Mit ihr könnte 22 Jahre nach der PinochetMilitärdiktatur Chiles Gesellschaftsmodell neu bestimmt werden. Diese Entwicklung ist auch Ergebnis der Schüler- und Studierendenproteste und ihrer Verbündeten, die mittlerweile ins zweite Jahr gehen.

Die Wiederkehr der Bildungsproteste 2012

Die Proteste der Jugendlichen begannen im April 2011. Sie richten sich gegen das teure und weitgehend privatisierte Bildungssystem. Mehr als die Hälfte der SchülerInnen und Studierende besuchen private Einrichtungen. Durchschnittlich kostet eine Hochschulausbildung rund 5000 Euro im Jahr. Chile hat damit – gemessen am Einkommen – die weltweit höchsten Studiengebühren. Dies ist ein Erbe der Militärdiktatur (1973–1990), die das Land in ein Labor für radikale neoliberale Reformen verwandelt hatte. Den Protesten der Studierenden schlossen sich Eltern und Großeltern, Gewerkschaften, darunter der Dachverband Central Unitaria de Trabajadores (CUT), Lehrpersonal, RektorInnen, KünstlerInnen und Intellektuelle an. Durch regelmäßige Großdemonstrationen, kreative Aktionen und Besetzungen von (Hoch-)Schulen im ganzen Land war das Thema in den Medien ständig präsent. Umfragen zufolge sympathisierten Mitte 2011 acht von zehn ChilenInnen mit dem Anliegen der Proteste, während der Präsident auf 26 Prozent Zustimmung abstürzte. Die Regierung sah sich schließlich gezwungen, Reformen vorzuschlagen. Sie wurden unter anderem von der Confech, dem Dachverband der Studierendenvertretungen von rund 30 Universitäten, als unzureichend abgelehnt. Zwei Erziehungsminister räumten 2011 nacheinander ihren Posten. Doch bis zum Beginn der chilenischen Sommerferien (der hiesige Winter 2011/2012) erzielte die Bewegung keine Erfolge in ihrem Sinne: Die Regierung stellt zwar mehr Geld für Stipendien zur Verfügung, hat zwei Behörden zur Überwachung und Sanktionierung des Profitstrebens im Bildungswesen initiiert sowie die obszönsten Bildungskredite mit Zinssätzen bis zu sechs Prozent abgeschafft. Auch eine Anhebung der Unternehmensbesteuerung von 17 auf 20 Prozent sowie eine Erhöhung des Mindestlohns von monatlich umgerechnet rund 307 Euro auf 325 Euro lassen sich als Reaktion auf ein verändertes politisches Klima lesen. Doch hält das Kabinett Piñera an der Privatisierung der Bildung fest und sträubt sich gegen den Auf- und Ausbau eines öffentlich finanzierten Schul- und Hochschulwesens für alle. Die Regierung hoffte, die Proteste würden 2012 nachlassen. Seit Mai gab es zwar wieder mehrere Großdemonstrationen, aber die Mobilisierung ist deutlich weniger intensiv. Damit zieht die Bewegung eine Lehre aus dem Kräfteverschleiß von 2011, als viele Jugendliche ein Ausbildungsjahr verloren und monatelang darum kämpfen mussten, an ihren Schulen wieder zugelassen zu werden. Trotzdem haben die Proteste nichts von ihrer gesamtgesellschaftlichen Symbolkraft eingebüßt. Sie zeichnen sich durch ihre Reichweite und Radikalität aus. Der Bewegung gelang es, einen generellen Unmut in großen Teilen der Gesellschaft zu politisieren. Die SprecherInnen der unterschiedlichen politischen Strö- mungen konnten deutlich machen, dass die zunehmende Ungleichheit und die Bereicherung weniger nicht nur ein Problem innerhalb des Bildungssystems sind, sondern die ganze Gesellschaft durchziehen. Tatsächlich erfahren dies viele ChilenInnen im Alltag: sei es im heruntergewirtschafteten öffentlichen Gesundheitssystem, bei den Pensionsfonds, im privatisierten öffentlichen Nahverkehr, bei den eingeschränkten Möglichkeiten zur politischen Beteiligung oder auch im zunehmend schuldenfinanzierten Massenkonsum. Radikal ist die Bewegung, weil Konsens ist, dass die Fundamente der Gesellschaft verändert werden müssen. Dazu zählen die aus der Diktatur geerbte Verfassung, das Wahlsystem,das zur Blockbildung im Parlament führt und