Die Lage in der Türkei ist unübersichtlich. Ein Ereignis jagt das nächste. Die Tagesmeldungen überstürzen sich. Den Überblick zu behalten fällt schwer. Was geschieht unterhalb der medialen Oberfläche, in den Strukturen von Staat und Gesellschaft, in den ökonomischen Beziehungen, in der Herrschaftsarchitektur der Türkei? Wie sind die Spielräume für emanzipatorische Politik einzuschätzen? Diese und andere Fragen trafen auf teilweise unterschiedliche Einschätzungen.
War dieser Putsch von vornherein zum Scheitern verurteilt?
AXEL GEHRING: Eines wird oft vergessen: Die meisten Putschversuche scheitern. Laut einschlägigen wissenschaftlichen Untersuchungen gelingt im Schnitt nur jeder fünfte. Auch die Türkei ist darin keine Ausnahme.
Ein signifikantes Beispiel liegt gerade mal neun Jahre zurück: 2007 hatte die Militärführung per Mail ein Memorandum gegen die AKP-Regierung verfasst – quasi ein elektronischer Putschversuch. Damals konnte die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) durch vorgezogene Neuwahlen den Kopf aus der Schlinge ziehen. Dies war nur möglich, weil wichtige Fraktionen des türkischen Kapitals ihre Solidarität bekundeten. Auch die EU und die USA hatten sich an ihre Seite gestellt. Dem Militär fehlten also wichtige Bündnispartner.
Ganz anders beim gelungenen Putsch von 1980.
AG: Ja, denn da stand ein erschöpftes Wirtschaftsmodell einem neuen gesellschaftlichen Projekt gegenüber. Dieses wollten die ökonomischen Eliten des Landes zusammen mit internationalen Geldgebern gegen heftigen Widerstand in der Bevölkerung durchsetzen. Zum blutigen Durchbruch verhalfen ihm schließlich die Generäle. Die Linke in der Türkei war auf Jahre erledigt.
Und wie sah diesmal die Situation aus?
AG: Unzufriedenheit gab es, ja. Auch Kritik an der Polarisierung im Land – gerade durch die Unternehmensverbände. Aber ein alternatives gesellschaftliches Projekt, auf das sich wichtige Gruppen bereits verständigt hätten, und das nur auf seine Umsetzung unter einer neuen Regierung wartete – Fehlanzeige. Eher herrschte unter den Eliten Angst vor einem Machtvakuum. Somit fehlte dem türkischen Kapital ebenso wie den bürgerlichen Oppositionsparteien ein Motiv, um sich hinter den Putsch zu stellen. Die Putschisten nannten auch keine klare Perspektive, sondern blieben bei einer dürren Erklärung.
MURAT ÇAKIR: Aus der Geschichte wissen wir, dass das türkische Militär erfolgreich putschen kann, wenn die NATO-Partner dahinter stehen oder den Putsch zumindest dulden. Das war diesmal zwar nicht eindeutig der Fall. Doch der Umstand, dass die NATO-Partner (allen voran Deutschland und die USA) nach dem Putschversuch nicht sofort reagiert haben, kann durchaus als Warnschuss an Erdoğan verstanden werden. Die grundlegendere Ursache für das Scheitern dieses Putschversuchs bestand aber darin, dass die Regierung – möglicherweise kurz vorher – von den Plänen unterrichtet war und die Putschisten beeinflussen konnte. Das ganze hätte vermutlich einen viel blutigeren Verlauf genommen, wenn laizistische Kräfte massenhaft auf die Straßen gegangen wären, um die putschenden Militärs zu unterstützen.
Dass der Putsch scheiterte, hat auch damit zu tun, dass die Putschisten offenbar nicht mit derart wirkungsvoller Gegenwehr gerechnet hatten.
AG: Hier bin ich von der Naivität der Putschisten überrascht. Sie hätten eigentlich damit rechnen müssen. In den vergangenen Jahren hat die AKP die Polizei militarisiert, bewaffnete Parteimilizen ausgebildet und den Geheimdienst unter ihre Kontrolle gebracht. Und entscheidend für die Niederschlagung des Putsches war nicht – wie von der AKP medienwirksam behauptet – der zivile Widerstand. Es handelte sich vielmehr um eine polizeilich-geheimdienstlich-militärische Intervention, ergänzt von AKP-treuen Milizen und dem harten Kern der immerhin 9 Millionen AKP-Mitglieder. Das sind die radikalisierten Teile einer islamistischen Mobilisierung. Daher auch die zahlreichen Lynch-Übergriffe. Es waren kaum normale Bürger auf der Straße, auch AKP-Wähler blieben mehrheitlich fern. Erst als keine unmittelbare Lebensgefahr mehr drohte, wagten sich mehr AKP-Anhänger nach draußen. Bezeichnenderweise war die größte Kundgebung der Nacht vom 15. Juli jene, die Präsident Erdoğan am Flughafen empfing. Da war die Lage längst geklärt, sonst hätte Erdoğan dort gar nicht auftreten können.
