Heute gibt es weltweit in etwa 100 Städten und Gemeinden einen Nulltarif im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), 60 davon liegen in Europa. In Deutschland ist öffentliches Fahren zum Nulltarif gegenwärtig im bayerischen Pfaffenhofen und seit 1. April auch in Mohnheim möglich. Tübingen will folgen. In Augsburg gibt es immerhin eine Light-Variante: Durch einen Nulltarif im engen Innenstadtbereich soll dieser vom Autoverkehr entlastet werden. Das Thema ist also auch hierzulande in der Diskussion und über 70 Prozent der Bevölkerung befürworten einen entgeltfreien ÖPNV. Zuletzt ist die Zahl der Städte und Gemeinden weltweit, in denen es einen Nulltarif gibt, schnell gewachsen. Die Motive für die Einführung sind von Ort zu Ort unterschiedlich, entsprechend divers sind die Erfahrungen mit diesem Instrument, das in den 1960er Jahren in den USA zum ersten Mal erprobt wurde und seither in diversen Ländern zum Einsatz kommt. Eine vergleichende Auswertung zeigt: Nulltarif ist nicht gleich Nulltarif – und ein Nulltarif macht noch keine Verkehrswende (vgl. Dellheim/Prince 2018; Brie/Dellheim 2020). Für ein solidarisches und ökologisch gerechtes Verkehrssystem ist der Nulltarif nur ein – wenngleich ein sehr wichtiger – Schritt.

Warum Nulltarif?

Es sind vor allem drei Entwicklungen, die aus der Sicht von immer mehr Menschen, Stadt- und Kommunalregierungen für den Nulltarif sprechen: zum einen die stark verschmutzte Luft in den Innenstädten, zum anderen die durch starken Autoverkehr beeinträchtigte Lebensqualität der Einwohner*innen und schließlich die Notwendigkeit, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um nationale Klimaziele zu erreichen. Der Autoverkehr führt in vielen Städten zu so massiven Staus, dass der individuelle und der gesellschaftliche Alltag beeinträchtigt werden. Das bedeutet Zeitverlust, Hektik und Stress, was wiederum steigende Aggressivität in den Städten zur Folge hat. Die Reduzierung von Staus war dementsprechend ein wichtiges Motiv für die Einführung des ÖPNV-Nulltarifs im schwedischen Avesta, in Tórshavn auf den dänischen Färöer-Inseln, im polnischen Bełchatów oder jüngst im US-amerikanischen Kansas City. Auch Luxemburg hat zum 1. März 2020 aus den genannten Gründen den Nulltarif im gesamten öffentlichen Personennahverkehr eingeführt.

An vielen Orten kommt ein weiterer Faktor hinzu: der Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung. Dieser spielt beispielsweise in den etwa 20 Städten in Polen eine zentrale Rolle, die seit 2010 einen Nulltarif eingeführt haben. Zuvor mussten arme Kinder oft lange zur Schule laufen oder waren auf die Hilfe von Autobesitzer*innen angewiesen. Für alte Menschen war ein Arztbesuch teils unerschwinglich. Immer wieder wurde aber auch in wohlhabenderen und touristisch beliebten Kommunen der Nulltarif eingeführt, weil damit dort die autofreien Innenstädte mit Geschäften, Cafés und Restaurants an Attraktivität gewinnen.

Nulltarif ist nicht gleich Nulltarif

Vom Nulltarif ist immer dann die Rede, wenn in einem Gebiet an allen Wochentagen für die volle Betriebsdauer der gesamte ÖPNV unentgeltlich genutzt werden kann. Allerdings gibt es unterschiedliche Modelle, die auch unterschiedliche politische Implikationen haben. In der estnischen Hauptstadt Tallinn beispielsweise gilt der Nulltarif lediglich für die offiziell dort gemeldeten Einwohner*innen, während im französischen Dunkerque alle frei fahren können. Damit ist nicht nur die Frage der allgemeinen Zugänglichkeit, etwa für Personen ohne Papiere, aufgeworfen, sondern auch die brisante Frage, wie hier Daten generiert und verwaltet werden: Hält man jedes Mal die Einwohnerkarte an einen Sensor, kann ein individuelles Mobilitätsprofil erstellt werden. Was geschieht damit, wem gehören die Daten? Mehr oder weniger zufällige Kartenkontrollen oder auch die gegenseitige Beobachtung der Fahrgäste können wiederum Tendenzen rassistischer und ethnischer Diskriminierung verstärken. Und gelten Geflüchtete als Einwohner*innen oder nicht?

