Dieser Beitrag schließt an diese Überlegungen an und setzt sich mit Queer-Feminismus in der Bewegung für Ernährungssouveränität auseinander. Unser Schwerpunkt ist es einerseits, zu fragen, ob und inwiefern queer-feministische Aspekte und Lebensrealitäten in der bäuerlichen Bewegung für Ernährungssouveränität mitgedacht werden und andererseits, Genderfragen vor dem breiteren Hintergrund der landwirtschaftlichen Praxis zu reflektieren. Dabei ist es uns ein Anliegen, für eine Anerkennung zu argumentieren, die über Repräsentationspolitiken hinausgeht. Wir möchten darüber hinaus aufzeigen, wie die Landwirtschaft, der ländliche Raum und die Praxis auf dem Acker nach wie vor durch stereotype Gendervorstellungen diskursiviert und überlagert werden, und dass dieses hegemoniale und vereinheitlichende Bild weder allen Lebensrealitäten auf dem Land, noch dem subversiven Charakter der Bewegung gerecht wird. Somit soll dieser Artikel auch deutlich machen, dass eine queer-feministische Sichtweise den Kampf für Ernährungssouveränität vertiefen und erweitern kann. Kritisch werden wir hierbei vor allem den Umstand beleuchten, dass heteronormative Vorannahmen und essentialistische Vorstellungen von Geschlechteridentitäten immer wieder „die Natur“ als Referenzpunkt nutzen. Diese Verknüpfung von angeblichen „natürlich“ Gegebenem nimmt selbstverständlich gerade vor dem Hintergrund von Landwirtschaft und ländlichem Leben einen besonderen Stellenwert ein. Hierfür werden wir an feministische Diskurse anknüpfen, diese jedoch auch teilweise durchkreuzen bzw. weiterführen. Wir wollen besonders hervorheben, dass eine queer-feministische Perspektive nicht als eine Ergänzung einer feministischen Perspektive (die zum Teil auch oder sogar sehr stark mit in der Natur verorteten Geschlechterbinaritäten arbeitet) verstanden werden sollte, sondern vielmehr jene darin zum Teil wirkmächtigen Dichotomien überwinden und dem feministischen Projekt so eine neue Ausrichtung geben kann. Trotz Kritik an einigen feministischen Argumentationslinien fühlt sich eine queer-feministische Perspektive dem feministischen Projekt tief verbunden. Denn eine queere Perspektive bedeutet immer auch ein Durchkreuzen der patriarchalen Machtverhältnisse und die Stärkung der Frauen* scheint gerade im landwirtschaftlichen Kontext nach wie vor unabdingbar (vgl. Wichterich in LuXemburg 1/18).
Wer ist „die“ Bewegung? Jenseits der Natürlichkeit
Auch wenn nur die Frage der Repräsentation betrachtet wird, fehlt in der Bewegung für Ernährungssouveränität die Anerkennung von LGBTIQ* Personen. So werden etwa Frauen* in der Erklärung von Nyéléni auf Grund der vorherrschenden patriarchalen Geschlechterverhältnisse extra erwähnt. Personen, die nicht den heteronormativen Geschlechts- und Lebensentwürfen entsprechen, werden jedoch nicht explizit angesprochen. Dadurch werden sie nicht nur unsichtbar gemacht. Es wird auch eine intersektionale Perspektive erschwert, die die Analyse von Mehrfachdiskriminierung ermöglichen würde.
In der fehlenden Extrabenennung und mangelnden Sichtbarmachung der Sonderstellung von LGBTIQ*-Personen auf dem Land und in heteronormativ organisierten Gesellschaften sehen wir eine Lücke, die die Bewegung schließen sollte. Wie Kelli Manford eingangs deutlich machte: Die „LGBT-Community“ ist längst in der Bewegung aktiv. Ihr fehlt jedoch noch der Raum, um sich angemessen artikulieren zu können.
Selbstverständlich kann eine solche Nichtbeachtung nicht einfach durch ein Benennen von LGBTIQ*-Personen in offiziellen Verlautbarungen behoben werden. Akzeptanz und Sichtbarkeit, die über Repräsentation hinausgeht, setzt aber diesen Schritt voraus oder muss zumindest damit einhergehen.