Aber wenn man sich die jüngsten Bilder vom Taksim oder anderen großen Plätzen in der Türkei anschaut, kann einem angst und bange werden. Wer sind die Menschen, die wahlweise für Erdoğan, die Demokratie, das Volk, die Todesstrafe etc. über Wochen auf die Straße gehen?
AG: Ja, danach wurde natürlich in großem Stil zu Kundgebungen mobilisiert, um die Regierung symbolträchtig zu unterstützen und den öffentlichen Raum in Beschlag zu nehmen. Es sollte keinen Platz geben für kritische, widerständige Politik. Auf den Plätzen verschmolzen islamistische, nationalistische und kemalistische Symbolik. Die Demonstrierenden rekrutierten sich vorwiegend aus Unterstützern der AKP und der ultranationalistischen MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung).
Immerhin sind die Plätze voller als zu Zeiten der Gezi-Proteste…
MC: Die Bilder von den Menschenansammlungen dürfen nicht darüber hinweg täuschen, dass sich die AKP nur noch auf ihre Kernwähler stützen kann. Das Regime ist bemüht, die Legende aufzubauen, dass »die Nation den Putsch verhindert« habe. Mit allen Mitteln wurden die Plätze gefüllt: kostenloser Transport, Handgeld, Essen und Trinken, Konzerte. Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst wurden von ihren Vorgesetzten angewiesen, mit Familienangehörigen an den Kundgebungen teilzunehmen, incl. Urlaubssperre. Aus Angst vor Stigmatisierung oder Entlassung nahmen sogar regierungskritische Personen teil, Alewiten oder Linke bspw. Zur großen Kundgebung am 7. August 2016 in Istanbul Yenikapı, an der laut Medienangaben über 3 Mio. Menschen teilnahmen, wurde aus der ganzen Türkei mobilisiert. Man muss wissen: Die Medien in der Türkei sind – mit Ausnahme einiger weniger kritischer Stimmen – nahezu gleichgeschaltet.
Also alles nur großes Kino?
MC: Natürlich sind die sunnitisch-konservativen Bevölkerungsgruppen weiterhin die Mehrheit in der Türkei. Und die Kernwählerschaft der AKP liegt immerhin bei gut 25 Prozent. Gleichzeitig werden radikale sunnitische Gruppen, die offen nach der Scharia rufen, von den Sicherheitskräften geschützt oder in Ruhe gelassen. Doch anders als vielfach dargestellt, steht Erdoğan mit dem Rücken zu Wand. Will er dieses Kapitel der türkischen Politik überstehen, muss er in der Bevölkerung wieder mehr Zustimmung gewinnen. Das könnte nicht so einfach werden.
Sind Erdoğan und die ihm treuen Teile der politischen Elite nun Treibende oder Getriebene der Entwicklungen seit dem 15. Juli 2016?
AG: Der Regierung und der politischen Führung der AKP ist es zumindest schnell gelungen, nach dem Putschversuch in die Offensive zu kommen. Schließlich haben sie jahrelange Erfahrung mit der Niederschlagung von Revolten aller Art. Sie konnten auch die - übrigens schon länger geplanten - Säuberungen in den Staatsapparaten rasch einleiten.
Über 80.000 Menschen wurden in den vergangenen Wochen aus Justiz, Polizei, Jandarma, Militär, Geheimdienst, Ministerien, Schulen und Universitäten entlassen oder zwangsbeurlaubt. Alles glühende Gülen-Anhänger?