Dass der Nulltarif nicht per se ein emanzipatorisches Projekt ist, zeigt das Beispiel der lettischen Hauptstadt Riga, wo es eine rechte Stadtverwaltung war, die den ÖPNV-Nulltarif nur für Einwohner*innen eingeführt hat. Ein weiteres Beispiel ist die nordrhein-westfälische Kommune Monheim, wo der kostenlose »Monheim-Pass« durch die sprudelnden Steuereinnahmen einer aggressiven Standortpolitik refinanziert wird. Konkret wurden dort durch die Halbierung des Gewerbesteuersatzes Firmen und Investoren aus anderen Kommunen abgeworben. Nicht nur hier zeigt sich: Der Nulltarif ist immer auch mit der Frage nach seiner nachhaltigen und solidarischen Finanzierung und Nutzung verbunden. Wird das Projekt aus den Überschüssen einer auf Steuerdumping basierenden Politik finanziert? Oder ist der Nulltarif Bestandteil einer sozialen Umverteilungspolitik, ein Beitrag zur Reduktion des Autoverkehrs und zur Verkehrswende? Letzteres gilt, wenn die Ausweitung der Nahverkehrsstrukturen beispielsweise durch höhere Gebühren für Parkplätze gegenfinanziert wird.

Nulltarif als Einstiegsprojekt

Der Nulltarif kann aber weit mehr sein als nur ein verkehrspolitisches Steuerungsinstrument: Er kann in eine Politik der Teilhabe und Demokratisierung öffentlicher Dienstleistungen eingebettet werden. Ein Beispiel hierfür ist Maricá im Bundesstaat Rio de Janeiro. Die brasilianische Stadt hat etwa 150 000 Einwohner*innen und ist bekannt für ihre attraktiven Strände. Vor der Einführung des Nulltarifs hatten allerdings viele Kinder und Jugendliche aus armen Stadtteilen den Atlantik noch nie zu Gesicht bekommen. In dem von Rechten dominierten Bundesstaat hat die Einführung des Nulltarifs nicht nur soziale, sondern auch demokratiepolitische Gründe. Durch die Lösung der Mobilitätsprobleme der Bürger*innen soll das Zusammenleben der Menschen insgesamt, sollen ihre sozialen und ökologischen Lebensbedingungen verbessert werden. Die Möglichkeit, sich unentgeltlich fortzubewegen, trägt dazu bei, die gesellschaftliche Teilhabe zu stärken, Menschen politisch zu aktivieren und Segregation zu überwinden. Insgesamt soll der Nulltarif auch zu einer Demokratisierung politischer Entscheidungsprozesse beitragen.

Die Finanzierung der meist hochmodernen Busse in Maricá, die sogar über WLAN verfügen, wird aus öffentlichen Mitteln, insbesondere aus den Steuern der in der Region ansässigen Betriebe, getragen. Interessant ist, dass die ökonomisch wichtigsten Unternehmen der Region zur Energiewirtschaft gehören und ökologisch hochgradig zerstörerisch agieren. Die Stadt hat aber ein Konzept für den Ausstieg aus der fossilen Energie und den weiteren Ausbau des Öffentlichen. Dabei geht es sowohl um eine Ausweitung öffentlicher Mobilitätsangebote, wie beispielsweise unentgeltlich nutzbare Leihfahrräder, als auch um Bildungs-, Gesundheits- und Pflegeleistungen. Insgesamt sollen neue sinnvolle Arbeitsplätze entstehen, aus deren Steuereinnahmen dann auch die Finanzierungsgrundlage des ÖPNV verändert werden kann.

Eine widersprüchliche Geschichte

Dass »Nulltarif nicht gleich Nulltarif« ist und dass das Instrument durchaus widersprüchliche Wirkungen haben kann, gilt nicht erst seit heute, sondern seit der Geburtsstunde des Konzepts. Die Lebensdauer des Nulltarifs war oft kurz, das Instrument blieb politisch umkämpft und bedroht. Zudem war es vielerorts zu kleinteilig und isoliert, um zu einer nachhaltigen Wende im Verkehrssystem beizutragen. Es war ausgerechnet eine Stadt mit dem Namen Commerce in der Nähe von Los Angeles, die sich 1962 zum ersten Mal an einem Nulltarif im ÖPNV versuchte. In den 1970er, 1980er und 1990er Jahren folgten in den USA weitere Pilotprojekte. Die damaligen Protagonist*innen argumentierten ähnlich wie heute mit den sozialen Vorteilen, insbesondere mit der höheren Mobilität von Armen und Arbeitsuchenden. Auch seien die Abschaffung der Tarife und der Ausbau des ÖPNV wesentlich günstiger als die Investitionen in den Ausbau der Automobilinfrastruktur. Heute gibt es in etwa 30 Orten in den Vereinigten Staaten einen Nulltarif. Meist sind es kleine städtische oder auch städtisch-ländliche Gemeinden (z. B. Edmund/Oklahoma), Universitätsstädte wie Chapel Hill, North Carolina oder Bezirke mit Naturparks und Touristenresorts wie Crested Butte und Estes Park (beide in Colorado). Oftmals sind es aber gerade nicht sozial marginalisierte Gruppen, die vorrangig von diesen Nulltarifen profitieren, denn in den Universitätsstädten und touristisch attraktiven Kommunen können sich ohnehin nur Wohlhabende eine Wohnung im Zentrum oder in Zentrumsnähe leisten. Einen öffentlichen Regionalverkehr gibt es meist nicht oder nur zu unerschwinglichen Preisen. Nur selten sind kostengünstige Parkplätze am Stadtrand mit einem gut ausgebauten ÖPNV zum Nulltarif verbunden. Und auch wenn immer noch neue Städte und Gemeinden hinzukommen, wie aktuell Olympia, das seit wenigen Monaten einen Nulltarif hat, und Kansas, das ihn zum 1. Juni 2020 bekommt – von einer Erfolgsgeschichte in den USA kann keineswegs die Rede sein: In größeren Städten wie Mercer County/New Jersey und Denver/Colorado wurde der ÖPNV-Nulltarif wieder abgeschafft. Bei dramatisch wachsenden gesellschaftlichen Problemen, gesteigerter Autoproduktion und expandierendem Autoverkehr fehlte es am politischen Willen zu einer echten Mobilitätswende.

