Widersprüche surfen – Institutionen aufbrechen
Hanno Bruchmann und Mario Candeias
Es ist keine Kleinigkeit, wenn eine Stadtregierung bei einer anstehenden Zwangsräumung die Banken zwingt, Neuverhandlungen über die Hypotheken aufzunehmen oder eine Ersatzwohnung anzubieten. Bleiben diese Bemühungen erfolglos, verpflichtet sich die Kommune, eine Wohnung zu stellen. Für die Betroffenen geht es hier um existenzielle Fragen, für die Stadt um die Rückgewinnung von Macht gegenüber einer hypertrophen Finanz- und Hypothekenmafia. Es ist auch keine Kleinigkeit, wenn Verträge über Groß projekte oder Aufträge an private Konzerne überprüft, revidiert oder gekündigt werden. Dies verleiht der öffentlichen Hand wieder die Hoheit über die Finanzen, entreißt sie einer Clique korrupter Public-Private-Partnerships, die sich zuvor die Stadt zur Beute gemacht hatten. Die Entlastung des Haushalts hat unter anderem zu einer 26-prozentigen Steigerung der Ausgaben für Soziales geführt sowie zum Abbau von Schulden in der Höhe von einer Milliarde Euro pro Jahr. All das sind Maßnahmen der von Manuela Carmen in Madrid geführten Regierung. Sie hat die opaken Machenschaften der Behörden durchforstet, transparent gemacht, Haushalte offengelegt und Verwaltungsvorgänge vereinfacht. Zu diesem Zweck wurde eine Untersuchungskommission zu kommunalen Schulden und öffentlicher Auftragsvergabe eingerichtet. Wenn das typische sozialdemokratische Maßnahmen sind, wie Raul Zelik nahelegt, erinnert dies an die besten Seiten der Sozialdemokratie.
Für Barcelona zieht die Bürgermeisterin Ada Colau nach einem Jahr folgende Bilanz: »Die tief greifendsten, wichtigsten und nachhaltigsten Veränderungen erfolgen nicht von einem Tag auf den anderen, sondern als Summe kleiner Transformationen, die Verbesserungen in den Leben der Menschen bewirken: die Ausweitung der kostenfreien Schulspeisung und von Wohngeld, die Anwendung des Gesetzes 24/2015, das den Stopp von Zwangsräumungen ermöglicht, Sicherung von Ausweichquartieren und einer Grundversorgung, mehr Kinderbetreuung und mehr Stellen für Lehrer*innen und Sozialarbeiter*innen. […] Wir sind im ersten Jahr aber auch in Sachen demokratischer Kontrolle und Transparenz vorangekommen: Der Haushalt und die Finanzen sind öffentlich einsehbar. Außerdem haben wir ethische Richtlinien bei der Vergabe öffentlicher Aufträge eingeführt, um die Korruption zu bekämpfen« (Colau 2016).
Die Grenzen der Gestaltungsmöglichkeiten auf kommunaler Ebene, auch nach einer linken Regierungsübernahmen, sind bekannt, werden reflektiert und politisch diskutiert: die wachsende Unterfinanzierung der Kommunen, die Verschuldung und die eingeschränkten Kompetenzen. Die mangelnde Organisierung von Gegenmacht auf europäischer Ebene und die verpasste Chance, die Regierung im spanischen Staat zu übernehmen, verbessern die Bedingungen nicht, obwohl gerade hier dringend Erleichterungen durch eine AntiAusteritäts-Politik nötig gewesen wären. Vor diesem Hintergrund ist die Kritik Zeliks, die Bilanz der ›Rebel Cities‹ sei »durchwachsen« und die gestandenen linken Aktivist*innen verfielen in den Rathäuser der Logik der Institutionen, die sie verändern wollen, nicht ganz überzeugend. Erfolge und positive Wirkungen werden nur stichwortartig genannt, Probleme und Widersprüche, die zu erwarten waren, bereits als Scheitern ausgelegt.
Institutionen aufbrechen
Zelik meint, im politisierten Klima Barcelonas wäre auch eine andere Stadtregierung zu sozialen Zugeständnissen gezwungen gewesen. Dies ist angesichts der tiefen Verankerung von Korruption in den Apparaten schon für Barcelona zweifelhaft. In Madrid wären erst recht keine Konzessionen von der konservativen Partido Poppular (PP) zu erwarten gewesen. Völlig ungerührt zieht die Regierung seit Jahren ihre Politik der Zwangsräumungen, Privatisierungen und Austerität durch.
