kredit auf. Gleichzeitig war sie bei der MZB verschuldet, weil sie die Miete nicht zahlen konnte. Oft werden die selbst ausgeführten Renovierungen als ungenehmigte Baumaßnahme kriminalisiert.

Aufgrund ihrer Einkommensverhältnisse haben die Frauen einen Anspruch auf Sozialwohnungen. Die Zahl der BewerberInnen übersteigt jedoch den Bestand um ein Vielfaches. Um diesen Missstand zu verwalten, wurde von der Stadt ein Punktsystem eingeführt, das die Bedürftigkeit der BewerberInnen kategorisiert und so die Reihenfolge bei der Vergabe der Wohnungen festlegt: Obdachlosigkeit ist mit zwölf Punkten am höchsten bewertet; sind Kinder mitbetroffen, erhält man sogar 16 Punkte. Für Einkommen unter 75 Prozent des Mindestrentensatzes (800 Zł) werden fünf Punkte veranschlagt, bei beengtem Wohnraum vier, bei schlechtem technischen Zustand der Wohnung ebenfalls vier und für jedes Kind zwei. Jedes Jahr auf der Warteliste wird mit einem Punkt vergütet. Es werden allerdings auch Strafpunkte vergeben: Zehn Minuspunkte erhält man, wenn Sozialamt oder Polizei den Haushalt als unordentlich oder vernachlässigt einstufen oder man mehr als einmal den Bezug einer zugewiesenen Wohnung verweigert hat; fünf Strafpunkte, wenn man drei Monate mit den Mietzahlungen in Verzug ist. Obwohl fast alle in prekären Wohnverhältnissen leben, waren nur zwei offiziell als obdachlos gemeldet, weil anerkannte Obdachlosigkeit mit der Gefahr einher geht, dass einem das Sorgerecht für die Kinder entzogen wird. Zwei Frauen, die vor einem gewalttätigen Partner geflohen und so obdachlos geworden waren, hatten das Sorgerecht für ihre Kinder verloren.

Der letzte Ausweg vor Obdachlosigkeit und dem damit verbundenen Sorgerechtsentzug ist oft, illegal leerstehende Wohnungen zu besetzen. In fast jedem Altbau sind Wohnungen unbewohnt. Dieser Schritt ist jedoch stets mit miserablen Wohnverhältnissen und der Angst vor unangekündigten Inspektionen durch Polizei oder Räumung verbunden. Eine Zeitlang hatte die Verwaltung Leerstandsbesetzungen akzeptiert, da die Wohnungen ohnehin als unvermietbar galten. Die BewohnerInnen heizten die Wohnungen, bewahrten sie vor Vandalismus und trugen durch Renovierungen sogar zur Qualitätssteigerung bei. 2008 verabschiedete die Stadt jedoch eine Richtlinie, die den Leerstandsbesetzungen entgegen wirken sollte. Sie erlaubt den Behörden Maßnahmen wie das Abstellen von Strom, Wasser und Gas oder gar die Demontage von Heizkörpern; unter bestimmten Umständen auch die polizeiliche Räumung.

Die aggressive Politik gegen Leerstandsbesetzungen in Wałbrzych ist ein eher neuer Prozess, der mit der neoliberalen Orientierung der Wohnungspolitik begann. Auf die Existenzbedingungen der Frauen wirkte sie sich verheerend aus. Małgorzata beispielsweise lebte drei Jahre lang ohne Wasseranschluss – mit drei kleinen Kindern. Wasser zum Waschen, Trinken und Kochen kaufte sie im Laden; manchmal gab ihr der Nachbar einen Eimer Wasser. Darias Familie wurde nach vier Jahren ohne Ankündigung aus einer besetzten Ein-Zimmer-Wohnung geräumt. »Ich hatte eine Tür gekauft für die Wohnung, auf Raten, und diese Raten zahle ich immer noch ab, obwohl die Tür in der Wohnung geblieben ist. All meine Sachen sind dort geblieben, ich habe nichts zurückbekommen. Ich frage mich, wo sie jetzt sind. Ich hatte alle meine Dokumente im Büffet, alles haben sie weggeschmissen. Als ich eingezogen bin, befand sich nichts in der Wohnung. Viele haben mir geholfen, gaben mir einen Fernseher, Bettwäsche […] Alles habe ich selbst gemacht.«

Mehrere Frauen wurden wegen der illegalen Besetzungen sogar strafrechtlich verurteilt; meistens zu Bewährungsstrafen. Dies verschlechtert nun erneut ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt, da Vorstrafen bei Bewerbungen angegeben werden müssen.

Die Rolle der sozialen Fürsorgeeinrichtungen

Alle interviewten Frauen bezogen finanzielle und materielle Unterstützung vom Sozialamt. Dies können ständige oder zeitweilige Zahlungen sein, zweckgebundene einmalige Leistungen wie die Erstattung von Arzneimittelkosten und Heizkostenzuschuss, Lebensmittelgutscheine für bestimmte Grundnahrungsmittel sowie Gutscheine für Schulessen oder Mittagsmahlzeiten in lokalen Kantinen.

