Die »sozial verbreitete Macht«, die von den post-gramscianischen, foucaultschen und post-operaistischen Theorien ausgiebig untersucht wurde, ist nicht mehr allein in der Lage, die kapitalistische Hegemonie über die Gesellschaft zu garantieren. Die politische Stärke ist erneut entscheidend geworden, nicht nur als letztinstanzliche Sicherheitsvorkehrung, sondern als unmittelbare Modalität der Steuerung der gesellschaftlichen Beziehungen. In diesem Punkt scheint es mir, dass Rehmann und Candeias im Wesentlichen mit mir übereinstimmen. Also sind wir einer Meinung in der Hauptsache. Wir sind uns ebenfalls einig, dass die (Wieder-)Entdeckung der Zentralität der Staatsmacht keine Negation der theoretischen Überlegungen und Praxen der Bewegungen impliziert, hinsichtlich einer Kritik am »realen Sozialismus«, der Überwindung des Etatismus, der Bedeutung direkter und selbstorganisierter Demokratie und der Vielgestaltigkeit und Komplexität des revolutionären Subjekts. Die Meinungsverschiedenheiten betreffen zum einen das Verhältnis zwischen Bewegungskrieg und Stellungskrieg und zum anderen das Verhältnis zwischen gesellschaftlicher und politischer Macht, zwischen Zivilgesellschaft und Staat.

Bewegungskrieg – Stellungskrieg

Rehmann erinnert mich – zu Recht – daran, dass Gramsci den Bewegungskrieg als eine gefährliche Flucht nach vorn ansieht, als ein extremistisches und abenteuerliches Verhalten, das sich auf die Illusion stützt, die ökonomische Krise des Kapitalismus könne sich unmittelbar in eine politische Krise der herrschenden Klasse umwandeln. Ich beziehe mich in meinen Überlegungen allerdings gar nicht direkt auf die Gedanken Gramscis. Auch mein Anliegen ist ein anderes: In einigen kapitalistischen Ländern, vor allem in Südeuropa, die stärker von der ökonomischen Krise betroffen sind als andere, führen die Schwierigkeiten, eine stabile Bearbeitung der Krise zu finden, zu wachsender politischer Instabilität. Es kommt zu einer brüsken Beschleunigung der Zeitläufe von Konflikten und zu einem ständigen Ausein­anderfallen und Neuformieren der politischen Fronten, die – auch wenn sie in der Tat nicht unmittelbar zu einer revolutionären Krise führen – so doch eine neue Organisationsform der antikapitalistischen Bewegungen notwendig machen. Eine Organisation, die sowohl in der Lage ist, die verschiedenen Klassenfraktionen und Strömungen der Bewegungen zu verbinden als auch schnelle gemeinsame Entscheidungen zu treffen. Sie muss in der Lage sein, die Stärke der Bewegungen auf entscheidende Punkte der politischen Konjunktur zu lenken – Punkte, die sich ja ständig verändern. Es braucht also eine verbindende Partei, die die Bewegungen vereint, ohne sie innerhalb einer Massenpartei alten Typs aufzulösen. Aber auch eine strategische Partei, die sich nicht darauf beschränkt, einen Dialog zwischen den verschiedenen antikapitalistischen Kulturen zu ermöglichen, sondern die im Stande ist, eine gemeinsame politische Linie zu schaffen. Das heißt nicht, dass man heute sofort und jederzeit die Frage der Staatsmacht stellen kann. Es bedeutet eher, dass eine Stärkung oder Schwächung der antikapitalistischen Bewegung sich ungemein schnell vollzieht. Das gleiche gilt für eine Veränderung der Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen zum Besseren oder zum Schlechtern. Sie hängen direkt ab von politischen Entscheidungen, die von Mal zu Mal getroffen werden, und die heute die soziale Dynamik wesentlich stärker prägen, als dies früher der Fall war. Vielleicht widerlegen die deutschen und französischen Erfahrungen meine Hypothese, die italienischen Erfahrungen jedenfalls bestätigen sie. Zivilgesellschaft und Staat Candeias (aber auch Rehmann) haben Recht, wenn sie einwenden, dass man den Kampf in der Zivilgesellschaft nicht abstrakt vom Kampf im (bzw. gegen den) Staat trennen kann (auch weil – ergänze ich – die Unterscheidung zwischen Zivilgesellschaft und Staat eine konzeptionelle ist und keine empirische). Beide Kämpfe müssen sich miteinander verknüpfen, aber es ist wichtig zu verstehen, dass sie verschiedene Zeitläufe und Bedingungen haben. Der erste verlangt längere Zeiträume, einen höheren Grad von Dezentralisierung und eine Diversifikation der Sprache. Der zweite ist schneller, konzentrierter und braucht eine Vereinheitlichung der Sprache. Wir können also weder den ›gesellschaftlichen‹ noch den ›politischen‹ Kampf abschaffen, noch können wir den einen im anderen aufgehen lassen, sondern müssen mit diesem unausweichlichen (und positiven) Widerspruch umgehen. Candeias hat außerdem Recht, wenn er die Bedeutung der neuen Institutionen – die ich »Institutionen der Bewegung« nenne – unterstreicht und auf deren konstituierenden Charakter hinweist. Man kann nicht von der Eroberung und der Transformation der Staatsmacht sprechen, wenn man nicht von der Existenz und dem Aufbau derartiger Institutionen ausgeht. Sie sind der Ort, an dem sich das revolutionäre Subjekt erst herausbildet, das anschließend den Staat besetzt und transformiert. Ohne sie kann keine Situation als ›revolutionär‹ definiert werden. Zwei Präzisierungen sind hier notwendig. Früher organisierte der Kapitalismus die Massen innerhalb stabiler ökonomischer und politischer Strukturen (in den Fabriken und den Apparaten des Sozialstaates), heute hingegen tendiert er dazu, sie durch Fragmentierung der Produktionseinheiten und die Auflösung des Sozialstaates zu zerstreuen. Die neuen Institutionen müssen also eine zerstreute Bevölkerung vereinigen. Ihr Aufbau (oder ihre Zerstörung) läuft in viel schnelleren – eher ›sozialen‹ als ›politischen‹ – Zeiträumen ab. Folglich müssen die neuen Institutionen stabil und dauerhaft sein, wenn sie die aktuellen staatlichen Institutionen herausfordern wollen. Die Bewegungen heute neigen leider dazu, sich sehr unbeständige und schwache Institutionen zu geben. Die Aufgabe einer politischen Avantgarde ist es also vorzuschlagen, diese schwachen Institutionen nicht durch die Partei zu ersetzen, sondern durch ›starke Institutionen‹. Sie sind der Raum, innerhalb dessen sich eine verbindende und strategische Partei erst bilden kann.