AG: Natürlich nicht. Das weist darauf hin, dass die AKP auch getrieben ist: Manche der Säuberungswellen der vergangenen Wochen wirkten voreilig, plump und unpräzise. Zum Beispiel der Ausreise-Bann, der ganze Berufsgruppen betraf. Erst später wurde er auf einzelne Reisepass-Nummern eingegrenzt. Oder die Massenentlassungen von Universitätsdekanen, da wurde zunächst wenig gezielt vorgegangen. Hier zeigt sich zumindest eine gewisse Nervosität der politischen Führung. Eigentlich wenig überraschend: Bis heute wissen wir ja auch nicht, wer den Putsch wirklich angeführt hat. Obwohl die AKP überzeugt ist, die Gülen-Bewegung habe den Putsch initiiert, tut sie sich schwer damit, konkrete Anführer zu benennen.
MC: Erdoğan und die AKP sind eindeutig Getriebene. Dafür gibt es innen- wie außenpolitische Gründe. Die AKP ist nicht mehr in der Lage, die notwendige Stabilität im Inneren zu gewährleisten. Sie kann auch die »Neustrukturierung des Staates« (Erdoğan) nicht alleine stemmen. Allein für die Neubesetzungen der freigewordenen Stellen im Staatsapparat gibt es nicht genügend ausgebildetes AKP-Personal. Folgerichtig bereitet sich die AKP auf eine große Koalition vor.
Eine große Koalition aus Kemalisten und Islamisten??
MC: Ja. Ihre ideologische Grundlage wird aber nicht der politische Islam, sondern eine Mischung aus türkischem Nationalismus und kemalistischem Laizismus sein. Ich wäre nicht überrascht, wenn wir in den nächsten Monaten einen zum Laizisten geläuterten Präsidenten erlebten. Erdoğan agiert taktisch und ist unglaublich flexibel. AKP, MHP und die sozialdemokratisch-kemalistische CHP (Republikanische Volkspartei) haben einen gemeinsamen Feind: die kurdische Befreiungsbewegung. Das hilft, die Reihen zu schließen. Ob die CHP in der Regierung sein oder diese dulden wird, sei mal dahingestellt.
Und wieso außenpolitisch getrieben?
MC: Insbesondere die neusten Entwicklungen in Syrien - die direkte militärische Intervention durch türkische Kampfjets - und die Übereinkunft mit Russland erfordern eine souveräne Regierung mit starkem Rückhalt. Im transatlantischen Bündnis muss die Türkei ihre strategischen Partnerschaften erneuern und sich aus der außenpolitischen Isolation befreien. Erdoğan will diesen Prozess möglichst unbeschadet überstehen. Dafür ist seine Partei auf die Zusammenarbeit mit CHP und MHP angewiesen.
Bei allen Differenzen mit dem »Westen« kommt aber keiner der Akteure im Nahen Osten an der Türkei vorbei.
MC: Die Türkei ist für den »Westen« geostrategisch, geopolitisch und geoökonomisch von unschätzbarem Wert. Keine imperialistische Macht kann auf die Türkei verzichten oder hinnehmen, dass sie sich vom »Westen« entfernt. Das tut sie trotz aller gegenteiligen Rhetorik auch nicht. Und, da stimme ich mit Axel[1] überein, die Türkei ist kein Handlanger westlicher Interessen, sondern ein souveräner Staat, dessen Regierung sein Handeln im transatlantischen Bündnis an eigenen Interessen orientiert. Die wechselseitigen Abhängigkeiten erschweren natürlich die Beziehungen, aber sie zwingen die NATO-Mitglieder zur Zusammenarbeit. Als »Herrin der Meerengen und vieler Pforten« kann die Türkei sich der westlichen Unterstützung sicher sein und den Preis in die Höhe treiben. Doch mittelfristig wird sie sich den Diktaten des »Westens« beugen müssen. Das ist kein Widerspruch, denn die Abhängigkeit der türkischen Volkswirtschaft bspw. von der EU wiegt schwer.
Zurück zur innenpolitischen Situation: Wie beurteilt ihr das Verhalten der Opposition, vor allem der CHP?
MC: Die CHP hat sehr schnell verstanden, dass die AKP auf sie angewiesen ist, und will diese Schlüsselposition natürlich nutzen. Sie hat klare Bedingungen der Zusammenarbeit mit AKP und MHP für eine Politik der Nationalen Einheit gestellt. Anscheinend folgt die AKP dieser Vorlage: Das angestrebte Präsidialsystem ist vom Tisch. Der Prozess für eine Verfassungsänderung wurde eingeleitet – mit dem Ziel, das parlamentarische System zu stärken. Und - viel wichtiger für die CHP - die AKP akzeptiert, den Laizismus kemalistischer Prägung beizubehalten. Natürlich übernimmt die CHP damit zugleich die Aufgabe, Teile der linken Opposition an sich zu binden. Somit verschafft sie dem antikurdisch-nationalistischen Grundkonsens mehr Legitimität.
