Im Treibsand der Institutionen

Raul Zelik

Im Mai 2015 eroberten linke Kandidat*innen zahlreiche Rathäuser im spanischen Staat.Diese ›munizipalistische Linke‹ konnte zwar auf die Unterstützung von Podemos und anderen Linksparteien zählen, versteht sich aber durchaus als Alternative zur klassischen Parteienpolitik. Die meisten derjenigen, die Barcelona En Comú, Ahora Madrid oder die galizischen mareas gegründet haben, kommen aus sozialen Bewegungen: den Platzbesetzungen der Bewegung des 15. Mai (15M) oder der Plattform gegen Zwangsräumungen (Plataforma de Afectados por la Hipoteca/PAH). Ihr Ziel war es, den gesellschaftlichen Aufbruch in die Institutionen zu tragen, ohne dessen radikaldemokratischen Anspruch aufzugeben. Doch nach einem Jahr Regierungszeit fällt die Bilanz durchwachsen aus.

Municipalismo?

Der Begriff des Munizipalismus geistert schon länger durch die Debatten der institutionenkritischen Linken (vgl. Caccia in diesem Heft). In der anarchistischen Debatte wird die Konföderation freier Gemeinden oft als Modell einer Kommune-Gesellschaft propagiert. Am deutlichsten wurde dieses Konzept von Murray Bookchin vertreten, dessen ›libertärer Munizipalismus‹ von einer basisdemokratischen Politik in Gemeinden und Stadtteilen ausgeht. Bookchins Hauptargument hat etwas für sich: Die ›Face-to-face-Demokratie‹ ist unverzichtbare Grundlage jeder echten politischen Teilhabe.

In den 1990er Jahren entwickelte der Munizipalismus dann aber auch in der Praxis eine gewisse Relevanz. In Italien beteiligten sich vom Zapatismus beeinflusste Bewegungslinke an kommunalen Wahlbündnissen (die unter anderem das Rathaus von Venedig eroberten) und träumten von einem Netzwerk rebellischer Städte. Zu einem ernstzunehmenden Projekt wurde der Munizipalismus vor allem durch Unabhängigkeitsbewegungen, die in Ermangelung eines eigenen Staates den Aufbau von Parallelinstitutionen in den Blick nahmen. 1999 gründeten 2000 baskische Gemeinderäte eine Art Nationalversammlung der Kommunen (Udalbiltza), die über gemeinsame Haushaltsmittel verfügte und über die spanischfranzösische Landesgrenze hinweg einen neuen institutionellen Rahmen schaffen sollte. 2003 verbot der spanische Ermittlungsrichter Baltasar Garzón allerdings diesen Zusammenschluss und führende Vertreter*Innen von Udalbiltza wurden inhaftiert.

Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde der Munizipalismus 2011, als die Kurd*innen in Syrien ihre Selbstverwaltung als Konföderation von Gemeinden zu organisieren begannen. Interessanterweise beruft sich diese Autonomiebewegung dabei einerseits auf den Anarchismus Bookchins, hat andererseits aber auch den Aufbau von grenz­ überschreitenden Institutionen vor Augen. Ein weiteres munizipalistisches Projekt entwickelte sich in den 2000er Jahren in Katalonien. Mit den Candidaturas d’Unitat Popular (CUP) entstanden auf lokalen Vollversammlungen beruhende und antiinstitutionell ausgerichtete Wahlplattformen, die in der Folge einen bemerkenswerten Aufstieg hinlegten: Kamen die CUP 2003 auf 20 Gemeinderatssitze, waren es 2015 schon 400 (von insgesamt 9 000).

