Im letzten Jahrhundert standen das Automobil und seine Produktion im Zentrum von Wertschöpfung und Beschäftigung. Im 21. Jahrhundert könnte die Pflegeindustrie diesen Platz einnehmen. Schon heute arbeiten über eine Million Menschen in Krankenhäusern, darunter 487 000 Pflegekräfte – 47,3 Prozent in Teilzeit. Hinzu kommen weitere 427 000 im stationären und 215 000 im ambulanten Pflegebereich. Zum Vergleich: In der Automobilindustrie waren 2011 ungefähr 712 000 Menschen beschäftigt.
Vor diesem Hintergrund lohnt ein genauer Blick auf den Betten- und Stationsschließungsstreik der Charité-Beschäftigten im Jahr 2011. Ähnlich wie die Sitdown-Streiks in der Automobilindustrie in den USA der 1930er Jahre überwindet er strukturelle Hindernisse und setzt Potenziale für eine kollektive Organisierung lohnabhängiger Care-ArbeiterInnen frei: Er deckt die neue ökonomische Macht der Beschäftigten im neoliberalen Gesundheitssystem auf und mobilisiert die Pflegekräfte durch eine widerständige Artikulation ihres Pflegeethos.

Neue Produktionsmacht der Pflegekräfte

Die neoliberale Gesundheitsreform der letzten Jahre besteht im Kern in der Umstellung der Finanzierung des Gesundheitswesens auf Fallpauschalen – mit dem DRG (Diagnosis-Related-Group)-System. Zuvor erhielt ein Krankenhaus pro Patient eine Tagespauschale für jeden Krankenhaustag. Heute wird für jedes Krankheitsbild eine Fallpauschale berechnet. Streik im Krankenhaus war vor allem eine politisch-symbolische, weniger eine ökonomische Kampfform. Die Tagespauschalen wurden vom Staat an den lokalen Krankenhausbetreiber gezahlt – auch wenn gestreikt wurde. Streik bedeutete, dass die Gewerkschaft und der Arbeitgeber sich in einer Notdienstvereinbarung einigten, die Anzahl der Pflegekräfte auf Sonn- und Feiertagsniveau zu reduzieren. Ökonomischer Schaden entstand dem Krankenhaus kaum und die Pflegekräfte konnten kaum aktive Streiksubjekte werden.
Die Charité-AktivistInnen wussten diese Veränderungen zu nutzen. Sie organisierten ihren Streik so, dass keine neuen PatientInnen aufgenommen und frei werdende Betten nicht mehr belegt werden konnten. Nach fünf Tagen Vollstreik waren 1 500 von 3 300 Betten der Charité »gesperrt«. 90 Prozent der Operationen fielen aus und die Charité erlitt empfindliche Verluste. Wenige Jahre nachdem die Charité-Leitung aus dem Arbeitgeberverband ausgetreten war, um eine Absenkung der Löhne durchzusetzen, musste sie nun wesentlichen Forderungen der Pflegekräfte zustimmen: darunter der kompletten, wenn auch gestuften Angleichung an das Niveau des Flächentarifvertrags.