Ähnlich steht es in Europa: Dort gab es das erste Nulltarif-Experiment 1971 in Colomiers, einem Vorort von Toulouse in Frankreich. Es folgten Rom und Bologna, jeweils im Kontext politischer Auseinandersetzungen, in denen eine starke Linke ihre konkreten Ideen für solidarische Lebensweisen für kurze Zeit hegemonial machen konnte. Mit ihrer Niederlage trat in Italien eine Steuer- und Finanzreform in Kraft, die solche Projekte fortan verhinderte. Auch im brandenburgischen Templin scheiterte die Fortsetzung des 1997 eingeführten Nulltarifs 2002 an der Finanzverfassung. Lange war Hasselt in Belgien das bekannteste europäische Beispiel. Die sozialdemokratische Stadtverwaltung hatte dort, in einer ausgewiesenen »Autostadt«, 1996 die Pläne für den Bau einer neuen Umgehungsstraße fallengelassen und stattdessen das ÖPNV-Netz ausgebaut. Aufgrund steigender Betriebskosten und politischer Veränderungen wurde das Projekt 2014 leider wieder beendet – acht Jahre waren zu kurz, um Mobilitätsmuster nachhaltig zu verändern, angeschaffte Autos stehenzulassen.

Den Umstieg organisieren

Die Einführung des Nulltarifs allein hat also noch keine ausreichende umweltpolitische Wirkung, auch führt sie nicht notwendigerweise – zumindest nicht kurzfristig – zu einer relevanten Senkung der CO2-Emissionen im Verkehr. Mit Blick auf Tallinn, Hasselt oder Templin wird oft darauf verwiesen, dass die Fahrgastzahlen vor allem dadurch in die Höhe schnellen, dass viele, die bislang kurze Strecken per Fahrrad und Fuß zurücklegten, nun in den ÖPNV »gelockt« werden.

Genau das will die Erfurter LINKE, die am Nulltarif als Teil eines umfassenderen Stadtentwicklungskonzepts arbeitet, im Interesse der öffentlichen Gesundheit und des Umweltschutzes verhindern. Ihr Konzept setzt entsprechend auch darauf, Zu-Fuß-Gehen attraktiver zu machen, und auf ein intelligentes Bike- und Car-Sharing-System. Um Menschen dazu zu bewegen, tatsächlich aufs Auto zu verzichten, sind in diesem Sinne größere Anstrengungen notwendig. Einige Studien zeigen, dass erst hohe Parkgebühren und ein deutlicher Zeitgewinn des ÖPNV gegenüber dem Auto dazu führen, dass Menschen tatsächlich auf Bus und Bahn umsteigen. Für diese These spricht auch das Beispiel Tallinn mit seinen immerhin circa 430 000 Einwohner*innen: Bestimmte Bevölkerungsgruppen konnten auch schon vor 2013 den städtischen ÖPNV unentgeltlich nutzen. Eine spürbare Veränderung kam aber erst, als der Nulltarif auch auf die die Stadt durchfahrenden Regionalzüge ausgedehnt wurde.

Abschließend lässt sich festhalten, dass ein gut ausgebauter kommunaler und regionaler ÖPNV zum Nulltarif insbesondere dann erfolgreich ist, wenn er in eine Politik integriert wird, die die Gesundheit und das Wohlbefinden der Bürger*innen insgesamt im Blick hat, zugleich auf eine aktive Teilhabe der Einwohner*innen, insbesondere der sozial Marginalisierten, am gesellschaftlichen Leben zielt und bemüht ist, auch die Freizeit der Bürger*innen zu mehren. Sofern reale Alternativen für die öffentliche Beförderung gegeben sind, sind auch hohe Parkgebühren und »Auto-Diskriminierung« sozial gerecht. Dann kann ein ÖPNV mit Nulltarif oder mit stark gestaffelten Sozialtarifen ein verbindendes Projekt für all jene werden, die sich heute für die gerechte Lösung konkreter Mobilitätsprobleme und zugleich für ein selbstbestimmtes Leben in Würde, solidarischem Miteinander und intakter Natur für alle engagieren wollen.