Mit Guanyem in die Rathäuser

Der Siegeszug der munizipalistischen Linken im Frühjahr 2015 hatte dann aber vor allem damit zu tun, dass sich viele Aktivist*innen nach dem allmählichen Abflauen der Sozialproteste 2013 die Frage stellten, wie der gesellschaftliche Aufbruch in die Institutionen verlängert werden könnte. Die rechtskonservative Partido Popular (PP) und die sozialdemokratische PSOE saßen die Massenproteste und Generalstreiks nämlich einfach aus, der Elan der Bewegung 15M drohte zu verpuffen. Vor diesem Hintergrund diskutierte ein Teil der Linken über die Gründung einer ›spanischen Syriza‹ – eine Debatte, aus der schließlich Podemos hervorging.

Viele Bewegungslinke waren jedoch skeptisch, ob der Kampf um Regierungsposten die Protestbewegungen nicht völlig überfordern würde. Einige plädierten daher für Politikformen, die den bestehenden institutionellen Rahmen stärker infrage stellen sollten. Aus diesem Kontext entstand in Barcelona 2014 die Initiative Guanyem (Katalanisch für »Lasst uns gewinnen«), die vornehmlich von Aktivist*innen der Bewegung gegen Zwangsräumungen PAH und der Gruppe Procès Constituent (die einen verfassunggebenden Prozess ähnlich wie in Lateinamerika propagierte) getragen wurde. Ziel war die Aufstellung einer offenen linken Wahlliste, deren Zusammensetzung auf Stadtteilversammlungen beschlossen werden und deren wichtigstes Ziel darin bestehen sollte, die Inwertsetzung Barcelonas für den Massentourismus (die sogenannte Marca Barcelona) zu stoppen. Dafür sollte allerdings keine klassische Koalition, sondern eine sogenannte confluencia gebildet werden, bei der sich die Rolle der Parteien darauf beschränken sollte, die direktdemokratisch legitimierten Kandidat*innen zu unterstützen.

Die Initiative fand schnell Nachahmer*innen im ganzen Land. In Madrid schlossen sich Bewegungslinke und Teile von Izquierda Unida (IU) zu Ganemos zusammen und handelten mit Podemos und kleineren Parteien ein offenes Vorwahlverfahren aus. Entsprechend heterogen war die Liste, die im Mai 2015 unter dem Namen Ahora Madrid zu den Kommunalwahlen antrat. Ähnlich formierten sich auch die Kandidat*innen in Zaragoza, im andalusischen Cádiz oder in den galizischen Städten, wo die Unabhängigkeitspartei A Nova, Podemos, Bewegungslinke und IU miteinander kooperierten. Die Wahlergebnisse vom Mai 2015 kamen schließlich einem Erdbeben gleich. Listen links der Sozialdemokratie gewannen die Rathäuser von Madrid, Barcelona, Valencia, Zaragoza, Cádiz, Pamplona/Irunea, A Coruña, Santiago, Badalona …

Das Beispiel Barcelona Das Beispiel Barcelona zeigt jedoch, dass auch der Munizipalismus nicht vor Anpassungsprozessen gefeit ist. An der Führungsgruppe von Barcelona En Comú, die intensiv mit den sozialen Kämpfen der Stadt verbunden ist, liegt das nicht. Bürgermeisterin Ada Colau ist langjährige Aktivistin der Bewegungen für menschenwürdiges Wohnen. Xavier Domènech, der Ende 2015 als Spitzenkandidat der (mit Podemos und IU verbündeten) katalanischen Plattform En Comú Podem antrat,ist ein marxistischer Hegemonietheoretiker. Jaume Asens, stellvertretender Bürgermeister, kommt aus der Recht-auf-StadtBewegung. Die Gründungsgruppe von En Comú, die aus ihrer Sympathie für zapatistische und libertäre Politikkonzepte keinen Hehl macht, steht für ein deutlich linkeres und basisdemokratischeres Projekt als Podemos.