Diese Lücke wird nicht nur innerhalb der bäuerlichen Bewegung sichtbar, sondern zeigt sich auch in der bäuerlichen Praxis. Nach unseren Erfahrungen wird diese Lücke auch heute im bäuerlichen Alltag in Deutschland immer wieder reproduziert.
Deshalb wollen wir zeigen, dass eine queere Perspektive auf Ernährungssouveränität das Konzept und die Bewegung verstärken, verfeinern sowie die kritische Ausrichtung vertiefen kann – gerade weil Ernährungssouveränität auch die sozial-ökologischen Komponenten mit einbezieht. Selbst wenn in der Nyéléni Erklärung auch jene Fischer*innen, Bäuer*innen, indigenen Menschen, die Autor*innen dieses Artikels, Frauen* und LGBTIQ*-Akteur*innen gemeint sind, die sich in einem binären Modell von Geschlecht und Begehren nicht wiederfinden, stellt sich die Frage, inwiefern sie sich in einem politischen Konzept wiederfinden wollen oder können, das zum Teil stark mit binären Vorannahmen und Essentialismen arbeitet. Der oftmals mit „Natürlichkeit“ verknüpfte Diskurs um Ernährungssouveränität birgt ebenso wie ein mit „Natürlichkeit“ verbundener feministischer Diskurs, die Gefahr, sich auf normkonservative und binäre Geschlechtervorstellungen zu stützen und sie zu reproduzieren. Essenzialisierende Geschlechtervorstellungen bleiben in der Praxis der Landwirtschaft und den Argumenten der Ernährungssouveränitätsbewegung allzu oft unhinterfragt. Sie müssen aufgedeckt und einer vielfältigeren, queeren, Sichtweise gegenübergestellt werden. Eine queere Sicht zeigt auf, dass eine Begründung unter Zuhilfename von „Natürlichkeit“ als Referenz nur eine Instrumentalisierung „der Natur“ ist (vgl. z.B. Bangemihl, 1999; Barad, 2012). Um Heteronormativität zu stützen, wird ihr Prinzip in „die Natur“ hineingelesen, die Natur wird also benutzt, um die Norm zu stabilisieren, obwohl sie diese Grundlage nicht bietet. Es wird in „der Natur“ hegemonial genau das gesehen, was der heteronormativen Lebensweise entspricht, alles andere wird ausgeblendet (Mortimer-Sandilands, 2010). Der Referenzrahmen „Natur“ ist also bereits konstruiert. Gerade im Kontext der Themen Landwirtschaft und Ernährungssouveränität scheint uns ein reflektierter Umgang mit dem, was als „natürlich“ bezeichnet wird, wichtig.
Wer darf Trecker fahren? Bäuerlichkeit neu denken und leben!
Gerade im landwirtschaftlichen und ländlichen Bereich wird die auf einem binären Geschlechtermodell basierende dichotome Unterteilung der Gesellschaft deutlich und tagtäglich reproduziert: Männer* können Trecker fahren und pflügen und Frauen* sind für die Hauswirtschaft oder für den Anbau von Feingemüse zuständig. Was plakativ klingt, ist auf den Höfen und Äckern für viele eine unhinterfragte Alltagspraxis. Mit diesen Stereotypen werden Frauen* besonders dann konfrontiert, wenn sie selbst den Hof führen. Landwirtschaftliche Betriebsleiterinnen* berichten, dass bei Kontakt mit Maschinenvetreter*innen oder landwirtschaftlichen Berater*innen meist zunächst nach ihren Ehemännern gefragt wird. Ein ähnliches Bild skizziert das Land Dyke Manifesto aus Taiwan: Auch hier wird beschrieben, welche Auseinandersetzungen notwendig sind, damit Transgender-Personen und lesbischen Frauen, die gemeinsam einen Hof bewirtschaften, als legitime Geschäftspartner*innen anerkannt werden.