Die neoliberale Mobilisierung des ­Pflegeethos

Das Besondere dieses Streiks wird allerdings erst durch einen Exkurs über das Herrschaftsregime im heutigen Gesundheitssystem verständlich. Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen konkurrieren darum, Therapien so kostengünstig wie möglich anzubieten. Sie sparen vor allem bei der Verweildauer der PatientInnen und bei den Personalausgaben, während Investitionen in medizinisch-technische Ausstattung und Arzneimittel ständig ansteigen. Jede Einsparung bringt einer Einrichtung für das laufende Jahr zwar Gewinne, trägt aber gleichzeitig dazu bei, dass die Einnahmen mittelfristig sinken. Über Stichproben wird die Entwicklung der Kosten ermittelt und die Fallpauschalen für das DRG-System abgeleitet – Einsparungen von heute senken die Bemessungsgrundlage für morgen. Dass dieses System zu Problemen in der Gesundheitsversorgung führt, zeigt sich etwa im Phänomen der vorzeitigen – die Pflegekräfte sagen »blutigen« – Entlassungen. Kommt der Patient nach einem Tag wieder ins Krankenhaus, weil der Heilungsprozess nicht abgeschlossen ist, gilt er als neuer »Fall« mit neuen Prämien.
Besonders dramatisch sind die Entwicklungen für die Beschäftigten. Sie gelten als »Haupteinsparungsquelle«. Von 1991 bis 2009 sanken die in Vollzeit ­gerechneten Stellen von 334 890 auf 303 656 bei gleichzeitiger Steigerung der Fallzahlen um 25 Prozent. Die abnehmende Verweildauer kompensiert dies nicht (vgl. Braun u.a. 2011). Die massive Arbeitsverdichtung bringt Leid für Beschäftigte und PatientInnen.
Doch wieso ließen die Pflegekräfte das mit sich geschehen? Eine plausible Erklärung ist, dass in der Gesundheitsindustrie eine besondere herrschaftssichernde Form der Subjektivierung von Arbeit zu finden ist. Wird in der verarbeitenden Industrie durch Profitcenter innerhalb eines Unternehmens künstlich Konkurrenz geschaffen, werden im Gesundheitssektor einzelne Pflegeeinrichtungen privatisiert oder Zentren in einem Krankenhaus zu (teil)autonomen Einheiten erklärt, die dann gegen andere auf dem Markt bestehen müssen. Die Identifikation der Beschäftigten mit ihrem Beruf, das »Ethos fürsorglicher Praxis« (Senghaas-Knobloch 2008), kann so in besonderer Weise mobilisiert werden.
Exemplarisch wird dies anhand der Arbeitsbedingungen von Pflegekräften in einer privatisierten Pflegestation deutlich, die vorher Teil der Diakonie war. Seither sind die Löhne gesunken. Ein diakonisches Profil (viel Zeit für die PatientInnen, ganzheitliches Pflegeverständnis) ist den Beschäftigten zufolge über die normalen Krankenkassen, die jede pflegerische Einzelhandlung abrechnen (»Minutenpflege«), nicht mehr möglich. Nach der Privatisierung sei mit niedrigeren Löhnen mehr Personal finanzierbar gewesen (Kumbruk 2010, 191).
Dasselbe gilt, wenn im Krankenhaus einzelne Stationen miteinander um Patient-Innen konkurrieren. Jedes Team steht in der Verantwortung, die Pflege aufrechtzuerhalten. Auch dann, wenn die äußeren Bedingungen sich ständig verschlechtern. Diese Form der herrschaftskonformen Mobilisierung des Pflegeethos im Gesundheitssystem erklärt Adam Reich (2012) in Anlehnung an Arlie Hochschild mithilfe zweier Kategorien. Das misrecognized heart – das nicht anerkannte Herz: Die Beschäftigten nehmen das Pflegen als eine Behauptung der nicht-ökonomischen Teile ihrer Arbeit gegenüber den bürokratischen und marktbasierten Imperativen des Pflegebetriebes wahr. Alternativ oder ergänzend funktioniere das martyred heart – das Märtyrer-Herz: Die Beschäftigten erhalten aus der intrinsischen Motivation ihrer Arbeit eine so große Befriedigung, dass diese als Ersatzanerkennung wahrgenommen wird. Das Paradoxe dieser Handlungsstrategien ist, dass sie den Verhältnissen dienen, gegen die sich die Beschäftigten aufzulehnen meinen. Gute Pflege gegen die Anforderungen von Bürokratie und Markt aufrechtzuerhalten, mag sich für die Beschäftigten wie ein widerständiger Akt anfühlen. Durch das Krankenhausmanagement wird dies ausgenutzt.
Reich sieht jedoch noch eine dritte Artikulation des Pflegeethos: das mobilized heart, das mobilisierte Herz, bei dem die hohe Identifikation mit der eigenen Arbeit auch der Grund ist, für die eigenen Interessen, die Interessen der Mitbeschäftigten und die der PatientInnen einzutreten. Sie erkennen, dass sie gute Pflege nur leisten können, wenn sie selbst ihre Position im Krankenhaus verbessern. Eine solche widerständige Artikulation des Pflegeethos ist den Beschäftigten der Charité gelungen.