Trotzdem hat Barcelona En Comú in nur 12 Monaten eine erstaunliche Entwicklung durchlaufen. Seit Mai 2016 regiert Ada Colau in Koalition mit der sozialdemokratischen Partit dels Socialistes de Catalunya (PSC), die jahrzehntelang den Bürgermeister Barcelonas stellte und die Hauptverantwortung für die neoliberale Stadtentwicklung trägt. Die Gefahr, das bestehende Stadtmodell nur neu zu legitimieren, ist auch schon in der Zusammensetzung von Barcelona En Comú selbst angelegt. Als das Projekt 2014 entstand, richtete es sich an das gesamte Spektrum links der Sozialdemokratie – unter Einschluss der linksgrünen Iniciativa per Catalunya Verds (ICV), die Barcelona in den 2000er Jahren mit der PSC regiert hatte. Manuel Delgado, Veteran der katalanischen Linken, wies schon vor dem Wahlsieg Ada Colaus in einem Interview auf diesen Widerspruch hin: »Wie sollen dieselben Personen, die das ›Modell Barcelona‹ entwickelt haben, nun in der Lage sein, es zu bekämpfen?« (elcritic.cat, 14.5.2015)

Die Gruppe um Ada Colau traf also bereits 2014 eine Grundsatzentscheidung: Das Vorhaben, eine Basisbewegung in den Nachbarschaften aufzubauen, wurde zumindest partiell aufgegeben. Stattdessen schloss man ein Bündnis mit einem Teil des politischen Establishments. Das brachte zwar Wählerstimmen,erwies sich aber im Nachhinein durchaus auch als Hindernis für eine echte ›Machtoption‹. Manuel Delgado, der bereits 2012 für eine Kandidatur Ada Colaus plädiert hatte, antwortete auf die Frage, ob er die Gruppe um Colau für Garanten des Politikwechsels halte: »Nein, weil sie in einer Dynamik stecken, die Politiker produziert, die nichts zu melden haben. Die Stadtverwaltung von Barcelona ist ein Monstrum, und die Leute, die in ihr entscheiden, sind nicht diejenigen, die offiziell regieren. […] Außerdem gibt es mächtige Interessen, die alles tun, um ihre Privilegien zu verteidigen.« (ebd.)

Keine Reformen ohne Gegenmacht

Was hat die linke Stadtregierung also erreicht? Es gibt durchaus Erfolge: Man hat nach langen Verhandlungen einen Haushalt verabschieden können, der die Sozialausgaben erhöht, man hat ein Programm zur Förderung von Genossenschaften aufgelegt und treibt zudem eine feministische Gleichstellungspolitik voran. Man hat darüber hinaus die Umwidmung von Wohnungen in Ferienapartments und teure Prestigeprojekte (zumindest vorübergehend) gestoppt. Ein Wohnungsbauprogramm und neue Formen der Bürgerbeteiligung sind in Vorbereitung. Außerdem hat sich Barcelona zur Refugee-Welcome-Stadt erklärt – was allerdings eher symbolischen Charakter hat, weil bislang nur wenige Dutzende Kriegsflüchtlinge aus Syrien und andern Ländern im spanischen Staat angekommen sind.

Das alles ist erfreulich, doch man sollte sich auch nichts vormachen: In dem politisierten Klima Barcelonas wäre auch eine andere Stadtregierung zu sozialen Zugeständnissen gezwungen gewesen. Gerardo Pisarello hat das Problem in einem Interview vom 26. Mai dieses Jahres mit der Zeitschrift elcritic.cat selbst skizziert: Barcelona En Comú verfüge nur über einen sehr kleinen Teil der Macht. Man habe nur elf von 41 Sitzen im Gemeinderat und sei daher auf Verhandlungen mit der PSC und der katalanisch-republikanischen Esquerra Republicana de Catalunya (ERC) angewiesen. Die Verwaltungstechnokratie gehorche den Interessen von Lobbygruppen oder widersetze sich aus bürokratischer Trägheit jeder Veränderung. Und die öffentliche Meinung schließlich werde von privaten Medienkonzernen beherrscht.