kleine Parteien benachteiligt, und die hohen 4/7-Mehrheiten in beiden Kammern des Parlaments, die nötig sind, um die sogenannten 18 leyes orgánicas zu ändern. Diese sind Gesetze mit Verfassungsrang, die Kernbereiche der Gesellschaft regulieren, darunter die Bildung, die Bergbaukonzessionen, die Streitkräfte und das Wahlsystem. Entscheidend für den Erfolg der Bewegung ist, dass sie sich bisher nicht gespalten hat. Die wichtigsten Strömungen, die Izquierda Autónoma, die Kommunisten sowie die Nueva Acción Universitaria, stimmen ihre Aktionen und Reformvorschläge ab. Dennoch musste sich die Bewegung Ende 2011 neue Strategien überlegen. Auf Versammlungen der Confech und gemeinsam mit den Schüler-Organisationen der Sekundarstufe verständigte man sich über das weitere Vorgehen. Vereinbart wurde, die Mobilisierungen weiterzuführen, das Bündnis zu vertiefen und ein Reformprogramm zu erarbeiten. Vorschläge für eine Steuerreform, einen Umbau des Bildungssektors und eine Wiederverstaatlichung der Kupfervorkommen (die sich zu 60 Prozent in privaten Händen befinden) liegen bereits vor. Die Confech konnte auch ihre Kooperation mit den SchülerInnen und mit Studierendenvertretungen privater Universitäten ausbauen. Viele von ihnen organisieren sich bereits dort und tragen die Proteste mit. Doch es bleiben auch Differenzen zu klären, beispielsweise darüber, wie der Ausbau eines öffentlichen Bildungssektors mit der privaten Hochschullandschaft vereinbar wäre. Auch außerhalb des Bildungssektors geht die Bewegung neue Bündnisse ein. So solidarisierten sich die SchülerInnen und StudentInnen mit den landesweiten Protesten der Fischer gegen ein neues Gesetz, das große Fischereimonopole bei den Fangquoten extrem bevorteilt. Ob sich die Zusammenarbeit mit dem Gewerkschaftsdachverband CUT vertiefen wird, ist noch offen. Er wird nun von Bárbara Figueroa geführt, die im August den zwölf Jahre amtierenden Arturo Martínez von der Sozialistischen Partei ablösen konnte. Figueroa, Mitglied der Kommunistischen Partei (PC), trat auf einer Liste mit Cristián Cuevas an, dem Chef der Kupferarbeitergewerkschaft CTC. Vor allem Cuevas hat Martínez und seine Anhänger immer wieder scharf wegen Intransparenz, Manipulation bei den Gewerkschaftswahlen und des nicht ausreichenden Schulterschlusses mit den sozialen Bewegungen angegriffen. Vorsichtig optimistisch ist zu erwarten, dass Figueroa mehr Nähe zu den sozialen Bewegungen herstellen wird. Wie sie jedoch die Spannungen innerhalb des CUT austarieren wird und ob sie dort für mehr Demokratie sorgen kann, bleibt abzuwarten. Zwar steht ihr Sieg für einen Linksruck innerhalb des CUT – dieser ist jedoch immer noch von den Ränkespielen der Parteien durchzogen. Den SchülerInnen und Studierenden spielte derweil bei ihren Protesten 2012 in die Hände, dass der Missbrauch im Bildungssystem nicht mehr unter den Teppich zu kehren ist. Im Mai beherrschte ein Skandal an der privaten Universidad del Mar wochenlang die Medien: Die Besitzer der Universität hatten ihren Angestellten und Lehrkräfte seit Monaten umgerechnet rund 800000 Euro an Löhnen und Sozialbeiträ- gen vorenthalten, sich aber selbst rund eine Million Euro aus den Einnahmen der Uni ausgezahlt. Nur wenig später präsentierten die StudentInnen eine Studie der Journalistin María Olivia Mönckeberg über die personellen Verflechtungen zwischen den privaten Uni-Konsortien und der politischen, vor allem rechten Klasse. Fast zeitgleich erschien auch der Bericht einer parlamentarischen Untersuchungskommission unter Vorsitz der Opposition. Er arbeitet zum ersten Mal die Auswirkungen der Privatisierungspolitik auf und dokumentiert das völlige Versagen staatlicher Kontrollinstanzen unter anderem in der Frage, ob die Hochschulen Gewinne erwirtschaften. Denn das ist offiziell verboten.