AG: Zumal die AKP gezielt die Unterstützung aus autoritär-kemalistischen Kreisen sucht, die die innere Balance der CHP nach rechts verschieben. Und wir sollten unterscheiden zwischen dem, was die CHP fordern darf und dem, was im politischen Prozess tatsächlich möglich ist. Angenommen, die CHP macht tatsächlich Einfluss auf die Reform oder gar Neuformulierung der Verfassung geltend – was heißt das dann? Vor dem Hintergrund, dass die Rechtsordnung als solche im Begriff ist zu erodieren! Die Beteiligung an der Verfassungsreform könnte zu einer Art Beschäftigungsprogramm für die CHP werden, die Kapazitäten für Oppositionsarbeit bindet. Schon jetzt fällt ihre Kritik am Ausnahmezustand verhalten aus. Und sie schwenkte sehr schnell auf eine Politik der nationalen Versöhnung ein, von der die linkskurdische HDP (Demokratische Partei der Völker) kategorisch ausgeschlossen ist.
Woran zeigt sich diese Versöhnungspolitik?
AG: Zur ihrer Demokratie-Kundgebung am 24. Juli auf dem Taksim-Platz lud die Partei auch Anhänger der AKP ein, um das Klima der Konfrontation zu überwinden. Und zu der von Murat erwähnten Massenkundgebung am 7. August auf dem riesigen Gelände von Yenikapı erschienen Vertreter von MHP, CHP und AKP sowie der Chef des Generalstabes und das Oberhaupt der Religionsbehörde Diyanet. Auch ein Veteran der Putsch-Nacht war zu hören. Hauptredner war natürlich Präsident Erdoğan.
Ein politischer Kotau der CHP?
AG: Worst case scenario, würde ich sagen. Schon der Ort der »Versöhnung« hatte symbolpolitische Bedeutung. Yenikapı wurde vor einigen Jahren von der Regierung als abseits gelegenes Veranstaltungsgelände konzipiert, weit weg vom Zentrum Istanbuls. Damit Demonstrationen nicht mehr auf dem Taksim-Platz stattfinden – dem Ort, der seit Jahrzehnten die Geschichte oppositioneller Bewegungen in der Türkei verkörpert. Yenikapı symbolisiert den Versuch der Regierbarmachung von Massendemonstrationen. Anders als am Verkehrsknotenpunkt Taksim ist eine Kundgebung dort kein Eingriff ins öffentliche Leben. Angewiesen auf die Übertragung durch eigens herbeigerufene Medien, versinnbildlicht Yenikapı geradezu bestellte Großveranstaltungen. Angesichts der Wahl dieses Ortes hätte die CHP betonen können, dass die Demokratie sich dort nur schwer verteidigen lässt. Stattdessen wies der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu die politische Führung des Landes darauf hin, dass diese ohne eine bereits vorhandene demokratisch-republikanische Tradition ihre heutige Position niemals hätte erlangen können. Wörtlich: »Mustafa Kemal [Atatürk] und seine Getreuen haben die Republik gegründet, damit jemand wie Recep Tayyip Erdoğan Präsident werden kann.«
Wie ist es um die politischen Spielräume für emanzipatorische Kräfte in der Türkei bestellt?
MC: Die türkische Linke und die kurdische Bewegung können sich in einem mehr schlecht als recht funktionierenden parlamentarischen System immer noch mehr politische Spielräume verschaffen als unter einer AKP-Alleinherrschaft. Selbst wenn nur die Willkürjustiz beendet und mehr Pressefreiheit eingeräumt würden, wäre das eine wichtige Atempause für die Linke. Ein breites Oppositions-Bündnis von unten muss hart erkämpft werden. Aber mit der CHP in der Regierung würde der alltägliche Kampf oppositioneller Kräfte in der Türkei etwas erträglicher.