Zwei aktuelle Konflikte zeigen, wie problematisch es ist, wenn Linke als Stadtregierung die Interessen ›aller Bürger*innen‹ vertreten müssen und sich in sozialen Kämpfen nicht mehr eindeutig positionieren. Seit Monaten schwelt ein Tarifkonflikt mit den U-Bahn-Beschäftigen, die mehrheitlich in der anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft Confederación General del Trabajo (CGT) organisiert sind. Die Stadtregierung hat sich in dem Konflikt jedoch auf die Einschätzung der Verwaltungsdirektoren der Verkehrsbetriebe verlassen und gegenüber den Streikenden erklärt, eine Steigerung der (relativ guten) Löhne habe für Barcelona En Comú keine Priorität. Das Argument ist relativ unverschämt, wenn man weiß, dass es bei den Verkehrsbetrieben zahlreiche hoch dotierte Beraterverträge für Manager gibt. Die Tatsache, dass eine aufrechte Linke wie Ada Colau Bürgermeisterin ist, hat in dieser Frage also nicht dazu beigetragen, die Macht der Subalternen zu erweitern. Im Gegenteil: Die Tatsache, dass ein glaubwürdiger Teil der Linken nicht mehr Partei für Streikende ergreift, sondern ›zwischen Interessen vermitteln will‹, schwächt die Verhandlungsmacht der Gewerkschaft.

Ähnlich ist die Lage hinsichtlich des Kampfes der sogenannten manteros, der etwa 300 illegalen Einwanderer*innen, die in Barcelona ihr Geld mit informellem Stra­ßenverkauf verdienen. In den vergangenen Jahren etablierten die Stadtregierungen dabei eine Art Laissez-faire-Politik: Die Stadtpolizei ließ die Straßenhändler*innen stundenweise gewähren, vertrieb sie aber von bestimmten Orten. Unter der Regierung von Ada Colau hingegen machen bürgerliche Medien und Geschäftsinhaber nun gegen die ›illegale Konkurrenz‹ mobil. In der Folge ist die städtische Polizei mehrmals gewalttätig gegen die Straßenhändler*innen vorgegangen. Obwohl die meisten Mitglieder von Barcelona En Comú wohl mit den manteros sympathisieren, hat es Bürgermeisterin Ada Colau vermieden, den Konflikt mit der Polizeiführung und der öffentlichem Meinung zu suchen und auszutragen.4

Die Beispiele verweisen auf einen Zusammenhang, der für linke Transformationspolitik – egal, ob sie sich als reformistisch oder radikal versteht – von zentraler Bedeutung ist: Regierungen an sich stellen eben keine Machtoption dar (vgl. Giovanopoulos in diesem Heft). Der Zwang, zwischen Interessen vermitteln zu müssen, verhindert häufig sogar, dass Regierungslinke zur Entfaltung sozialer Gegenmacht beitragen. Das lässt sich auch in anderen Großstädten beobachten. In Madrid beispielsweise verfolgt Bürgermeisterin Manuela Carmena eine Politik, die Konfrontationen mit der öffentlichen Meinung, sprich den Medienkonzernen, scheut und sich von der Linie der PSOE kaum unterscheidet. Und in den meisten anderen ›rebellischen Städten‹ sind die ehemaligen Bewegungslinken immer noch damit beschäftigt, die Funktionslogik der Verwaltung zu durchdringen. Deutlich besser ist die Lage allerdings in kleineren Gemeinden. In manchen Ortschaften gibt es jahrzehntelange Erfahrungen in und mit linken Kommunalregierungen. Da die sozialen Strukturen hier verbindlicher, der Kontakt zu Bewegungen enger und die Widerstände von Machtgruppen und Medienkonzernen geringer sind, gibt es hier interessante transformatorische Ansätze. So haben einzelne andalusische Dörfer eine kollektive Wohnungsbaupolitik betrieben und baskische Gemeinden weitreichende Erfahrungen in direkter Demokratie und bei der Rekommunalisierung von grundlegenden Infrastruktur- und Versorgungseinrichtungen gesammelt. Doch interessanterweise werden diese Erfahrungen kaum reflektiert. Auch die Linke blickt in erster Linie darauf, was massenmedial wahrgenommen wird.

