1997 wechselte ich von der vermeintlichen Landidylle auf das Gymnasium. In diesem Sommer verordnete mir die Gesellschaft eine neue Rolle. Ich und ein paar andere Kinder waren auserkoren, auf das Gymnasium nach Apolda zu gehen. Die zukünftige bürgerliche Elite des Ostens? Wir waren die Kids aus Arzt-, Klein- bis Großunternehmerfamilien oder aus Familien mit alleinerziehenden Müttern, die auf das Gymnasium entsandt wurden. Ab da durchfuhr unsere dörfliche Kinderbande eine tiefe Spaltung. Ich lag nun im Schwimmbad nicht mehr bei den Kindern, mit denen ich bis vor ein paar Wochen noch zusammen in die Schule gegangen war. Sie sagten uns nach, wir hielten uns für etwas Besseres, und verachteten uns. Das Apolda der 1990er fand ich in Anne Clarks »Sleeper in Metropolis« wieder: herausfordernd, rough, grau, aufregend, elend, kämpfend, betrunkene Menschen, unglückliche und unzufriedene Gesichter, grau und immer wieder dieses Grau, Zombies, so viele kämpfende Zombies. Aber auch Gestalten, die das aufbrachen: Grufties, Hippies, Punks, Discopopper. Heute habe ich für die Stimmung damals einen Namen: Deindustrialisierung. Wir – die Kinder und Kindeskinder der zerfallenen Maschinenrepublik – wurden trainiert, alles zu geben, weil die Freiheit uns nun alles Mögliche, auf jeden Fall ganz viel Wohlstand bringen würde, während wir jeden Tag dem Ruin einer ganzen Gesellschaft zusahen.

Die 1990er erinnere ich als eine bunte Flut an Waren, die nicht nur für mich als Kind, sondern auch für die anderen oft neu waren. Angesichts der umherschweifenden Nazibanden musste man sich früh positionieren. Es blieb nur, sich entweder zu wehren oder zu den Mitläufern, den stummen Wegsehenden zu gehören. Mit 12 oder 13 Jahren entschied ich mich. Die Stimmung war widerlich, doch in vielen Städten gab es subkulturelle antifaschistische Anlaufpunkte. Es war düster, aber wir hatten uns, machten Musik, waren auf Konzerten, besuchten die anderen Freaks in anderen Städten und organisierten antifaschistischen Widerstand. Wir waren lebendiger Beleg, dass es – egal wie katastrophal die gesellschaftlichen Verhältnisse sind – immer ein Entscheidungsmoment gibt: Du kannst entweder auf der Seite der Menschlichkeit stehen oder Arschloch werden und nach unten treten.

»Mit der Frage, wie man diese Lage seinem Kind, erklärt, ist jeder allein. Und vielleicht ist diese Einsamkeit eine Hoffnung.« (Heiner Müller 1992) Eine ganze Gesellschaft war sprachlos. Generationenübergreifender Dialog blieb aus. Die Älteren waren nicht in der Lage, der nachwachsenden und in dieser Krise aufwachsenden Generation Stabilität zu vermitteln. Im schnellen Rausch der Geschehnisse hatten sie selbst Mühe, Halt zu finden. Für zu viele Veränderungen gab es keine Erklärungen. Heute stellt man fest: Eine ganze Generation der unter 40-Jährigen verfügt über keinerlei Wissen zur Treuhand-Geschichte im Osten. Wie kann das sein, wenn Hunderttausende von Familien betroffen waren? Es gab kein Sprachvermögen. Gesprächsthemen auf Familienfeiern und Dorffesten waren stattdessen die Bombardierung von Dresden vom Februar 1945, der Groll gegen die Säuberungsmaßnahmen der Roten Armee und Fluchtgeschichten, denen ich als Kind gespannt lauschte. Die Generation der Alten nahm sich Raum und Mitleid, ältere Männer ließen ihr berufliches Scheitern in Geschichtsrevisionismus aus. In vielen Familien, wie auch meiner eigenen, gab es kein tradiertes Wissen zur ökonomischen und sozialen Abwicklung der DDR. Erst im Studium in Westdeutschland Ende der 2000er Jahre erfuhr ich von der Treuhand und stellte über schnelle Recherche fest, dass beide meiner Großväter betroffen waren. Der eine war Müller und wurde von einem auf den anderen Tag entlassen, der andere war Arbeiter bei Wartburg und kämpfte Anfang der 1990er erbittert und mit Autobahnblockaden, auch an der Seite der Kalikumpel in Bischofferode, die 1993 gegen die Treuhand in den Hungerstreik traten. Es half alles nichts. Es kamen General Motors und das neue Opelwerk nach Eisenach. Meine Opas gingen frühzeitig in Rente.