Politisierung der Legitimationskrise

Die Bewegung hat bereits einen wichtigen Sieg errungen: Sie hat maßgeblich zur Delegitimierung des politischen Repräsentationssystems beigetragen. Das zeigen auch die Ergebnisse der Kommunalwahlen vom 28. Oktober, bei denen die Wahlenthaltung über 60 Prozent erreichte. Die rechte Parteienallianz verliert immer weiter nicht nur an Vertrauen, sondern auch an Posten. Die Bewegung hat diese Legitimationskrise nicht nur sichtbar gemacht und verstärkt, sondern auch politisiert. Die Proteste stehen damit auch für die erfolgreichere Wiederaufnahme der SchülerInnenproteste der Pinguinos von 2006. Damals stellten die Jugendlichen, viele von ihnen studieren heute, zum ersten Mal den Postdiktaturkonsens in Frage, indem sie für die Abschaffung der Bildungsgesetze aus der Pinochet-Zeit stritten. Dieser ehemalige Konsens wird nun von unterschiedlichsten Gruppen aktiv in Frage gestellt. Vertrauen gewinnen dabei die sozialen Bewegungen und Teile der Zivilgesellschaft, die sich in Versammlungen (Asambleas) organisieren (vgl. LuXemburg 4/2011, 140ff). Die StudentInnen und SchülerInnen sind dabei nicht die einzige Gruppe. Auch die quer durch alle Alters- und Berufsgruppen getragenen Proteste und Organisierungsprozesse der BewohnerInnen der weit abgelegenen Regionen Magallanes, Aysén, Calama oder Freirina in den vergangenen Monaten sind dafür ein Beispiel. Ein weiteres sind die Organisierungsprozesse der Angestellten des öffentlichen Gesundheitssektors oder auch der Forstarbeiter sowie der indigenen Mapuche. Neu ist, dass sich diese Gruppen zum Teil nun auch untereinander koordinieren, statt wie früher einzeln Forderungen an die Regierung zu richten. Der chilenische Historiker Gabriel Salazar (2012) kommentiert die Entwicklungen folgendermaßen: »In Chile gibt es derzeit mindestens sieben regionale Bürgerversammlungen (Asambleas Ciudadanas Regionales, Anm.d.Red.), die nicht in der Verfassung vorgesehen sind. Trotzdem verhandelt die Regierung mit ihnen. Es gibt hunderte solcher Versammlungen auf kommunaler Ebene oder in Stadtteilen. Es sind Orte, an denen Forderungen und Alternativvorschläge entwickelt werden. Wir sehen eine zweite Macht entstehen.«

Antworten der Regierung

Die Regierung begegnet den Protesten der Jugendlichen mit einer Mischung aus Überforderung, Hinhaltetaktik, den bereits erwähnten Reformen und Repression. Vermeintlich gewalttätige Proteste dienen ihr als Begründung, um zu versuchen, ein Gesetz zur öffentlichen Ordnung durch das Parlament zu peitschen. Das Ley Hinzpeter, benannt nach dem ehemaligen Innenminister Rodrigo Hinzpeter, definiert neue Straftatbestände und zielt auf die Kriminalisierung der Bewegung. Mit Haft zwischen anderthalb und drei Jahren kann danach bestraft werden, wer etwa den Verkehr unterbricht oder öffentliche oder private Einrichtungen besetzt, aber auch, wer zu nicht angemeldeten Demonstrationen oder Besetzungen aufruft. Das zielt auf die SprecherInnen der Studierenden- und SchülerInnenverbände. Auch schwere Misshandlungen und sexuelle Übergriffe auf StudentInnen und minderjährige SchülerInnen in Polizeigewahrsam sind vielfach belegt.