In den Diskussionen der Europäischen Koordination Via Campesina zu sexuellen und genderbasierten Diskriminierungen in der Landwirtschaft wurde deutlich, dass auch im ländlichen Raum in Europa Ausgrenzung und Beschämung für Menschen der LGBTIQ*-Community Realität ist. Diese Diskriminierungen zeigen sich auch in den geschlechtsspezifischen Mustern der Berufswahl junger Menschen oder einer nicht vorhandenen Offenheit gegenüber sexuellen und geschlechtlichen Identitäten jenseits der heteronormativen zweigeschlechtlichen Norm. Auch in der Ablehnung von Lebensmodellen jenseits der traditionellen Kleinfamilie, manifestiert sich diese Diskriminierung. Die christliche Prägung im ländlichen Raum Europas verstärkt diese Realität. Für viele LGBTIQ*-Akteure ist der Wegzug vom Land in größere Städte die naheliegendste Option. Ein Kontinent, der in den vergangenen 50 Jahren große Teile seiner (klein)bäuerlichen Landwirtschaft verloren hat und dringend Strategien benötigt, um ländliche Strukturen wieder zu stärken, kann sich diese Abwanderung junger Menschen nicht erlauben.
Solange das Leben auf dem Land stark mit heteronormativen und konservativen Tendenzen verbunden wird, gehen der Landwirtschaft wichtige Akteur*innen verloren. Das sogenannte „Höfesterben“ wird verstärkt, da potenzielle Nachfolger*innen im Landleben keine Zukunft sehen (können). Queeres Leben wird nach wie vor eher mit dem urbanen Großstadtleben verbunden. Zugleich gründen sich weltweit immer mehr queer-feministisch ausgerichtete Projekte oder über die Kleinfamilie hinausgehende Hofgemeinschaften auf dem Land.
Die „Wiederverbäuerlichung“ des ländlichen Raums als Gegenbewegung zu einem industriellen Agrarmodell ist deshalb nicht nur wichtig, um ein ernährungssouveränes Lebensmittelsystem zu ermöglichen. Sie kann und muss auch dazu beitragen, eine sozial gerechtere Gesellschaft zu schaffen, sowie eine Landwirtschaft, die mit der Natur zusammenarbeitet und klimagerecht ist.
Die Neugestaltung kleinstrukturierter Landwirtschaft als Gegenwehr gegen die industrielle Marktlogik des Ernährungssektors kann hier als Riss im System genutzt werden. Er bietet das Potential, nicht einfach zu einem alten Bild von Bäuerlichkeit zurückzukehren, sondern Lebensweisen im ländlichen Raum und die Praxis der Landwirtschaft zu pluralisieren. Wenn der „bäuerliche Familienbetrieb“ nicht wie selbstverständlich mit Vater, Mutter und (am liebsten biologischen und hoferbendem) Kind assoziiert wird, sondern genauso gut auch Vater, Vater und zwei Kinder oder viele Freunde und Wahlverwandte umfassen kann; wenn kollektive Hofgemeinschaften Rechtsformen auswählen können, die diesem Modell gerecht werden und die Nachbar*innen sie beim Stammtisch willkommen heißen, sind erste Schritte getan, um die Dominanz des patriarchalen Modells zu überwinden. Gesellschaftlich hegemoniale Vorstellungen von Sexualität, Geschlechteridentität und Zusammenleben stützen ein kapitalistisches und patriarchales Gesellschaftssystem und sind somit hinderlich für die links-transformatorischen Ziele der Ernährungssouveränität. Queere Lebensentwürfe sollten im tiefen Brandenburg oder in einer Landlosenbesetzung im ländlichen Raum Brasiliens nicht weniger selbstverständlich sein als in San Franciscos Szenevierteln – dafür muss die konstruierte Verknüpfung von Natürlichkeit und Heteronormativität ein Ende finden, ebenso wie die zur Kluft gewordene Dichotomie zwischen Stadt und Land.