Schmutziger Osten

Für eine zivilgesellschaftliche Linke in Deutschland ist es Zeit für eine umfangreiche sozialpsychologische Aufarbeitung des Anschlusses der DDR an die BRD. Für den Osten kann ich sagen, dass sich der auftuende Widerspruch zwischen einer durch autoritäre DDR-Erziehung geprägten Untertänigkeit und dem vermeintlich maximalen Freiheitsversprechen von 1989/90 durch die sozialökonomische Tristesse verschärfte. Viele sind in dieser Zerreißprobe, beim Kampf ums Überleben oder mit dem Wunsch nach größter Ausbeute gescheitert. Die brutalste Form einer massiven Männlichkeitskrise durch Arbeitsplatzverlust und allgemeine Abwertung trug ihren Teil zu den Gewalt­exzessen im Osten bei. Gewalt, die sich gegen alle richtete, die nicht in das deutsche, spießige Weltbild passten. Heute würde ich sagen: Der bereits durch die rassistischen Regulationsmechanismen der DDR-Migrationspolitik eintrainierte Rassismus bot dafür einen Nährboden. Peer Stolle, Anwalt der Nebenklage im NSU-Prozess, umschrieb in seinem Plädoyer die 1990er als eine »Zeit, die hochpolitisch war, in der aber nicht nur massenhaft Forderungen nach Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit erhoben wurden, sondern es gleichzeitig zu einer seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf deutschem Boden bis dahin nicht dagewesenen rassistischen und nationalistischen Stimmung kam« (Stolle 2018, 106). Als mit Kohl und Treuhand der Abriss einsetzte, gab es weder sozialpolitische Formen der Seelsorge, die den Verlust der DDR hätten bearbeiten können, noch demütige, interessierte zuhörwillige Begegnungsräume zwischen west- und ostdeutscher Zivilgesellschaft. Heute kann ich sagen: Das lässt sich nicht mehr nachholen. Man kann es aber zum politischen Ausgangspunkt machen, strategisch klug und ohne Angst vor Emotionen besser zu scheitern. Die strukturelle Diskriminierung Ostdeutscher tatsächlich mal zu analysieren, wie die Juristin Doris Liebscher (2019) es vorschlägt, wäre ein Beitrag, um den Osten nicht rechts liegen zu lassen.

Durch die »Thüringen-Krise« schien ein offenes Fenster

Als im Thüringer Landtag mit Stimmen der Höcke-AfD ein Ministerpräsident gewählt wurde und alle Medien über die »Thüringen-Krise« berichteten, rüttelte es ordentlich an der Fassade der Bonner Republik und seiner staatstragenden alten Volksparteien. Man muss sich der Situation mit all ihrem historischen Ballast nähern, um daraus politische Antworten zu entwickeln und die zarten Pflänzchen zivilgesellschaftlicher Verknüpfungen der Empörung vor Ort zu stärken. Wird es dazu keine Aufmerksamkeit und kein Interesse von außen (jenseits Thüringens) geben, wird sich das Fenster wieder schließen und die Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und Thüringen 2021 werden die nächste Momentaufnahme einer Entwicklung sein, die nicht nur von handfestem Rassismus, sondern auch von der Unfähigkeit linker Politik geprägt sein wird, kollektive Erfahrungen, nämlich die gesellschaftlichen Verwerfungen meiner Jugend und eine bis heute andauernde, strukturelle Diskriminierung Ostdeutscher, produktiv politisch einzusetzen. Ich finde, wir müssen die Chance nutzen und auf die Etablierung eines breiten gesellschaftlichen Antifaschismus hinwirken! Die Erfahrung, an einem kapitalistischen Gesellschaftssystem gescheitert zu sein, kann dabei ein Vorteil sein und als Ausgangspunkt für einen Aufbruch hin zu einer solidarischen Gesellschaft und Politik dienen. Das heißt, die Potenziale einer Art ostdeutscher Demokratiekompetenz, wie sie der DDR-Oppositionelle Klaus Wolfram beschreibt, aufzuspüren, sie zu würdigen und sie in linke Strategieüberlegungen zu integrieren.

Ohne Erinnerung keine Zukunft

Im Friedrichshain-Kreuzberg-Museum in Berlin las ich neulich: »Trotz einer komplexen Geschichte ist die gängige Erinnerungskultur über die Wendezeit und die deutsch-deutsche Vereinigung von einer einseitigen Erzählung geprägt, die ein Bild des nationalen Erfolgs zeichnet.« (Ausstellung »Labor 89«) Die Ausstellung suche nach »neuen Perspektiven auf die Wendezeit und betrachtet die Akteur*innen, die vor und nach 1989/90 für kulturelle, politische und sexuelle Selbstbestimmung jenseits herkunftsbezogener Zuschreibungen, für soziale Gleichstellung und gesellschaftliche Partizipation kämpften«. Sie stellt Fragen, die sich mir auch stellen: Wer waren damals die Akteur*innen, an welche Erfahrungen lässt sich anschließen? Wie können wir die gemachten Erfahrungen wertschätzen? Sie als Geschichten von Klassenkämpfen anerkennen und verstehen? Konkret: Wer erinnert heute die Begegnungen sozialer Bewegungen in Ost und West? Wer weiß von den Begegnungen der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD) mit Schwarzen Deutschen in der DDR? Wer erinnert die Gründung des Unabhängigen Frauenverbandes der DDR vom 3. Dezember 1989 mit der Losung »Wer sich nicht wehrt – kommt an den Herd«? Oder dass am 8. März 1990 zwei Demonstrationen stattfanden: eine in Ost- und eine in Westberlin. Die Organisatorinnen* entschieden sich, gemeinsam ein klares Zeichen gegen die Einheits- und Vereinigungseuphorie zu setzen. 

Sprachlosigkeit hatte ich in den 1990er und 2000ern genug. Wir brauchen nun Räume, in denen nicht plumpes Gedenken, sondern Gefühlsarbeit, tatsächliches Erinnern stattfinden kann. Das braucht eine handlungsfähige Linke, um sich nicht mehr lähmen zu lassen und mit Blockaden aus der Vergangenheit aufzuhalten, sondern Energie, Mut und Leidenschaft für das Experimentieren und die Zukunft zu gewinnen. Eine Zukunft, für die ich mir wünsche, dass es tatsächlich egaler wird, wo jemand geboren ist.