Ruf nach einer Verfassunggebenden Versammlung

Doch trotz der Repression hat sich die Diskussion über eine Asamblea Constituyente (Verfassunggebende Versammlung) und grundlegende Reformen des politischen Systems ausgebreitet. Sie kreist derzeit um die Frage, wie solche Forderungen durchzusetzen wären. Eine Verfassunggebende Versammlung müsste dabei die größtmögliche Beteiligung aller Bevölkerungsschichten und Regionen des Landes garantieren. Dieser Diskussion können sich auch die Medien sowie die Parteien im Parlament nicht mehr entziehen. Die Reaktionen reichen von schriller Hysterie der Rechten bis hin zu Äußerungen der Concertación, die anschaulich illustrieren, warum nach 20 Jahren auch das Mitte-Links-Parteienbündnis desavouiert ist und mit Zustimmungsraten um die 20 Prozent herumdümpelt. So lehnte Camilo Escalona, sozialistischer Politiker und Präsident des chilenischen Senats, eine Verfassunggebende Versammlung mit der Begründung ab, es gebe keine Krise der Institutionen. Escalona steht für eine verbreitete Haltung in der Concertación: die Unfähigkeit, sich kritisch mit dem Ausmaß der eigenen Delegitimierung und den Gründen dafür auseinanderzusetzen. 1990 habe man nicht anders als in Übereinkunft mit der Rechten und dem abgedankten Pinochet regieren können, heißt es. Daran ist für die ersten Jahre der Postdiktatur viel wahr. Es stimmt aber auch, dass, kaum an der Macht, die Concertación aufgehört hat, sich auf die Kraft des Widerstands zu beziehen, der die Diktatur zu Fall brachte. Mehr noch: Sie hat die neoliberalen Reformen der Pinochet-Diktatur in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen vertieft (Wasser, Kupfer, Elektrizität, Bildung). Angesichts des Drucks von unten gerät auch das Parlament in Bewegung. Die Rechte versucht, die Forderung nach einer Verfassunggebenden Versammlung auszubremsen, indem sie maximal eine Reform des binominalen Wahlsystems als möglich erachtet. Andere Politiker begrüßen eine neue Verfassung, wollen sie aber nur im Parlament debattieren und verabschieden. Politiker der Partido por la Democracia (Partei für Demokratie, PPD) wiederum haben mit Unterstützung zivilgesellschaftlicher Gruppen wie der Iniciativa por una Asamblea Constituyente eine Gesetzesinitiative eingereicht, um zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2013 eine »vierte Urne« aufzustellen. Dort sollen die Wähler entscheiden, ob sie für oder gegen die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung sind. Es ist aber fraglich, ob das Projekt die nötigen Stimmen erhält. Die Proteste bringen auch Bewegung in die Parteienbündnisse. So präsentierte sich die PPD zusammen mit der Partido Radical Social Demócrata (Radikale Sozialdemokratische Partei, PRSD), beide Teil der Concertación, sowie der PC und der neu gegründeten Izquierda Ciudadana (Linke Bürgerbewegung) als Bündnis unter dem Namen »Por un Chile Justo« (»Für ein gerechtes Chile«) zu den Kommunalwahlen am 28. Oktober. Diesen »Linksruck«, so das Bündnis, wollen die Parteien auch in die Concertación tragen. Sie soll sich thematisch und von den Koalitionspartnern her nach links öffnen. Ob und wie die großen Parteien der Concertación, die Sozialistische Partei sowie die Christdemokraten, dabei mitspielen, ist ungewiss. Das Liebäugeln der Kommunistischen Partei mit einer Aufnahme in die Concertación sorgt jedoch bereits für harsche Kritik seitens der studentischen Strömung der Izquierda Autónoma. Jenseits einer Anbindung an einen großen Parteienblock hätte das Bündnis »Chile Justo« aber wegen des Wahlsystems kaum Aussicht auf eine Vertretung im Parlament. Das zeigt, wie begrenzt in Chile die Möglichkeit ist, dass sich im Parlament eine unabhängige und starke linke Opposition formiert. Die sozialen Bewegungen müssen angesichts der Wahlen 2013 und der Entwicklungen im parteipolitischen Spektrum ihre Positionen neu definieren. Trotz der harschen Kritik an der politischen Klasse Chiles und der Beschränktheit des parlamentarischen Systems kommt es auch aus ihren Reihen zu Parteigründungen. So hat die Izquierda Ciudadana neben PolitikerInnen aus dem linken Spektrum der sozialistischen Partei und Ex-Ministern aus der Zeit Salvador Allendes auch studentische AktivistInnen in ihren Reihen. Giorgio Jackson wiederum, der 2011 Sprecher des Studierendenverbandes FEUC der Universidad Católica de Chile war, hat die Revolución Democrática (Demokratische Revolution) gegründet, eine Bewegung, die den Weg in die Parlamente nicht ausschließt. Für die Kommunistische Partei will Camila Vallejo zur Parlamentswahl antreten, während ihr Parteikollege und Ex-Sprecher des Studierendenverbandes FEUSACH der Universidad de Santiago, Camilo Ballesteros, bereits – ohne einen Posten zu gewinnen – zu den Kommunalwahlen ins Rennen ging. Die SchülerInnenbewegung Asamblea Coordinadora de Estudiantes Secundarios (ACES) rief hingegen unter dem Slogan »Yó no presto el voto« (»Ich gebe meine Stimme nicht her«) zum Wahlboykott und zu Protestaktionen anlässlich der Kommunalwahlen auf. Ein Vorgehen, das die anderen Akteure der Bewegung akzeptierten, aber nicht teilten. Diese unterschiedlichen Positionen sowie Versuche, die Forderung nach einer Verfassunggebenden Versammlung zu instrumentalisieren, markieren das Spannungsfeld, in dem sich die Bewegung orientieren muss. Hoffnungen, mit einem Gang durch die Institutionen einen Wandel herbeizuführen, erscheinen dabei wenig gerechtfertigt. So stellen der Soziologe Carlos Ruiz und der studentische Aktivist Francisco Figueroa (2012) treffend fest: »Die Gefahr der Instrumentalisierung und Desartikulation der sozialen Bewegung ist offenkundig. [...] Es braucht neue Strategien der Transformation. Sie können nicht darin bestehen, die ganze Kraft in den Kampf um die Kontrolle des Staates zu lenken.«  