Um diese Unterstützung zu erhalten, müssen die Frauen einmal im Monat im Sozialamt erscheinen, Dokumente vorlegen und dann »lange Stunden auf 20 Zł warten«, wie Anna es beschrieb. Für Lebensmittelzuschüsse holt man im Sozialamt einen Gutschein, fährt dann in ein Magazin in einen anderen Stadtteil, wartet dort lange, um schließlich die Kartons irgendwie nach Hause zu bringen. Für eine Frau mit zwei kleinen Kindern, die kein Auto hat und sich ein Taxi nicht leisten kaum, ist das kaum zu bewältigen. Krystyna und Daria, die einen gemeinsamen Haushalt führen und drei Kinder versorgen, berichten: »Das Magazin hat erst ab Mai auf, oder ab Juni, bis November, und im Winter, wenn es am schwierigsten ist, geben sie keine Lebensmittel aus. Wenn offen ist, kann man dort Buchweizen, Milch, Nudeln, Marmelade, Käse und Mehl bekommen. Aber nicht immer ist alles erhältlich, man bekommt die Sachen, die gerade da sind. Die Qualität des Essens ist zweifelhaft. Überhaupt ist es schlimm, Lebensmittel zu empfangen. Die Leute dort schlagen sich, sind betrunken, fluchen. Unter diesen Umständen muss man stundenlang in einer Schlange stehen und niemand lässt eine Mutter mit Kindern vor…«

Die Leistungen reichen für den Lebensunterhalt nicht aus, und die ständigen Kontrollen rufen Gefühle von Machtlosigkeit und Abhängigkeit hervor. Es gibt monatliche, oft nicht angekündigte Inspektionen sowie Befragungen von Nachbarn. Schnell sind die Frauen dem Verdacht des Missbrauchs ausgesetzt. Ewa berichtete: »Ich hatte hier eine Bekannte, die hat mir manchmal was gewaschen, weil sie nicht für den Strom zahlen musste. Jemand hat sie bei der Fürsorge angezeigt, dass sie für die Freundin wäscht. Oder als mich mal eine Freundin besucht hat, um mir beim Kochen zu helfen, da sind sie zur Fürsorge gegangen und haben gesagt, wir hätten einen gemeinsamen Haushalt, und haben mir das Geld gestrichen, weil wir angeblich immer zusammen kochen…«

Auch die Haushaltsführung und das Wohlergehen der Kinder werden kontrolliert. Ewa war obdachlos geworen und mit ihren Kindern in der Wohnung einer Bekannten untergekommen. Eines Nachts stürmten zwei Polizisten mit Hund die Wohnung. Alle Schränke, auch die ihrer Bekannten, wurden nach Alkohol und Drogen durchsucht. Ihre Kinder mussten sich vor den Männern ausziehen, um körperlich untersucht zu werden – das war ein Alptraum für die Kinder. »Meine Bekannte wollte während der Durchsuchung die Jüngste mit einer Flasche Milch beruhigen. Die wurde ihr aus den Händen gerissen und nach Drogen untersucht. Erst nach zwei Stunden sind sie wieder gegangen. Die Kinder waren traumatisiert und haben wochenlang nachts geweint. Ich wohne schon seit einem halben Jahr nicht mehr bei dieser Bekannten, weil ich mir wie eine Idiotin vorkomme.«

Hinter all der unzureichenden Hilfe steht ein strukturelles Problem. Soziale Fürsorge wird gering geschätzt, was sich in mangelnder Finanz- und Personalausstattung der Ämter niederschlägt. Im Sozialamt von Wałbrzych arbeiten 58 Frauen und vier Männer. Sie berichten, dass sie oftmals für mehr als 100 Haushalte zuständig sind. Mit der zunehmenden Ausgabenkontrolle, zu der sie verpflichtet seien, weil sie sonst für Missbrauch und Mittelverschwendung verantwortlich gemacht werden, steigt auch die Bürokratie. Hinzu kommen niedrige Bezahlung und gesellschaftliche Geringschätzung. Dies erschwert die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen, beispielsweise mit Ärzten.

Dieses Los teilen die Mitarbeiterinnen des Sozialamts mit denen anderer Fürsorgeeinrichtungen sowie mit Krankenschwestern und Altenpflegerinnen. Soziale Arbeit ist feminisiert, unterbezahlt und wird weder in ihrer Bedeutung für bedürftige Menschen wertgeschätzt noch finanziell angemessen gefördert. Fürsorge gilt als nicht produktiver, teurer Überfluss. Dies wird auch in der Sprache deutlich: In offiziellen Verlautbarungen werden menschliche Bedürfnisse stets als »Forderungen« bezeichnet.