Linker Populismus

Wir überlegen immer so, als gäbe es nur zwei Protagonisten einer sozialen Emanzipation: die Selbstorganisation und die Partei. Neben der sozialen Selbstorganisation und der libertären und anti-etatistischen Tendenz taucht aber eine weitere Tendenz auf: Ein ›Volk‹, das aus isolierten Individuen besteht, die sich nicht durch Selbstorganisation verbinden, sondern in Bezug auf ein politisches Ziel oder – schlimmer noch – in Bezug auf einen politischen Anführer. Es sind Fraktionen, die nicht über die Ressourcen verfügen, um sich selbst zu organisieren, die traditionelle Parteien kritisieren, aber trotzdem von einer ›effizienten‹ Partei träumen, ein Volk, das den ineffizienten Staat kritisiert, aber trotzdem einen einflussreichen Staat will, der in der Lage ist, sie vor den Auswirkungen der Krise zu schützen. Diese popularen Massen sind vielleicht populistisch, aber der Populismus ist nicht immer und in jedem Fall ein Phänomen der Rechten. Auch bei einem nicht unbedeutenden Teil der Menschen, die sich als links verstehen, existieren populistische Verhaltensweisen und vielleicht sind die ›linken Populisten‹ viel zahlreicher als die Aktivisten, die für Selbstorganisation stehen. Ein Emanzipationsprojekt und vor allem ein sozialistisches Projekt sollte sich also nicht nur mit der Dialektik zwischen Selbstorganisation und Partei beschäftigen, sondern sich auch mit derjenigen zwischen Partei und Selbstorganisation auf der einen Seite und dem Popularen auf der anderen Seite. Andernfalls überlässt man die Subalternen dem rechten Populismus. Die Partei kann daher nicht nur eine verbindende und strategische sein. Wahrscheinlich müsste sie auch einige Wesenszüge der alten Massenpartei übernehmen oder, mit der gebotenen Vorsicht, einige Aspekte einer Politik, die sich auf persönliches Charisma stützt.

Eine Macht schaffen, die noch nicht existiert...

In Occupy Lenin argumentiere ich, dass besonders in Europa die Staatsmacht nicht identisch ist mit öffentlichen nationalen Institutionen, sondern mit einem Komplex aus öffentlichen und privaten, nationalen und supranationalen Institutionen. Die nationale Souveränität läuft ausgerechnet in den schwächsten Ländern Gefahr, von supranationalen technischen Organen absorbiert zu werden. Die Eroberung der Staatsmacht impliziert hier notwendigerweise auch eine supranationale Strategie. Aber es ist nicht gesagt, dass diese eine europäische sein müsste oder sollte. Falls eine antikapitalistische europäische Bewegung nicht rechtzeitig entstehen sollte, müsste die Eroberung der Staatsmacht sich mit der Definition eines neuen politischen Raumes identifizieren, der zu aller erst die nationale Dimension wiederherstellt und sofort danach eine supranationale Dimension neuen Typs schafft. Dies könnte durch eine Rebellion der südeuropäischen Arbeiter passieren und durch die Schaffung einer eigenen Föderation (und einer Währung) der PIIGS. Auch aus diesem Blickwinkel impliziert die Eroberung der Staatsmacht also nicht nur die Aktion innerhalb einer gegebenen Situation, sondern auch die Schaffung einer völlig neuen Situation. Nicht nur die Eroberung einer bestehenden Macht, sondern die Konstitution einer Macht, die noch nicht existiert. Aus dem Italienischen von Bodo Acker

Frühere Beiträge der Debatte:

Mimmo Porcaro: Occupy Lenin Jan Rehmann: Verbindende Partei oder Zurück zum „Bewegungskrieg“? Mario Candeias: Eine Situation schaffen, die noch nicht existiert