Literatur

Ruiz, Carlos, und Figueroa, Francisco, 2012: Izquierda para qué, www.nodoxxi.cl/izquierda-para-que Salazar, Gabriel, 2012: Es entsteht eine zweite Macht, in: Lateinamerika Nachrichten 457/458, 16f

Anmerkungen

1 Das binominale Wahlsystem funktioniert nach dem Mehrheitswahlrecht. Nur zwei KandidatInnen pro Wahlkreis erhalten einen Sitz im Parlament, in der Regel die Liste mit den meisten und die mit den zweitmeisten Stimmen. Beide Sitze erhält eine Liste nur, wenn sie doppelt so viele Stimmen erreicht wie die zweitplatzierte Liste, was selten vorkommt. So stellen Regierung und Opposition fast immer eine gleich große Zahl an Abgeordneten und sind für Gesetzesinitiativen darauf angewiesen, zu kooperieren. Ein zweiter Effekt ist die Gruppierung der Parteien in zwei große Blöcke. Kleinere Parteien außerhalb dieser Blöcke haben keine Chance, in das Parlament einzuziehen. 2 In Magallanes, im kalten Süden Chiles, ging die Bevölkerung gegen die Streichung der Gassubventionen auf die Straße. In Aysén, ebenfalls im Süden, stritt sie u.a. für eine bessere Gesundheitsversorgung, eine öffentliche Universität und die Abschaffung des neuen Fischereigesetzes. In Calama und anderen Wüstenstädten im Norden protestierten die AnwohnerInnen gegen die mangelnde Beteiligung an den Gewinnen des Kupferabbaus. In Freirina legten sie eine stinkende Schweinemastanlage kurzerhand durch Straßenblockaden lahm. Die Regierung musste in allen Fällen reagieren. Vor allem in Magallanes und Aysén tat sie es zuerst mit scharfer Repression. Schließlich war sie gezwungen, Verhandlungen aufzunehmen. Allerdings hält sie die Bevölkerung in diesen hin.