Mobilized heart – Pflegeethos im Streik

Früher scheiterten Streiks oft an der Mobilisierung des Pflegeethos. »OPs lahmlegen und die Arbeiterbereiche auf die Straße bringen, war die traditionelle Streikstrategie«, so ein Streikaktiver. Die Pflegekräfte fühlten sich »in Geiselhaft der Patienten«. Die Folgen für die Streikbeteiligung beschreibt ein Vertrauensmann: »Die Arbeitgeber wissen ja ganz genau, wer streikt. Und die haben natürlich gesehen, dass die Stationspflege im Wesentlichen in ihrer Freizeit da draußen ist.«
Die Charité-AktivistInnen entwickelten nun ein Konzept, das auf dieses Problem reagierte: »Einmal hast du Patienten da, die kannst du nicht wegzaubern. Andere Bereiche können ihre Maschinen abschalten und dann ist es das […], weil da kommt niemand zu Schaden. Aber wir haben erst mal die Patienten da. Die kann man nicht wegzaubern, sondern die muss man wegstreiken.«
Das Konzept des »Wegstreikens« setzt am Verantwortungsbewusstsein der ­Beschäftigten an. Für den Fall, dass die Beschäftigten einer Station beschlossen, eine gewisse Anzahl an Betten oder eine ganze Station zu bestreiken, sah die mit der Charité getroffene Notdienstvereinbarung vor, dass ein einzelnes Bett innerhalb von drei Tagen oder die gesamte Station innerhalb von sieben Tagen von PatientInnen geräumt werden musste.
Diese Vereinbarung konnte wiederum nur erreicht werden, weil schon im Vornherein einige Stationen ihre Entschlossenheit zum Streik erklärt und so Druck aufgebaut hatten. Die Qualität des Arbeitsprozesses im Krankenhaus, in dessen Zentrum der Patient und seine Gesundung steht, verpflichtet Management und Beschäftigte gleichermaßen. Der ethische Druck des Patientenwohls konnte also genutzt werden, um diese Notdienstvereinbarung zu erzwingen. Was bisher eine Selbstbeschränkung streikender Belegschaften war, wurde hier auf den Kopf gestellt und gab den Pflegekräften die Möglichkeit, ihre Arbeitsethik nicht länger als Restriktion, sondern als mobilisierende Ressource im Streik zu nutzen.

Mehr als eine Technik

Der Betten- und Stationsschließungsstreik sollte jedoch nicht nur als technische Innovation im Arbeitskampfbaukasten missverstanden werden. Ihm liegen viele Prozesse zugrunde, die seine Entwicklung erst ermöglichten:
Es gelang den ver.di-Aktiven, die hochqualifizierten IntensivpflegerInnen, die nur knapp zehn Prozent der Belegschaft ausmachen, langfristig als MitstreiterInnen zu gewinnen. Aufgrund des Fachkräftemangels sind sie in einer arbeitsmarktpolitisch günstigen Lage und wissen oft als einzige, mit den hochkomplexen, aber auch hochprofitablen Maschinen der Apparatemedizin umzugehen. Bestrebungen, den ärztlichen Beruf zu dequalifizieren, indem seinem Tätigkeitsprofil immer mehr Teilaspekte entzogen und an Pflegekräfte delegiert werden, tragen zu einer Aufwertung der Intensivpflege bei. Dies bildet eine objektive Grundlage für das Selbstbewusstsein der Pflegekräfte und ermutigt sie, das extrem hierarchisch strukturierte Krankenhaus durch einen Streik lahmzulegen. Die Notdienstvereinbarung beinhaltet eine weitgehende ›Hierarchieumkehr‹. Die ›Halbgötter in Weiß‹, in der Hierarchie eigentlich oben, wurden damit konfrontiert, dass die Pflegekräfte in der Streikleitung festlegten, welche der Operationen unaufschiebbar waren und welche abgesagt werden konnten.
Selbstbewusstsein, strategische Kreativität oder schlichtweg Mut – im Zentrum des Streikerfolges steht eine besondere Gruppe von ver.di-AktivistInnen. Ohne Berücksichtigung dieses subjektiven Faktors und der Entwicklungsbedingungen für SchlüsselaktivistInnen gewerkschaftlicher Organisierung sind die Erfolge nicht zu verstehen. Wichtige Elemente der lokalen Gewerkschaftskultur können hier nur skizziert werden: Die ver.di-Gruppe entwickelte sich als Lern- und Experimentierraum. Durch den Austritt des Arbeitgebers aus dem Flächentarifvertrag auf sich allein gestellt, probierten die AktivistInnen immer wieder neue Organisierungsansätze und profitierten davon, dass sie diese gleich in der Praxis testen konnten, statt auf langwierige Lern- und ­Verallgemeinerungsprozesse in der Gewerkschaft angewiesen zu sein. Neue Aktive konnten sich so schnell mit ihren Fähigkeiten einbringen, was wiederum deren Einbindung beförderte. Viele der heutigen AktivistInnen waren erst 2011 am ersten Streiktag in die Gewerkschaft eingetreten, bewährten sich dann in der Streikleitung und manche wurden bereits ein Jahr später in den Personalrat gewählt.