Nicht immer hat man die Wahl, ob man erst soziale Gegenmacht aufbaut und dann vielleicht in die Regierung geht. Die Erfahrung war ja gerade, dass die Massenmobilisierungen in den vergangenen Jahren die Regierenden nicht davon abgehalten haben, einfach weiterzumachen, ungeachtet aller Korruptionsskandale, Krisen und Proteste. Ohne Durchsetzungsperspektive droht der Widerstand aber abzuflauen. Daher galt es den Weg in die Institutionen anzutreten. Das hat auch eine Mehrheit der Wähler*innen erwartet. Aber mit dem Einzug in die Rathäuser sollte(n) ja nicht nur die Agenda der Regierung verändert werden, sondern die Institutionen selbst. An erster Stelle stand deren Öffnung für die Expertise der Bevölkerung und soziale Forderungen sowie die Förderung von Selbstorganisierung. All das sind wesentliche Ziele der munizipalistischen Bewegung (Espinoza Pino 2016) und hier geht es in der Tat nur langsam voran: In Madrid wurden zwei Referate für Partizipation und Transparenz eingerichtet. 79 Prozent der Befragten gaben in einer Studie der Stadtregierung an, dies sei eine Verbesserung. Neun von zehn Madrilenen sind der Ansicht, dass zum Beispiel Bürgerhaushalte wichtig sind, um die Beteiligung der Bevölkerung zu erhöhen. Die Mehrheit kennt das Partizipationsportal decide. madrid.es und spricht sich für eine Dezentralisierung der Verwaltung aus. Doch bislang bleiben die Konsultationen der Bevölkerung eben weitgehend Meinungsumfragen. Sie bieten der Stadtregierung Orientierung, ermöglichen aber keine politische Debatte, in der tatsächlich gemeinsame Projekte und Ziele jenseits der Apparate ausgearbeitet werden könnten. Hier steht ein Dezentralisierungsprozess an, der den Nachbarschaftsräten und Bezirken eine größere Entscheidungskraft überträgt.
In jedem Fall gilt es von unten genau jenen Druck zu entfalten, der es den linken Stadtregierungen ohne eigene Mehrheit erleichtern würde, soziale Verbesserungen durchzusetzen. Hier könnten Regierung und Bewegung sich gegenseitig produktiv unterstützen. »Wir müssen aufhören«, die neuen Kommunalregierungen als »Ausdruck des 15M zu verstehen«, die es für uns schon richten werden. Stattdessen müssen wir »Druck entfalten, damit sie das geliehene Mandat entsprechend nutzen« (Rodriguez 2016). Dies gilt für jede linke Regierung, aber es ist in Spanien derzeit auch deshalb dringend nötig, weil jenseits der wenigen Personen, die nun als verlängertes Schwänzchen an der Spitze der Apparate sozusagen versuchen, ›mit dem Hund zu wedeln‹, weder Barcelona en Comú noch Ahora Madrid über eigene entwickelte Organisationen verfügen, die als Verstärker und Gegengewicht zur Absorptionskraft der Institutionen wirken könnten.
Gegenmacht organisieren
Zelik will mit zwei Beispielen belegen, dass die Regierungslinke nicht zur Entfaltung sozialer Gegenmacht beiträgt. Der von anarchistischen Gewerkschaften organisierte Streik der U-Bahn-Beschäftigten in Barcelona zeige, »dass ein glaubwürdiger Teil der Linken nicht mehr Partei für Streikende ergreift, sondern ›zwischen Interessen vermitteln will‹«. Das schwäche »die Verhandlungsmacht der Gewerkschaft«. Möglicherweise ist jedoch die Auseinandersetzung der U-Bahn-Beschäftigten in diesem Moment nicht die drängendste. Denn andere Kämpfe werden weiterhin gestützt: So streitet die Plattform der Hypothekenbetroffenen (PAH) weiter gegen die zurückgegangenen Zwangsräumungsversuche, besetzt Häuser und wird geduldet (vgl. el diario, 20.6.2016). Anhaltende Mobilisierungen zeigen, dass die Ausgangsbedingungen für Gegenwehr besser und nicht schlechter geworden sind. Selbst Emanuel Rodriguez (2016), harter Kritiker der neuen Stadtregierungen, konzediert: »Die Fähigkeit, Gegenmacht auszuüben, ist mit diesen Regierungen im Vergleich zu ihren Vorgängerinnen gewachsen.«
Im Ergebnis steigt die Beliebtheit der linken kommunalen Regierungen: 72 Prozent der Wähler*innen von Ahora Madrid sowie 55 Prozent der Wähler*innen der sozialdemokratischen PSOE sind der Ansicht, das Leben in der Stadt habe sich verbessert. Bürgermeisterin Carmena ist extrem beliebt und liegt in Umfragen hinsichtlich ihrer Popularitätswerte deutlich vor dem Staatspräsidenten.1 Auch die Arbeit von Ada Colau schätzt die Mehrheit der Befragten als gut oder sehr gut ein,2 und bei den Parlamentswahlen am 26. Juni 2016 schnitt das linke Wahlbündnis insbesondere in den linksregierten Kommunen und Regionen stark ab. Die wichtige Ressource der Glaubwürdigkeit ist durch die Übernahme der Regierungen auf jeden Fall gewachsen.