Zusammenfassend könnte man sagen, dass für munizipalistische Projekte dasselbe gilt wie für institutionelle Politik auf höherer Ebene. Erstens ist für Veränderungen nicht die Ausübung eines Regierungsamts entscheidend, sondern die Entwicklung sozialer Gegenmacht. Zweitens ist diese kein mediales Ereignis, sondern das Ergebnis von Selbstorganisierung und Mobilisierung der Bevölkerung. Dabei geht es nicht nur darum, dass ein tejido social (ein soziales Geflecht) von Initiativen, Nachbarschaftsvereinen und Gruppen entsteht, sondern natürlich vor allem auch darum, dass dieses Geflecht von alternativ-kulturellen Vorstellungen und linken Positionen geprägt ist.

Die Linke kann es also drehen und wenden, wie sie will. Sie wird immer wieder auf die Frage zurückgeworfen, wie sich eine kapitalismuskritische, emanzipatorische Gegenhegemonie entfalten lässt. Nur wenn soziale Kämpfe, Bewegungen und Organisationen genügend Druck gegen die Macht der ökonomischen Lobbygruppen, Staatsbürokratien und Medienkonzerne aufbauen, ist Transformationspolitik möglich. Das gilt auch für eine Politik auf der Ebene von Stadtteilen und Gemeinden. Wenn Munizipalismus hingegen in erster Linie bedeutet, dass Bewegungsaktivist*innen in sozialen Konflikten nicht mehr Stellung aufseiten der Subalternen beziehen können, trägt er – ebenso wie klassische Parteiprojekte – dazu bei, plebejische Macht zu beschneiden. Nur wenn der neue Munizipalismus sich dieser Anpassung verweigert, wird er dem Schicksal der alternativen und grünen Parteien Europas entgehen können.

Widersprüche surfen – Institutionen aufbrechen

Hanno Bruchmann und Mario Candeias

Es ist keine Kleinigkeit, wenn eine Stadtregierung bei einer anstehenden Zwangsräumung die Banken zwingt, Neuverhandlungen über die Hypotheken aufzunehmen oder eine Ersatzwohnung anzubieten. Bleiben diese Bemühungen erfolglos, verpflichtet sich die Kommune, eine Wohnung zu stellen. Für die Betroffenen geht es hier um existenzielle Fragen, für die Stadt um die Rückgewinnung von Macht gegenüber einer hypertrophen Finanz- und Hypothekenmafia. Es ist auch keine Kleinigkeit, wenn Verträge über Groß­ projekte oder Aufträge an private Konzerne überprüft, revidiert oder gekündigt werden. Dies verleiht der öffentlichen Hand wieder die Hoheit über die Finanzen, entreißt sie einer Clique korrupter Public-Private-Partnerships, die sich zuvor die Stadt zur Beute gemacht hatten. Die Entlastung des Haushalts hat unter anderem zu einer 26-prozentigen Steigerung der Ausgaben für Soziales geführt sowie zum Abbau von Schulden in der Höhe von einer Milliarde Euro pro Jahr. All das sind Maßnahmen der von Manuela Carmen in Madrid geführten Regierung. Sie hat die opaken Machenschaften der Behörden durchforstet, transparent gemacht, Haushalte offengelegt und Verwaltungsvorgänge vereinfacht. Zu diesem Zweck wurde eine Untersuchungskommission zu kommunalen Schulden und öffentlicher Auftragsvergabe eingerichtet. Wenn das typische sozialdemokratische Maßnahmen sind, wie Raul Zelik nahelegt, erinnert dies an die besten Seiten der Sozialdemokratie.