AG: Da bin ich skeptisch. Bereits Anfang des Jahres, Monate vor dem Putschversuch, wurde die Immunität zahlreicher Abgeordneter aufgehoben. Die HDP ist die einzige Partei, deren Fraktion davon fast in Gänze betroffen ist. Zahlreiche Abgeordnete und lokale Funktionsträger müssen sich nun vor Gericht wegen »Terrorpropaganda« verantworten. Ihnen drohen lange Haftstrafen. Die Spielräume innerhalb des legalen Rahmens sind unglaublich klein geworden. Das Regime kann zu jeder Zeit gegen jedwede Form der Opposition vorgehen. Wir erleben das nicht erst seit der förmlichen Ausrufung des Ausnahmezustands. Zwar ist die Rechtsordnung nicht abgeschafft. Doch spielt das Recht in der Praxis oft nur eine akklamatorische Rolle, die darauf hinaus läuft, das Handeln der Exekutive hinterher zu rechtfertigen. Dazu gehört auch: Es ist immer wieder mit überraschenden Freisprüchen oder Begnadigungen von Oppositionellen zu rechnen. Das ist kein Beleg für eine demokratische Ordnung oder gar eine strikte Trennung der Gewalten, sondern schlicht Ausdruck des politischen Willens der Exekutive. Inhaftierungen sind wichtig, um Widerstand zu brechen oder zu verhindern. Freisprüche und Begnadigungen spielen eine wichtige Rolle, wenn Wechsel in der Bündnispolitik vorgenommen werden. Die gegenwärtige Politik der Nationalen Einheit verringert den Spielraum der Opposition noch weiter: Legitime Oppositionspolitik ist nur solche, die sich innerhalb der Nationalen Einheit bewegt. Alles andere ist illegitim. Kemal Kılıçdaroğlu verstieg sich zu der Aussage, in der Nacht des 15. Juli habe das Volk auf den Straßen die Demokratie verteidigt. Er hat das Narrativ der AKP einfach übernommen!
Was wäre angemessen gewesen?
AG: Richtig wäre zu sagen: Wir verurteilen den Putschversuch. Aber es gab weder eine Demokratie zu verteidigen noch war in dieser Nacht »das Volk« auf der Straße. Ein solches Statement wäre bereits illegitime Opposition. Wer zur legitimen Opposition gehören möchte, muss die Erzählung der AKP zumindest in Grundzügen vertreten und ihr so noch mehr Gültigkeit verleihen. Anderenfalls ist die Existenz gefährdet.
Klingt beängstigend.
AG: Ist es auch. Aber die türkische Regierung will gegenüber der Weltöffentlichkeit nicht den Eindruck des Outlaws erwecken. Deswegen kann sie den entscheidenden Schritt zur Führerdiktatur nicht vollziehen. Zentrale Elemente faschistischer Herrschaft in das Gewand liberal-demokratischer Institutionen zu kleiden, ist die elegantere Lösung.
Macht es Sinn, mit Blick auf die gegenwärtige Türkei von einer Diktatur mit faschistischen Zügen zu sprechen?
MC: Die türkische Staatsideologie kann als faschistoid und rassistisch bezeichnet werden. Aber die Türkei ist keine faschistische Diktatur, sondern ein autoritär regierter Unrechtsstaat mit Willkürjustiz und Feindstrafrecht. Daran hat auch der Putschversuch bislang nichts Grundlegendes geändert. Auch innerhalb der türkischen und kurdischen Linken gibt es unterschiedliche Ansichten darüber, wie das Kind denn nun zu nennen sei. Ich halte diese Diskussionen für eine rein akademische Debatte, losgelöst von politischen Kämpfen vor Ort.
AG: Das sehe ich anders. Diese Frage zu stellen, heißt, den politischen Raum für emanzipatorische Strategien zu eruieren. Wir alle wissen, dass es in der Türkei noch Parteienkonkurrenz und Wahlen gibt. Ich rechne auch damit, dass das so bleiben wird. Auch der frühe italienische Faschismus kannte noch begrenzte Parteienkonkurrenz. Und seit der Kundgebung von Yenikapı fällt es mir schwer, von CHP und MHP überhaupt noch als Konkurrenz zur AKP zu sprechen. Eher als Komplementarität. So kann die AKP sie tolerieren – das hilft letztlich ihrem internationalen Standing. Doch statt die Türkei nach formal demokratischen Parametern abzuklopfen, sollten wir den Blick auf den Herrschaftsmodus der führenden Partei richten. Es geht um mehr als die Verfolgung der Opposition. Die de facto Erosion der Rechtsordnung ist so umfassend, dass dies mittlerweile ein wesentlicher Modus der AKP-Herrschaft geworden ist.
