Zwar hat der Staat auch in der neoliberalen Phase eine entscheidende Rolle gespielt: mittels »Deregulierung« und direkten Eingriffen in einige strategische Sektoren. Die aktuelle Politik ist aber nicht nur als Fortsetzung und Intensivierung zu verstehen, sondern als qualitativer Sprung. Das zeigt der Autonomieverlust der Zentralbanken gegenüber den Regierungen wie auch die Quasi-Verstaatlichung eines Großteils der internationalen Finanzinstitutionen. Zwei Faktoren erschweren das Verständnis der Diskontinuität: Die Nutzung öffentlicher Ressourcen durch private Finanzinstitutionen verleitet viele zur Einschätzung, nichts habe sich verändert, weil »immer die Gleichen entscheiden«. Und die unvollendete politische und ökonomische Vereinigung Europas erweckt den Anschein, dass keine ›europäischen Schulden‹ gemacht werden, das Verhältnis von Ökonomie und Politik entsprechend unverändert ist. Der Einfluss des privaten Finanzwesens auf die Regierungen ändert nichts daran, dass sich das Finanzsystem ohne die politischen Entscheidungen zur Erhöhung der öffentlichen Schulden und der Geldmenge nicht hätte halten können. Dass es keine europäischen öffentlichen Schulden gibt, zeigt lediglich, dass Europa (und besonders Italien) nicht in der Lage ist, sich der Herausforderung der Veränderungen zu stellen. Es läuft damit Gefahr, ein zweitrangiger Akteur in der ökonomischen und geopolitischen Neuordnung zu werden. Auch die Politik der Bewegungen gegen den Neoliberalismus muss sich wandeln – und mit ihnen ihre Organisationsform (und die der mit ihnen verbundenen Parteien), ohne dass die Neuerungen der vergangenen Jahre aufgegeben werden. Zu den fruchtbarsten Neuerungen, die aus dem Zusammentreffen der (globalisierungskritischen) Bewegungen (»eine andere Welt ist möglich«) und klassischen marxistischen Parteien entstanden sind, gehört die Idee der partito connettivo (Partei als »verbindendes Gewebe«). Sie sollte die Vorstellung der klassischen Massenpartei überwinden, die zumindest im kapitalistischen Westen an ihr Ende gelangt war. Dies ist Ergebnis der Entwicklungen seit den 1960er Jahren, in deren Verlauf politische Sozialisation zunehmend außerhalb der Parteien stattfand: in Bewegungen, Vereinen, Gewerkschaften, in Zusammenschlüssen rund um die Informationstechnologie. Diese lösten sich zunehmend von den Massenparteien und forderten eigene, spezifische Politiken ein – teils bezogen auf Teilbereiche, manchmal grundlegend, manchmal als Ausdruck einer Kritik der Politik als solcher. Viele sahen nicht so sehr das Konzept der Massenpartei an sich als Ursache für ihre Entfernung von der Gesellschaft, sondern ihre Professionalisierung und Einbindung in den Staatsapparat. Entsprechend wurde die Lösung im Wiederaufbau neuer »wahrer« Massenparteien gesehen. Doch die Ursachen der Krise der Parteiform sind struktureller Natur: Sie hängen mit den veränderten Beziehungen der Einzelnen zur Politik zusammen und mit der Veränderung der »Zusammensetzung der Klasse«. Die gesellschaftlichen Konfliktpunkte und das zur Gestaltung und Veränderung der Gesellschaft notwendige Wissen haben sich vervielfältigt. Das typische »politische Wissen« der Massenpartei (kollektive Mobilisierung für allgemeine Ziele, Wahlkampf, top-down-Entscheidungen, Regierung und Verwaltung) kann diese Vervielfachung nicht mehr beherrschen. Sie führt zu Spezialsprachen und Mobilisierungen, die als Ein-Punkt-Bewegungen zumindest beginnen. Durch die Krise des sozialdemokratischen Projekts (und der Projekte, die sich links von ihm verortet haben) verstärken sich die Effekte. Die Massenpartei präsentierte sich als einziger Träger politischer Relevanz, sammelt die Aktiven in einer vertikalen Struktur und schlägt ihnen eine Aktion vor. Sie zielte fast ausschließlich auf die Transformation des Staates »von innen«. Mit den oben skizzierten gesellschaftlichen Veränderungen musste dieses Konzept in die Krise geraten. Die Idee der partito connettivo beschränkt sich darauf, ein Problem zu benennen, das unterschiedlich gelöst werden kann: durch ein loses und flexibles Netzwerk; oder es entwickeln sich Netzwerkknoten mit größerer Bindekraft. Die Vielfalt kann in einer Partei aufgenommen werden, die – formal einheitlich – so organisiert ist, dass verschiedene Formen von Teilhabe, Aktivität und Dissens