Für Barcelona zieht die Bürgermeisterin Ada Colau nach einem Jahr folgende Bilanz: »Die tief greifendsten, wichtigsten und nachhaltigsten Veränderungen erfolgen nicht von einem Tag auf den anderen, sondern als Summe kleiner Transformationen, die Verbesserungen in den Leben der Menschen bewirken: die Ausweitung der kostenfreien Schulspeisung und von Wohngeld, die Anwendung des Gesetzes 24/2015, das den Stopp von Zwangsräumungen ermöglicht, Sicherung von Ausweichquartieren und einer Grundversorgung, mehr Kinderbetreuung und mehr Stellen für Lehrer*innen und Sozialarbeiter*innen. […] Wir sind im ersten Jahr aber auch in Sachen demokratischer Kontrolle und Transparenz vorangekommen: Der Haushalt und die Finanzen sind öffentlich einsehbar. Außerdem haben wir ethische Richtlinien bei der Vergabe öffentlicher Aufträge eingeführt, um die Korruption zu bekämpfen« (Colau 2016).

Die Grenzen der Gestaltungsmöglichkeiten auf kommunaler Ebene, auch nach einer linken Regierungsübernahmen, sind bekannt, werden reflektiert und politisch diskutiert: die wachsende Unterfinanzierung der Kommunen, die Verschuldung und die eingeschränkten Kompetenzen. Die mangelnde Organisierung von Gegenmacht auf europäischer Ebene und die verpasste Chance, die Regierung im spanischen Staat zu übernehmen, verbessern die Bedingungen nicht, obwohl gerade hier dringend Erleichterungen durch eine AntiAusteritäts-Politik nötig gewesen wären. Vor diesem Hintergrund ist die Kritik Zeliks, die Bilanz der ›Rebel Cities‹ sei »durchwachsen« und die gestandenen linken Aktivist*innen verfielen in den Rathäuser der Logik der Institutionen, die sie verändern wollen, nicht ganz überzeugend. Erfolge und positive Wirkungen werden nur stichwortartig genannt, Probleme und Widersprüche, die zu erwarten waren, bereits als Scheitern ausgelegt.

Institutionen aufbrechen

Zelik meint, im politisierten Klima Barcelonas wäre auch eine andere Stadtregierung zu sozialen Zugeständnissen gezwungen gewesen. Dies ist angesichts der tiefen Verankerung von Korruption in den Apparaten schon für Barcelona zweifelhaft. In Madrid wären erst recht keine Konzessionen von der konservativen Partido Poppular (PP) zu erwarten gewesen. Völlig ungerührt zieht die Regierung seit Jahren ihre Politik der Zwangsräumungen, Privatisierungen und Austerität durch.

Nicht immer hat man die Wahl, ob man erst soziale Gegenmacht aufbaut und dann vielleicht in die Regierung geht. Die Erfahrung war ja gerade, dass die Massenmobilisierungen in den vergangenen Jahren die Regierenden nicht davon abgehalten haben, einfach weiterzumachen, ungeachtet aller Korruptionsskandale, Krisen und Proteste. Ohne Durchsetzungsperspektive droht der Widerstand aber abzuflauen. Daher galt es den Weg in die Institutionen anzutreten. Das hat auch eine Mehrheit der Wähler*innen erwartet. Aber mit dem Einzug in die Rathäuser sollte(n) ja nicht nur die Agenda der Regierung verändert werden, sondern die Institutionen selbst. An erster Stelle stand deren Öffnung für die Expertise der Bevölkerung und soziale Forderungen sowie die Förderung von Selbstorganisierung. All das sind wesentliche Ziele der munizipalistischen Bewegung (Espinoza Pino 2016) und hier geht es in der Tat nur langsam voran: In Madrid wurden zwei Referate für Partizipation und Transparenz eingerichtet. 79 Prozent der Befragten gaben in einer Studie der Stadtregierung an, dies sei eine Verbesserung. Neun von zehn Madrilenen sind der Ansicht, dass zum Beispiel Bürgerhaushalte wichtig sind, um die Beteiligung der Bevölkerung zu erhöhen. Die Mehrheit kennt das Partizipationsportal decide. madrid.es und spricht sich für eine Dezentralisierung der Verwaltung aus. Doch bislang bleiben die Konsultationen der Bevölkerung eben weitgehend Meinungsumfragen. Sie bieten der Stadtregierung Orientierung, ermöglichen aber keine politische Debatte, in der tatsächlich gemeinsame Projekte und Ziele jenseits der Apparate ausgearbeitet werden könnten. Hier steht ein Dezentralisierungsprozess an, der den Nachbarschaftsräten und Bezirken eine größere Entscheidungskraft überträgt.