Was bedeutet das?
AG: Die von der AKP unter Gewaltandrohung und illegal erzwungenen Neuwahlen nach der Pattsituation vom Sommer 2015 haben bspw. gezeigt, dass im Falle einer Wahlniederlage nicht mit einer friedlichen Machtübergabe zu rechnen ist. Faktische Ausnahmezustände, die sich gegen wechselnde Gegner richten, sind in der Türkei seit den späten 2000er Jahren politischer Alltag, ob nun in Form der Ergenekon-Anklagen, der KCK-Operationen, der Niederschlagung der Gezi-Revolte oder des Angriffs auf die Gülen-Bewegung.
MC: Feindstrafrecht.
AG: Genau. Dadurch, dass die AKP über diese Ausnahmezustände in einem hohen Maße entscheiden kann, ist eine Situation geschaffen, in der die Exekutive das Parlament kontrolliert und das Parlament die Handlungen der Exekutive nachträglich in Recht gießt. Das heißt, die Exekutive ist faktisch zum Souverän und zur Quelle des Rechts geworden. Das erinnert sehr an das Postulat von Carl Schmitt, der den Führer als Quelle des Rechts definierte und selbst als faschistischer Rechtstheoretiker galt. Anders gesagt: Die AKP hat es vermocht, das parlamentarische System zu besetzen, handelt dort aber, als gäbe es dieses gar nicht. Dass die charismatische Führerfigur, Präsident Erdoğan, selbst nicht an das Recht gebunden ist, wird von ihm und der AKP im innertürkischen Diskurs auch offensiv betont. Erdoğans Initiativen spielen eine wichtige Rolle bei der Formulierung des »wahren Volkswillens« inklusive der Festlegung, wer zum Volk gehört und wer nicht. In diesem Sinne also lässt sich von einer Form des Faschismus sprechen. — Die ökonomische Ordnung ist von diesem Rechtsnihilismus übrigens am wenigsten berührt. Obwohl es klientelistische Übervorteilung gibt, bleibt das Wirtschaftsrecht berechenbar. Wer als Unternehmer sein Business betreibt und sich nicht unmittelbar zur politischen Partei macht, kann operieren. Das ist das Agreement.
Das ehemalige Investorenparadies Türkei wurde kürzlich auf Ramschniveau abgestuft. Ein verlängerter Ausnahmezustand kann doch nicht im Interesse des Kapitals sein?
AG: Kurzfristig ist die Lage entspannter, als es auf den ersten Blick scheint. Zwar gab es infolge des Putschversuches zunächst negative Reaktionen an den Finanzmärkten. Doch Kapitalflucht in größerem Ausmaß hat nicht stattgefunden. Die türkischen Unternehmensverbände meiden zurzeit jedwede konfrontative Sprache gegenüber der Regierung. Das mag aus Angst vor Repression sein, hat aber auch andere Gründe: Die Verbände sind schon lange für eine Überwindung der gesellschaftlichen Polarisierung. Damit meinen sie, dass die Regierung und die großen Oppositionsparteien ihre Differenzen ausräumen und im Parlament stärker zusammenarbeiten sollen. Davon erhofft das Kapital sich ein berechenbares Umfeld. Genau dies scheint die nun angestoßene Politik der Nationalen Einheit zu schaffen.
MC: Ich würde noch weiter gehen: Bislang haben Unternehmensverbände und türkische Banken öffentlichkeitswirksam ihre Unterstützung für die Regierung erklärt — und dass sie ihre geplanten Investitionen noch ausdehnen werden. Sie haben ja auch allen Grund zur Freude: Nachdem Streiks verboten und Privatisierungen erleichtert wurden, plant die Regierung nun, per Dekret einen »Vermögensfonds Türkei« mit rund 200 Mrd. US-Dollar für Großprojekte aufzulegen. Dieser Fonds wäre direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt. Weder die Börsenaufsicht noch der Rechnungshof, geschweige denn das Parlament könnten ihn kontrollieren. Die Mittel für diesen Fonds sollen über eine intensivierte Auspressung der Lohnabhängigen gewonnen werden. Es sind Zwangsversicherungsprämien vorgesehen, Sonderabgaben, erhöhte Verbrauchersteuern etc. Das sind neben der gesetzlichen Entmachtung der ohnehin schwachen Gewerkschaften wahrlich paradiesische Zustände für Unternehmen[2]. Die Pläne ernten entsprechend viel Beifall vonseiten der Bourgeoisie.
