Einzelne Sätze aus Marx-Werken herauszunehmen, ist ein gewagtes Unterfangen. Sie stehen in einem bestimmten Kontext, sind oft Repliken. Versuchen wir es trotzdem mit einem Zitat aus den Grundrissen: »Gemeinschaftliche Produktion vorausgesetzt, bleibt die Zeitbestimmung natürlich wesentlich. Je weniger Zeit die Gesellschaft bedarf, um Weizen, Vieh etc. zu produzieren, desto mehr Zeit gewinnt sie zu anderer Produktion, materieller oder geistiger. Wie bei einem einzelnen Individuum hängt die Allseitigkeit ihrer Entwicklung, ihres Genusses und ihrer Tätigkeit von Zeitersparung ab. Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf. Ebenso muss die Gesellschaft ihre Zeit zweckmäßig einteilen, um eine ihren Gesamtbedürfnissen gemäße Produktion zu erzielen.« (MEW 42, 89)

Marx spricht verschiedene Dimensionen an: die allseitige Entwicklung der Individuen und die gemeinschaftliche Produktion, von der wir weit entfernt sind. Von »Gesamtbedürfnissen« ist die Rede und vom Zeitgewinn durch die Entwicklung der Produktivität. Den letzten Aspekt möchte ich hier verfolgen: Wie nutzen wir die Zeit, die durch Produktivitätsfortschritte freigesetzt wird bzw. freigesetzt werden müsste?

Fortschritt sollte Zeit freisetzen

In den Grundrissen ist auch die Rede davon, dass es neben der unmittelbaren materiellen Produktion noch eine andere »Arbeit« gibt. Die dieser Arbeit innewohnende Produktivkraft ist »das allgemeine gesellschaftliche Wissen«, die »Kombination der menschlichen Tätigkeiten« und die »Entwicklung des menschlichen Verkehrs« (ebd., 601f). Hier deutet sich an, was heute unter Begriffen wie immaterielle Arbeit, soziale Kompetenz und politisches Engagement, Wissensgesellschaft und Demokratie diskutiert wird. Schauen wir uns aber die heutige Arbeitswelt an, so ist die Bilanz ernüchternd: Von Zeitwohlstand, von einer allseitigen Entwicklung kann keine Rede sein. Die einen, die Vollzeitstellen haben, nehmen nur zu oft Überstunden in Kauf. Raubbau an sich selbst gehört zum guten Ton. Kein Wunder, dass stressbedingte Krankheiten zunehmen, während andere sich ein ums andere Mal erfolglos bewerben. Jobs werden in Produktionszweigen geschaffen, die vor allem den Raubbau an der Natur befördern. Der Stand der Produktivkraftentwicklung gäbe zwar ein Mehr an Zeitwohlstand für alle her. Die konkreten Machtverhältnisse und die am Profit orientierte Wirtschaftsweise stehen dem jedoch entgegen.

Erschwerend kommt hinzu, dass es heutzutage als schick gilt, überarbeitet zu sein. Gewerkschaftliche Kämpfe konzentrieren sich vor allem auf das Abwehren von Verschlechterungen. Die Firmen sind sehr erfinderisch in der Ausbeutung der Arbeitskräfte. So hat die Modekette H&M das System der StundenlöhnerInnen eingeführt. Die Beschäftigten sind nicht mehr bei einem Laden angestellt, sondern bei der Kette. Fällt eine Verkäuferin aus Krankheitsgründen aus, wird ihre Arbeitszeit ins Netz eingestellt und wer sich zuerst per SMS meldet, darf diese Stunden ableisten. Die Betroffenen müssen ständig bereit stehen, ohne zu wissen, ob sie zum Einsatz kommen. Entlohnt wird nur der Einsatz, nicht die Tage und Stunden des Bereitstehens.