In jedem Fall gilt es von unten genau jenen Druck zu entfalten, der es den linken Stadtregierungen ohne eigene Mehrheit erleichtern würde, soziale Verbesserungen durchzusetzen. Hier könnten Regierung und Bewegung sich gegenseitig produktiv unterstützen. »Wir müssen aufhören«, die neuen Kommunalregierungen als »Ausdruck des 15M zu verstehen«, die es für uns schon richten werden. Stattdessen müssen wir »Druck entfalten, damit sie das geliehene Mandat entsprechend nutzen« (Rodriguez 2016). Dies gilt für jede linke Regierung, aber es ist in Spanien derzeit auch deshalb dringend nötig, weil jenseits der wenigen Personen, die nun als verlängertes Schwänzchen an der Spitze der Apparate sozusagen versuchen, ›mit dem Hund zu wedeln‹, weder Barcelona en Comú noch Ahora Madrid über eigene entwickelte Organisationen verfügen, die als Verstärker und Gegengewicht zur Absorptionskraft der Institutionen wirken könnten.

Gegenmacht organisieren

Zelik will mit zwei Beispielen belegen, dass die Regierungslinke nicht zur Entfaltung sozialer Gegenmacht beiträgt. Der von anarchistischen Gewerkschaften organisierte Streik der U-Bahn-Beschäftigten in Barcelona zeige, »dass ein glaubwürdiger Teil der Linken nicht mehr Partei für Streikende ergreift, sondern ›zwischen Interessen vermitteln will‹«. Das schwäche »die Verhandlungsmacht der Gewerkschaft«. Möglicherweise ist jedoch die Auseinandersetzung der U-Bahn-Beschäftigten in diesem Moment nicht die drängendste. Denn andere Kämpfe werden weiterhin gestützt: So streitet die Plattform der Hypothekenbetroffenen (PAH) weiter gegen die zurückgegangenen Zwangsräumungsversuche, besetzt Häuser und wird geduldet (vgl. el diario, 20.6.2016). Anhaltende Mobilisierungen zeigen, dass die Ausgangsbedingungen für Gegenwehr besser und nicht schlechter geworden sind. Selbst Emanuel Rodriguez (2016), harter Kritiker der neuen Stadtregierungen, konzediert: »Die Fähigkeit, Gegenmacht auszuüben, ist mit diesen Regierungen im Vergleich zu ihren Vorgängerinnen gewachsen.«

Im Ergebnis steigt die Beliebtheit der linken kommunalen Regierungen: 72 Prozent der Wähler*innen von Ahora Madrid sowie 55 Prozent der Wähler*innen der sozialdemokratischen PSOE sind der Ansicht, das Leben in der Stadt habe sich verbessert. Bürgermeisterin Carmena ist extrem beliebt und liegt in Umfragen hinsichtlich ihrer Popularitätswerte deutlich vor dem Staatspräsidenten.Auch die Arbeit von Ada Colau schätzt die Mehrheit der Befragten als gut oder sehr gut ein,und bei den Parlamentswahlen am 26. Juni 2016 schnitt das linke Wahlbündnis insbesondere in den linksregierten Kommunen und Regionen stark ab. Die wichtige Ressource der Glaubwürdigkeit ist durch die Übernahme der Regierungen auf jeden Fall gewachsen.