Vom Feminismus zum Queer-Feminismus
Selbst innerhalb von La Via Campesina mussten Frauen* − trotz der anti-patriarchalen Ausrichtung der Bewegung − um Anerkennung und einen Platz kämpfen. Sie haben es geschafft, Reproduktion, Fürsorge und Menschlichkeit stärker ins Zentrum des systemkritischen Diskurses zu rücken. Eine feministische Perspektive setzt sich für die Anerkennung der zentralen Rolle von Frauen in der täglichen Nahrungsmittelproduktion, in der Erhaltung der Biodiversität und in der Pflege der Naturressourcen ein, denn ländliche Frauen* werden durch neoliberale Politiken und ihre Folgen doppelt diskriminiert und benachteiligt. Sie erleiden Unterwerfung und Sprachlosigkeit, die oft ihr Selbstwertgefühl und ihre leitenden Rollen in Gemeinschaften untergraben (La Via Campesina, 2000). Darauf aufbauend bleibt jedoch die Frage, welche Vorstellung von Frau*-Sein hier benannt ist und ob „die Frauen*“ in der Bewegung auch tatsächlich jene Sichtbarkeit erhalten, die ihnen durch eine Extrabenennung, sowie durch eine Fünfzig-Prozent-Quote in der Repräsentation bisher suggeriert wird. Eine queer-feministische Perspektive zeigt sich solidarisch mit diesem feministischen Kampf: er ist unumgänglich, solange das Patriarchat nicht überwunden ist. Dennoch läuft eine rein feministische Perspektive Gefahr, binäre Geschlechtsmodelle zu wiederholen und Zuschreibungen zu reproduzieren, die queeren Lebensweisen, Gendervielfalt, unterschiedlichem Begehren, sowie einer Entkopplung von Geschlecht und Identität keine Beachtung schenken. Eine queer-feministische Perspektive unterstützt die Stärkung „der Frauen“ im Diskurs um Ernährungssouveränität. Diese Stärkung soll aber nicht ausschließlich damit begründet werden, dass „die Frauen“ die Familie versorgen und in weiten Teilen der Welt die landwirtschaftliche Subsistenzwirtschaft aufrechterhalten. Auch wenn dies vielerorts die Realität sein mag, ist dies aus einer queeren Perspektive nur eine mögliche Sicht auf die Lebensrealitäten und Identitäten von Frauen*. Durch solche Zuschreibungen werden Frauen*rollen konstruiert und ihre gesellschaftlich normative Stellung festgeschrieben, anstatt sie zu überwinden und auszuweiten. Nur wenn Fragen der Fürsorge, der Care-Arbeit und des gemeinschaftlichen Lebens vergemeinschaftet werden, nur wenn heteronormative und geschlechtsspezifische Ausbeutung ein Ende findet, können Gendervielfalt und queere Lebensmodelle frei entfaltet werden.
Um diese Überwindung möglich zu machen, müssen wir Diskriminierungen auf Grund von Geschlechtervielfalt und queerem sexuellen Begehren als Problem der Ernährungssouveränität verstehen. Solange strukturelle Diskriminierungen nicht beendet sind, sollte auch LGBTIQ*-Sichtbarkeit aktiv gefördert werden und ihre Extrabenennung wäre ein erstes Zeichen, um sie in dem kraftvollen „Wir“ der Nyéléni-Erklärung aktiv mitzudenken und für ihre Akzeptanz auf dem Lande einzutreten. Dies heißt nicht, dass diese Akzeptanz durch eine einfache Repräsentation erreicht werden könnte. Selbst in einer globalen, interkulturellen und internationalistischen, sowie progressiven und linkstransformatorischen Bewegung wie La Via Campesina ist der Weg zu einer geschlechtergerechten Welt noch lang. Dieser Weg bietet jedoch nicht nur für die bäuerliche Zukunft ein großes Potential der Veränderung: Er heißt mehr Menschen im ländlichen Raum und auch in der Landwirtschaft willkommen, die mit einer aktiven und sichtbaren Rolle in der bäuerlichen Welternährung partizipieren und zu Ernährungssouveränität, sowie zu dem dringend nötigen Systemwandel beitragen können. Diesen Weg zu gehen, heißt zuallererst Menschen zu ermöglichen, in Souveränität zu leben − wo und mit welcher Arbeit auch immer sie möchten. Wenn sie den ländlichen Raum wählen und damit auch noch die bäuerliche Bewegung stärken, haben wir einen Schritt geschafft, der linke Bewegungen aktuell vor so große Herausforderungen stellt: Verschiedene soziale Kämpfe nicht getrennt oder sogar gegeneinander zu denken und zu leben, sondern sie zu verbinden, um das gesamte linke Projekt zu stärken.