Reproduktionsarbeit als blinder Fleck in den sozialen Sicherungssystem

Ein Grund, warum die derzeitige Arbeitsund Sozialpolitik insbesondere Müttern kaum einen Ausstieg aus der Armut bietet, ist die Blindheit der Gesellschaft für die Mühen und Kosten von Reproduktionsarbeit (vgl. Rai et al. in diesem Heft). Ökonomische Analysen fokussieren einseitig auf Lohnarbeit. Dass Reproduktionsarbeit für das Wohlergehen einer Gesellschaft essenziell ist, und dass diese Arbeit vor allem von Frauen geleistet wird, bleibt unsichtbar (vgl. Federici/ Cooper in diesem Heft). Mit Reproduktionsaufgaben belastete alleinstehende Frauen können den ständigen Kampf um ein existenzsicherndes Einkommen nicht gewinnen. Angesichts des deregulierten Arbeitsmarktes bleiben sie in Niedriglohnbranchen mit prekären Arbeitsverhältnissen verbannt. Sie befinden sich in einer Art Armutsfalle.

Strategien in der Prekarität

Zu den Strategien im Umgang mit der Armut gehört nicht zuletzt die penible Planung von Ausgaben. Dies nimmt viel Zeit in Anspruch. Die Frauen sind ständig unterwegs, um Lebensmittel und Kleidung zu Schnäppchenpreisen zu ergattern. Vieles wird in Secondhandshops (»Lumpeks«) und Pfenniggeschäften erworben. Eine Frau berichtet, dass sie manchmal mehrere Tage in der Woche nichts aß, damit die Kinder ausreichend Nahrung hatten. Viele Frauen bieten informelle Dienstleistungen (Kochen, Catering) gegen Lebensmittel oder Geld an.

Die ständige Notsituation führt zu zusätzlichen finanziellen Belastungen. Um Engpässe zu überbrücken, nehmen die Frauen beispielsweise kleinere Bargeldkredite bei zum Teil dubiosen Geldinstitutionen auf. Diese Mikrokredite »in 15 Minuten« sind jedoch extrem hoch verzinst (vgl. Wichterich in diesem Heft). Oder sie verpfänden Einrichtungsgegenstände und Mobiltelefone. Da Handys jedoch notwendig sind, um Kontakt mit der Schule, dem Sozial- oder Arbeitsamt halten zu können, werden die Telefone zu völlig überteuerten Preisen wieder zurückgekauft, sobald wieder Geld da ist.

Zur Bewältigung des Alltags organisieren die Frauen Netzwerke der Solidarität. Fast alle greifen in Fragen der Kinderbetreuung auf familiäre und soziale Netze zurück – ebenso bei Wohnungsverlust. Die Frauen helfen sich beim Kochen, Waschen und Renovieren, mit Lebensmitteln und Kleidung. Solche von der Basis ausgehenden Netze der Selbsthilfe formen neue Bindungen, die nicht nur materielle, sondern auch emotionale Unterstützung bieten. Institutionell konnte die Selbstorganisation der Frauen am ehesten in den kommunalen Stadtteilzentren (Rada Wspólnot Samorządowych) verankert werden. Die überwiegend ehrenamtlich tätigen MitarbeiterInnen dieser städtischen Einrichtungen organisieren Lebensmittel-, Kleider- und Mö- belsammlungen sowie kulturelle Veranstaltungen. Sie helfen beim Ausfüllen von Anträ- gen und stellen den Frauen Räumlichkeiten für die Selbstorganisation zur Verfügung. All das entwickelte sich insbesondere nach dem Hungerstreik von 2008. Der Schritt, politisch Einfluss auf eine nachhaltige Veränderung der Lebensverhältnisse zu nehmen, bleibt unter diesen Bedingungen schwierig.

Aus dem Polnischen von Andrea Rudorf

1 Der Think Tank Feministyczny ist ein Kollektiv von Aktivistinnen, Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen. Ihr gemeinsames Anliegen ist es, eine feministische Sozialkritik (weiter)zuentwickeln. Die lebhafte feministische Bewegung in Polen hat in den letzten 15 Jahren in der Kulturkritik einiges bewegt, während eine feministische Gesellschaftskritik weitgehend fehlt. Feministische Stimmen bleiben auf »Frauenprobleme« beschränkt. Gleichzeitig wird die Agenda der Frauen von neoliberalen Politiken aufgegriffen. Der feministische Think Tank zielt auf die Stärkung politischer Durchschlagskraft der Frauenbewegung und die Entwicklung von feministischer aktionsorientierter Forschung.
2 Der Originaltext ist auf polnisch unter www.ekologiasztuka.pl/pdf/f0103maciejewska_marszalek.pdf online. Für den Film zum »Mütterstreik« siehe: de.labournet.tv/ video/6166/muetterstreik.

3 Ein Złoty entspricht circa 0,24 Euro.

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