Doch was heißt das für den Aufbau von Alternativen? Zelik sieht diese nur außerhalb existierender Institutionen des bürgerlichen Staates: Für Veränderungen sei »nicht die Ausübung eines Regierungsamts entscheidend, sondern die Entwicklung sozialer Gegenmacht«. Und diese wiederum sei »kein mediales Ereignis, sondern das Ergebnis von Selbstorganisierung und Mobilisierung der Bevölkerung«. Dies ist ein zwar sympathisches Verständnis davon, wie gesellschaftliche Veränderungen vonstattengehen, wird aber als widerspruchsfrei, unmittelbar, eindeutig und vor allem als alternativ zu Regierungsprojekten postuliert. Mit dem Argument, dass bisher eben keine Regierung eine echte Transformation bewirkt habe und es immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen kommt, wird der Ansatz, dass es einer Vielfältigkeit an Strategien, Ebenen und Akteuren bedarf, vorschnell aufgegeben.

Das Problem liegt auch darin, dass es kaum personelle Ressourcen gibt, und viele denken, dass eine Regierungsübernahme bedeutet, die bisherigen Ziele nun einfach in den Institutionen zu verfolgen. Stattdessen müsste es darum gehen, gesellschaftliche Gegenmacht durch organisierte Zivilgesellschaft aufzubauen, weitgehend unabhängig vom kommunalen Staat. Hier teilen wir Zeliks Kritik, dass zu wenig unternommen wird, um »eine Basisbewegung in den Nachbarschaften aufzubauen«. Nur in der Verbindung von popularer Gegenmacht und linker Stadtregierung kann sich eine echte Machtoption entwickeln. Dafür müssen Linke weiter an Strategien des Munizipalismus arbeiten, die kommunalen Regierungen weiterhin kritisch begleiten und für weiterreichende Forderungen kämpfen. Durch das Ausbleiben eines Wechsels an der Spitze des spanischen Staats und die gegenwärtigen Machtverhältnisse in der Europäischen Union wird die Lage nicht einfacher. Es gibt aber keinen Grund, die erfolgreiche munizipalistische Option voreilig aufzugeben. Weitere Widersprüche müssen gesurft werden.

1 Ein erheblicher Teil der Bevölkerung (und gerade auch der Linken) in Katalonien, im Baskenland, in Galicien, auf den Balearen, in Valencia und Andalusien versteht sich nicht als Spanier. In diesem Text wird daher statt des Begriffs Spanien, der auch eine umstrittene kulturelle Identität bezeichnet, der politische Begriff ›spanischer Staat‹ verwendet.

2 Die Liste En Comú Podem ist aus dem Stegreif zur stärksten Partei in Katalonien geworden und kam bei den spanischen Parlamentswahlen im Juni 2016, an denen sich die radikal-munizipalistischen CUP allerdings nicht beteiligten, auf 25 Prozent der Stimmen.

3 Allerdings stellt sich im Nachhinein die Frage, ob eine Liste ohne die linksgrüne ICV, aber mit der linksradikalen CUP nicht auch auf über 20 Prozent gekommen wäre. Bei den Kommunalwahlen 2015 kam Barcelona en Comú auf 25,2 Prozent, die eigenständig kandidierende CUP auf 7,4 Prozent.

4 Anm.d.Red.: Wie uns erst nach Drucklegung bekannt wurde, wird allerdings zeitgleich an einem Programm gearbeitet, um die Bildung von Genossenschaften der Migrant*innen anzuregen und ihnen Lizenzen zu geben, um den Straßenverkauf damit zu legalisieren und zu steuern. Zugleich würden die Betreffenden entkriminalisiert und erhielten eine Bleibe-Perspektive. Die ersten Genossenschaften sind bereits auf dem Weg gebracht – im Vergleich zu den Vertreibungen allerdings zu langsam. Diese Initiative ist Teil eines Plans zur Stärken von Solidarischer Ökonomie und Genossenschaften, den Gerardo Pisarello, erster Stellvertreter von Ada Colau, aufgelegt hat.

1 conoce.ahoramadrid.org/losvotantes-de-ahora-madrid-y-del-psoe-satisfechoscon-la-gestion-municipal-en-la-capital/
2 www.eldiario.es/catalunya/barcelona/Colau-volveriaelecciones-despues-apoyos_0_524247889.html

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