Vor diesem Hintergrund scheint es fast ein intellektueller Luxus, sich für konsequente Arbeitszeitverkürzung einzusetzen und dies auch noch mit einer Neuverteilung der Tätigkeiten zwischen den Geschlechtern zu verknüpfen. Doch genau diese Perspektive ist notwendig. Gerade das wachsende Empfinden von Stress ist ein Ausgangspunkt. Hier gibt es Alltagserfahrungen, an denen wir anknüpfen können. Es geht eben nicht nur um die Höhe des Lohnes, sondern auch um die kostbarste, weil endliche Ressource Zeit. Es geht um die Art, wie Arbeit organisiert ist und wofür wir Zeit brauchen.

Muße und politische Einmischung

Dass es Zeit für Familienarbeit und Reproduktionsarbeit braucht, ist noch recht leicht zu vermitteln. Dass zu den Herrschaftsknoten (vgl. Haug in diesem Heft) auch die vom Patriarchat geprägte Verteilung der Familienarbeit zwischen Männern und Frauen gehört und dass es hier einer deutlichen Umverteilung bedarf, stößt schon nicht mehr überall auf Begeisterung. Wirklich schwierig wird es jedoch mit einem Gedanken aus der 4-in-1-Perspektive (vgl. Haug in LuXemburg 2/2011): dass ein Viertel einer Arbeitswoche jeweils für politische Einmischung und für Arbeit an sich selbst, also auch für Muße, vorgesehen sein könnte. Nicht alle wollen auf Anhieb, jeden Tag vier Stunden politisch aktiv sein. Aber in Bewegungen, in Zusammenarbeit mit Bürgerinitiativen habe ich immer wieder erlebt, dass sich auch die Bedürfnisse verändern, wenn etwas in Gang gekommen ist. Wir können doch die Demokratie nicht aufs Abgeben der Stimme an einer Urne reduzieren! Wir verstehen doch Demokratie auch als Demokratisierung der Teilbereiche, als Mitbestimmung im Büro oder Betrieb, als aktive Gestaltung des eigenen Kiezes, als Mitsprache der SchülerInnenvertretung in der Schule. Wir wollen doch Demokratie nicht den BerufspolitikerInnen überlassen.

Und die Muße? Auch in linken Kreis wird sie gern als Spleen abgetan. Lesen wir noch mal bei Marx nach. Da heißt es in den Theorien über den Mehrwert: Freie Zeit ist die Zeit, »die nicht durch unmittelbar produktive Arbeit absorbiert wird, sondern zum enjoyment [Genießen], zur Muße dient, [so] daß sie zur freien Tätigkeit und Entwicklung Raum gibt. Die Zeit ist der Raum für die Entwicklung der faculties [Fähigkeiten] etc.« (MEW 26.3, 252). Und in den Grundrissen ist zu lesen: »Die Ersparung von Arbeitszeit ist gleich Vermehren der freien Zeit, d.h. Zeit für die volle Entwicklung des Individuums, die selbst wieder als die größte Produktivkraft zurückwirkt auf die Produktivkraft der Arbeit. […] Die freie Zeit, die sowohl Mußezeit als Zeit für höhre Tätigkeit ist – hat ihren Besitzer natürlich in ein andres Subjekt verwandelt, und als dies andre Subjekt tritt er [ich füge hinzu: und sie] dann auch in den unmittelbaren Produktionsprozeß.« (MEW 42, 607)

Ich lese dies so, dass Arbeit an sich selbst, dass also Muße, die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten auch dazu beitragen kann, die eigene Widerständigkeit zu erhöhen, Erkenntnisse zu erlangen, die uns vorbereiten auf das Ansetzen am Herrschaftsknoten. Muße, das Reich der Freiheit, ist also kein Luxus, sondern wichtig im politischen Kampf. Dies erfordert dringend eine Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit. Denn »es bleibt dies immer ein Reich der Naturnotwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.« (MEW 25, 828)

Vielfältige Arbeitszeitverkürzungen

Wenn wir aber eine Offensive zur Arbeitszeitverkürzung in Angriff nehmen, so muss diese immer unterschiedliche Formen von Arbeitszeitverkürzung in den Blick nehmen: die kollektiven wie die individuell selbstbestimmten. Auch angesichts des Wandels der Arbeitswelt und angesichts der Verschiedenheit der Lebenslagen gehen die Vorstellungen von Arbeitszeitverkürzung und die jeweiligen Bedürfnisse weit auseinander (vgl. Riexinger in LuXemburg 4/2012).