vorgesehen sind. Oder sie kann die Form eines Zusammenschlusses von Parteien, Vereinen und Bewegungen annehmen. Schließlich kann die Bezeichnung partito connettivo dem Gesamt der verbundenen Subjekte zustehen, oder der Partei, die die Aufgabe der Verbindung übernimmt. Die partito connettivo ist im Kontext der Globalisierungskritiker entstanden, der viele Fortschritte ermöglicht hat – Entwurf einer demokratischen Alternative zum Kapitalismus, Erarbeitung partizipativer Mechanismen innerhalb der Organisationen, Aufbau einer Form des Dialogs bei der Gestaltung von Unterschieden. Aber er hat auch Grenzen. Diese Grenzen liegen in drei Vorstellungen, die sich als falsch erwiesen haben: 1 | Die Autonomie der Vereinigungen und der Parteien gegenüber dem Staat sei durch wohlklingende Erklärungen und ihre »Bewegungszugehörigkeit« garantiert; 2 | die Bewegung der Bewegungen sei Ausdruck der Bevölkerung; vielmehr repräsentiert sie nur eine »Elite« der Bevölkerung, die Zeit und Ressourcen besitzt, »uneigennützige« Organisationen zu gründen; 3 | die gesellschaftliche Veränderung bestehe in fortschreitendem und linearem Anwachsen einer Bewegung, die nach und nach dem Staat (und dem Kapital) Ressourcen entzieht und sie der Gesellschaft zuführt. So erscheint eine eigenständige alternative Konzeption von Regierung zu erarbeiten als nicht notwendig, weil man Regierungen ablehnt und sie mittels der eigenen – angenommenen – Beziehung zu den Massen »durchqueren« zu können glaubt. In der letzten Mitte-Links-Regierung zeigten sich diese Grenzen folgenschwer. Die »verbindende Partei« war schwach. Ich beziehe mich hier nicht auf die gescheiterte Regenbogenlinke Sinistra Arcobaleno (die nur ein Wahlbündnis bereits gescheiterter Parteien war), sondern auf den informellen politischen Pakt, der Rifondazione Comunista und die Bewegungen zu Beginn der Regierungsperiode verband. Ohne genaue Strategie und realistische Analyse der Regierungskoalition hat dieser Pakt zu einer Niederlage geführt und sich aufgelöst. Die Partei war nicht in der Lage, die Forderungen der Bewegungen »zu bündeln«, und war in einem bisher ungekannten Maße desorganisiert und innerlich zerrissen. Statt den Konflikt mit den neoliberalen Kräften in der Regierung zu suchen, haben sich die Bewegungsakteure fast ausschließlich auf lobbying und »Kooptierung« verlegt. Der schwächste und größte Teil der Bevölkerung hat sich zunehmend von der Partei, den Bewegungen und der Regierung abgewandt. Es war, als hätte das Bündnis, das die italienische »verbindende Partei« sein wollte, alle Nachteile (fehlende Koordination, ideologische Unbestimmtheit, programmatische Unsicherheit) ohne ihre Vorzüge vereint. Die Krise verändert alles, auch die Konstellation, in der die Idee der »verbindenden Partei« entstanden ist. Die Regierung (auch die nationale) nimmt an Bedeutung zu, da sie die großen Finanzressourcen mobilisiert und konzentriert. Jede »Streuung« der Ressourcen und der Macht nach unten ist nur möglich, wenn es gelingt, das »hohe« Entscheidungsniveau zu besetzen und zu transformieren. Keine politische Partei ist glaubwürdig, wenn sie nicht über einen eigenständigen, konkreten Regierungsvorschlag verfügt, der sofort umsetzbar ist (und das schon in der Opposition). Das Verhältnis von Regierung und Gesellschaft entfernt sich vom Modell der pluralistischen governance (das auf dem politischen Dialog basiert) und verwandelt sich in eine Mischung aus Lobby-Verhandlungen (die die großen Unternehmen bevorteilen) und Neo-Korporatismus (der die großen Interessenverbände privilegiert). Der Einfluss der NGOs schwindet. Angst und Arbeitslosigkeit schwächen breite Schichten. Besonders in den Ländern mit ungenügendem Wohlfahrtsstaat werden die unteren Klassen gedrängt, sich dem Schutz der Regierung zu unterstellen; das fördert Autoritarismus und Populismus. In dieser Situation muss die Partei der subalternen Klassen und der antagonistischen Bewegungen ihre Fähigkeit zur Führung mit Blick auf Regierungsübernahme entwickeln. Dafür muss sie von Führungskräften gebildet werden, die in den grundlegenden Fragen des Landes kompetent sind. Sie muss in der Lage sein, möglichst viele partikulare und veränderbare Ziele so in Einklang zu bringen, dass die Kräfteverhältnisse zum eigenen Vorteil verändert werden können.