Bündnis Beschäftigte-Patienten

2013 betritt ver.di an der Charité abermals Neuland. Erstmals wird hierzulande eine Tarifbewegung begonnen, die sich gegen den Personalmangel in Krankenhäusern wendet. Zu den Kernforderungen gehören feste Quoten von Beschäftigten zu PatientInnen für Intensiv- und Normalstationspflege. Um das durchzusetzen, soll der Arbeitgeber bei Unterschreitung dieser Standards zu drastischen Strafzahlungen an die Arbeitenden verpflichtet werden. Diese qualitative Forderung kann ein Bündnis von Beschäftigten, PatientInnen und BürgerInnen ermöglichen. Wenn die systematische Unterbesetzung so teuer wird, dass es für den Arbeitgeber wieder billiger wird, mehr festes Personal einzustellen, profitieren PatientInnen, weil die Pflegekraft wieder mehr Zeit für sie hat – sei es nun für das sichere Händewaschen oder ein beruhigendes Gespräch am Krankenbett. Nicht mehr genügend Zeit für umfassende, ganzheitliche Pflege zu haben, wird von Pflegekräften immer wieder als einer der Hauptgründe für Unzufriedenheit im Beruf angegeben (vgl. Bartholomeyzik u.a. 2008, Braun u.a. 2011). Personalmangel zum Gegenstand einer ­Tarifbewegung zu machen, birgt das ­Potenzial, das Arbeitsethos der Pflegekräfte anzusprechen, und könnte gleichzeitig zum Vorbild für andere ­sorgetätige Beschäftigte und ihre Gewerkschaften werden.
Die politische Konjunktur für eine solche Tarifbewegung ist günstig. Als im Dezember 2012 ein bundesweit beachteter Fall von Serratienkeimbefall in der Charité für viel Aufmerksamkeit sorgte, stellten die Charité-AktivistInnen den Zusammenhang zwischen Hygiene und Personalmangel her. Dies wurde medial aufgegriffen und große Teile der Öffentlichkeit diskutierten die Hygienekrise als Personalmangelkrise. Diese Argumentation kann in der Tarifbewegung neu aktiviert werden. Unabhängig davon forderte bereits eine Elterninitiative auf der Kinderkrebsstation mehr Personal. Einer Streikbewegung für mehr Personal wäre große mediale Aufmerksamkeit sicher. Die machtvolle Selbstmobilisierung schafft eine Arena, in der Beschäftigteninteressen und universelle Gesundheitsinteressen der PatientInnen wie der Gesamtgesellschaft sich wechselseitig verstärken können. Damit besteht die Chance, mobilisierte Beschäftigtenmacht auf der betrieblichen Ebene für einen Hegemoniekampf um das Gemeingut Gesundheit in der Gesellschaft zu nutzen.
Mit dem Betten- und Stationsschließungsstreik haben die Beschäftigten eine Aktionsform gefunden, die ökonomische Durchschlagskraft mit der Mobilisierung des spezifischen Arbeitsethos der Pflegekräfte verbindet. Die nun aufgestellte Forderung nach einer festen Patienten-Personalquote ergänzt dies perfekt, da sie die gesamte neoliberale Finanzarchitektur des DRG-Systems in Frage stellt und weiteren Personaleinsparungen und Arbeitsverdichtungen einen Riegel vorschiebt. Inwiefern die besondere Kampfform des Betten- und Stationsschließungsstreiks und die Forderung nach Mindestbesetzung auf den gesamten Bereich der lohnabhängigen Care-ArbeiterInnen übertragbar wäre, kann heute nicht abgeschätzt werden. Einen Versuch wäre es allemal wert.