Ungeteilten Beifall?
MC: Nun ja, die AKP-Regierung hat auch größere Unternehmen enteignet hat, deren Besitzer Gülen-Anhänger seien sollen. Doch es regt sich seitens der Unternehmensverbände kein Protest. Das zeigt: Die türkische Bourgeoisie kann mit Ausnahmezuständen und Kriegsrechtserklärungen recht gut leben. Im Übrigen war die Türkei ja auch vor dem 15. Juli ein Unrechtsstaat. Für das Kapital hat sich eigentlich nicht viel geändert.
Du betonst an anderer Stelle häufig die wirtschaftliche Krise, in der sich die Türkei befände.
MC: Die ökonomische Entwicklung ist weiterhin fragil. Das Wirtschaftswachstum liegt bei vier Prozent, die Inflation mittlerweile bei neun Prozent. Mit Niedrigzinspolitik, Immobilienkrediten, Konsumförderung und staatlichen Transferzahlungen (wie Schwangerschaftsgeld, »Gefallenen«-Rente, Haushaltsgeld, Verrentungsmöglichkeiten etc.) versucht die Regierung, vor allem die ärmeren Bevölkerungsgruppen bei der Stange zu halten. Wie lang ihr das noch gelingen wird, vermag ich nicht zu sagen.
Wie regiert man eigentlich, nachdem Zehntausende aus dem Staatsdienst entfernt wurden? Bröckelt der Unterdrückungsapparat, wenn die ehemaligen Unterdrücker im Knast oder auf der Straße sitzen?
AG: Natürlich kommt es zu Reibungsverlusten. Das merke ich ja selbst, wenn ich jetzt zum Beispiel bestimmte Webseiten der Regierung nur noch eingeschränkt aufrufen kann. Oder wenn Veterinäre plötzlich zu Dekanen humanmedizinischer Fakultäten werden. Da ließen sich noch weitere Beispiele nennen. Im Ernst: Säuberungen finden ja statt, um echte und potentielle Gegner der Regierung auszuschalten und so die Kontrolle über die Staatsapparate auszuweiten und deren Handlungsfähigkeit zu garantieren. Die Säuberungswellen seit 2007 haben paradoxerweise eine Situation geschaffen, in der nun viele ehemals in Ungnade gefallene Kemalisten und Nationalisten wieder auf Einstellung hoffen können. Diese neue Annäherung an die AKP hat sich auch während der Putsch-Nacht als sehr hilfreich erwiesen.
Ist das Militär jetzt ein homogener AKP-Fanclub?
AG: Noch nicht. Größere Probleme wird es in der Luftwaffe geben. Dort sind die personellen Lücken am größten und die Ausbildungsgänge am längsten. Indes lassen sich die Lücken in der Polizei vergleichsweise leicht schließen: die höheren Stellen zum Beispiel durch Beförderungen von loyalen Kräften, die schon Erfahrungen gesammelt haben. Solche gib es, sonst wäre der Putsch nicht so professionell niedergeschlagen worden. Neueinstellungen müssten vor allem bei den unteren Stellen vorgenommen werden. Hier ergeben sich nun Aufstiegsmöglichkeiten für Personal aus dem schlecht bezahlten privaten Sicherheitssektor. In einem Land mit hoher Prekarität und Arbeitslosigkeit öffnen politische Säuberungen immer auch Chancen für Menschen, die bislang außen vor standen. Ihrer Loyalität kann sich die Regierung dann sicher sein.
Ist mit den teilweise unerfahrenen Nachrückern ein Staat zu machen?
AG: Das Problem ist in erster Linie kein bürokratisches, sondern ein politisches. Die Instabilität ist Ergebnis einer scharfen politischen Konfrontation. Sie kann überwunden werden, indem die Konfrontation überwunden wird. Zum Beispiel repressiv durch eine Politik der Nationalen Einheit. Ironischerweise haben die Säuberungswellen gerade die Opfer der Gülen-Bewegung, die zuvor mit der AKP über Kreuz lagen, rehabilitiert. Das hat mit Demokratie nichts zu tun. Es ist eher Ausdruck einer enormen Machtkonzentration, die rasch zwischen Bestrafen und Belohnen umschaltet und immer neue, wechselnde Gruppen von Opfern und Tätern schafft.
Das Gespräch führte für die Redaktion Anne Steckner.