EINE NEUE SOZIALE PARTEI

Die Partei muss sich in eine »soziale Partei« wandeln, d.h. mit größter Sorgfalt demokratische Verbände genossenschaftlicher Art auf den Weg bringen, die in der Lage sind, die unmittelbaren materiellen Bedürfnisse der Masse von Benachteiligten zu befriedigen. Diese Vereinigungen unterscheiden sich von den klassischen NGOs, weil sie ökonomische Vereinigungen gegenseitiger Hilfe darstellen, die in der Lage sind, die Abhängigkeit breiter Schichten von den Regierungen (und vom Populismus) zu mindern und so Voraussetzungen für einen möglichen gesellschaftlichen Konflikt schaffen können. Dabei unterscheidet sich die »soziale« und »führende« Partei nicht grundsätzlich von der »verbindenden Partei«. Politische Führung, Sozialisation und Vergesellschaftung kann nur von einer derartigen »verbindenden Partei« garantiert werden. Aktuell verfügt keine politische Partei und keine Parteiengruppe über das Ansehen und die Kompetenz, die politische Führung alleine auszuüben. Dies kann nur durch eine parteienübergreifende Gruppe gewährleistet werden, die sich aus Parteikadern, aber auch Gewerkschaften, Bewegungen und Verbänden zusammensetzt. Wie es die Idee der »verbindenden Partei« vorsieht, muss die Führungsgruppe plural sein. Sie darf sich nicht darauf beschränken, sprachlich und kulturell zu verbinden, sondern muss strategisch und taktisch Kräfte bündeln. Zudem können die genossenschaftlichen Institutionen, wenn sie breit wirksam werden sollen, nicht wie Vorfeldorganisationen der alten Massenpartei konzipiert sein. Vielmehr müssen sie autonom und ideologisch nicht festgelegt sein. Neue Formen demokratischer Vergesellschaftung können nur gefunden werden, wenn sich die demokratische »Elite«, die Begründer der globalisierungskritischen Bewegung, mit den breiten, ausgegrenzten Schichten verbinden. Die »soziale« und »führende« Partei bricht nicht mit den grundlegenden Vorstellungen der »verbindenden Partei« (soziale Heterogenität, sprachliche Vielfalt, Pluralität der Akteure), sondern entwickelt sie weiter. Die »verbindende Partei« beschränkte sich darauf, verschiedene Subjekte in Beziehung zu setzen, in der Annahme, dass ihr ständiges Wachsen genüge, um die Macht zu zerstreuen und zu dezentralisieren. Die »soziale« und »führende« Partei hingegen ist sich bewusst, dass die Regierungsübernahme qualitative Sprünge und Brüche in den Kräfteverhältnissen erfordert. Sie benennt gesellschaftliche Adressaten (die genossenschaftliche Vereinigung der verschiedenen gesellschaftlichen Schichten) und erarbeitet programmatisch, strategisch und taktisch stimmige Ziele. Wirklich ändern muss sich nicht so sehr die Vorstellung der »verbindenden Partei« oder die ihr zu Grunde liegende Analyse, sondern die abstrakte Art, in der Probleme angegangen werden. Wenn wir eine Parteiform aus einer bestimmten Gesellschaftsform ableiten, versuchen wir nur, uns der Gesellschaft anzupassen – ohne dass das wirklich gelingt. Dabei wird vergessen, dass die Anziehungskraft einer Partei nicht nur von ihrer Form, sondern vor allem von ihren Ideen abhängt. Die Partei ist nicht nur eine Organisation, sondern eine Idee, die Organisation wird. Vielleicht zwingt uns die Krise endlich, zuerst zu definieren, welche Gesellschaft wir aufbauen und für welche Ideen wir kämpfen wollen. Und erst danach die Partei zu formen, mit der wir das tun wollen. Aus dem Italienischen von Uwe Michel