Um nur einige Formen zu nennen: Da wäre die traditionelle, kollektiv in Tarifverträgen auszuhandelnde Reduktion der Wochenarbeitszeit, die kollektive Verkürzung der Lebensarbeitszeit durch ein früheres Renteneintrittsalter, und die Einführung von mehr gesetzlichen Feiertagen, zum Beispiel am 8. März oder am 8. Mai. Außerdem wäre mein Vorschlag, einen Elternbonus im Urlaubsgesetz einzuführen, wonach Väter wie Mütter alle zwei Monate einen zusätzlichen freien Tag bekommen sollten für Arzttermine und Behördengänge – auch das dient der Arbeitszeitverkürzung. Und dann der Lesetag: Die Thüringer Landtagsfraktion der LINKEN hat für alle MitarbeiterInnen einen monatlichen Lesetag eingeführt. Ich fand das eine großartige Idee und habe deshalb mit der Betriebsratschefin meines Abgeordnetenbüros ebenfalls eine solche Vereinbarung getroffen. Zu den bekanntesten selbstbestimmbaren Formen der Arbeitszeitverkürzung gehören zeitlich begrenzte Auszeiten (Sabbaticals). Auszeiten, die keinen Ausstieg aus dem Job bedeuten, aber einen zeitlich begrenzten Rückzug, sei es zur Weiterbildung, zur Erweiterung des Horizonts oder zur Prävention von drohendem Burnout. Ein entscheidendes Hindernis bei der Wahrnehmung solcher Auszeiten ist oft die dann fehlende oder zu geringe materielle Absicherung.

Es geht aber eigentlich um viel mehr als nur um die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit: Mit einer Umverteilung der Tätigkeiten zwischen den Geschlechtern geht es auch um den Angriff auf eine der historischen Arbeitsteilungen. Wenn weniger Zeit in den männlich geprägten Bereichen der Erwerbsarbeit verbracht wird, bleibt mehr Zeit für andere Tätigkeiten wie die Pflege von Angehörigen. Dies ist eine Voraussetzung für die gerechtere Verteilung der Tätigkeiten zwischen den Geschlechtern. Es geht um die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten, darum, sich die Demokratie anzueignen. Und letztlich geht es auch um ein kulturgeschichtliches Projekt. Wie André Gorz es so treffend auf den Punkt bringt: »Die Ablösung der Herrschaft des Kapitalismus ist ein kulturgesellschaftliches Projekt. Dieses zielt darauf, den vom ökonomischen Kalkül regierten Bereich zu reduzieren und gleichzeitig den Bereich selbstbestimmter, selbstorganisierter Tätigkeiten auszudehnen, in denen sich menschliche Fähigkeiten frei entfalten können.« (Gorz 1994, 9)

Arbeitszeitverkürzung zielt auch darauf, die Macht über die Lebenszeit den Arbeitenden selbst zuzuweisen. Es geht um Zeitsouveränität. Oder anders ausgedrückt: um die Verfügungsgewalt über das eigene Leben. Letztlich geht es um ein gutes Leben. Der Kampf darum ist ohne Kämpfe um Zeit undenkbar.

Der Beitrag beruht auf einer Rede auf dem Symposium »Am Herrschaftsknoten ansetzen«, das am 15.3.2013 anlässlich des 75. Geburtstags von Frigga Haug in Berlin stattfand.