COVID-19 hat die extreme Ungleichheit sichtbar gemacht, die unsere Gesellschaft produziert, und es hat gezeigt, dass sich Armut nicht verbieten lässt. In der Krise braucht es schnelle Lösungen, insbesondere für Entrechtete: für Obdachlose, für Menschen in den Drogenszenen, für Migrant*innen ohne Sozialstaatszugang und für Beschäftigte, die durch Arbeit- oder Auftraggeber*innen auch untergebracht werden, und viele andere. Auch im Sexgewerbe arbeiten dank Hurenstigma viele Marginalisierte. Aufgrund einer langen Tradition rechtlicher Diskriminierung wohnen etliche am Arbeitsort und Selbständigkeit ist stark verbreitet. Soziale Arbeit und Aktivist*innen haben darum mit Beginn der Krise Soforthilfen gefordert, und teils waren die Verwaltungen sogar offen für Sozial- statt Ordnungspolitik. Sie haben einiges möglich gemacht: Hotelzimmer für Obdachlose, Drogensubstitution ohne Krankenversicherung, Sozialleistungen für alle EU-Bürger*innen und Wohnerlaubnis in Prostitutionsstätten. Was als Nothilfe auf den Weg gebracht wurde, sollte nun verstetigt, ausgeweitet und um strukturelle Maßnahmen ergänzt werden. Stattdessen nutzen Abolitionist*innen die krisenbedingten Bordellschließungen, um für ein Prostitutionsverbot qua Nachfragekriminalisierung einzutreten.
Marginalisierte Subjekte
Mit dem gesellschaftlichen Lockdown wurden Mitte März alle Prostitutionsstätten qua Landesverordnungen geschlossen. Wenig später verboten einige Länder explizit auch Straßenprostitution und Escort-Tätigkeit, die zugleich von den Kontaktverboten erfasst wurden. Aktivist*innen im Bereich Sexarbeit mussten in diesen Zeiten rapiden Umbruchs einerseits den eigenen Unterhalt sichern, und gleichzeitig den politischen Kampf aufnehmen. Sie informierten sich und andere über staatliche Unterstützung für Selbständige und diskutierten – wie viele andere – über Möglichkeiten, ihre Arbeit digital weiterzuführen, zum Beispiel anonym in Videochats, mit käuflich erworbenen Fotos als Profilfront. Dass die staatlichen Maßnahmen zunächst keine Unterschiede zwischen Prostitution und anderer Arbeit machten, begrüßten die Aktivist*innen – eine vielkritisierte Ausnahme war das unbefristete Sexarbeitsverbot der Stadt Karlsruhe. Vor allem für marginalisierte Kolleg*innen forderten sie Hilfen: „Wir sind Solo-Selbstständige und Unternehmer*innen wie die anderen auch. Sorgen müssen wir uns allerdings um die Sexarbeiter*innen, die eh schon von der Hand in den Mund lebten, unregelmäßig anschaffen gingen, keine eigene Wohnung haben und in Pensionen lebten, vielleicht Drogen konsumieren oder aus anderen Gründen schon durch so viele Netze gefallen sind und nicht mehr in ihre Heimatländer zurückkehren konnten. Sie brauchen jetzt schnell, unbürokratisch und niedrigschwellig Geld für Essen und Trinken und Notunterkünfte – in jeder Stadt.“ (Aktivistin Stephanie Klee, in Care Revolution 2020)
Als stigmatisiertes, arbeitsintensives Gewerbe ohne Zugangsvoraussetzungen bietet Sexarbeit vielen Menschen ein Einkommen, die auf Arbeitsmärkten diskriminiert sind. Ähnlich wie in häuslicher Pflege, Baugewerbe, Landwirtschaft oder Schlachtbetrieben ist der Anteil an Migrant*innen im Sexgewerbe ist hoch. Schätzungen zufolge stammen die meisten aus Osteuropa. Jenseits eines Überbrückungsgeldes zur Ausreise aus Deutschland erhalten sie – außer bei Daueraufenthalt, bei (nachweisbarem) Job als „Aufstocker*innen“ oder befristet bei unfreiwilligem Arbeitsplatzverlust – keine Sozialleistungen. Bei Obdachlosigkeit verwehren viele Städte die Hilfen mit Verweis auf Unterbringungsmöglichkeiten im Migrationsursprungsland. Beziehen sie Sozialleistungen, ist dies wiederum ein Grund zur Ausweisung. All das und weitere Marginalisierungen z.B. durch rassistische Diskriminierung, erhöhen branchenunabhängig die Ausbeutbarkeit von Migrant*innen und den Druck, schlechte Arbeitsbedingungen in Kauf zu nehmen (Haubner 2017, Riedner 2017). Einige Sexarbeiter*innen ernähren auch Familien in ihren Heimatländern. Andere haben sowohl einen erschwerten Zugang zum Sozialstaat als auch zu alternativen Arbeitsmärkten, weil sie illegalisierte Drogen konsumieren. Gleichzeitig haben sie Ausgaben, die ALGII-Leistungen übersteigen, so dass sie auf Straßensexarbeit angewiesen sind (Künkel/Schrader 2019).
Arbeitsbeziehungen im Sexgewerbe
Sowohl der Klassenbias der deutschen „Rettungspakte“ in der Corona-Krise, die vor allem große Unternehmen mit Kurzarbeit und Krediten förderte (Sablowski 2020), als auch die moralbeladene Rechtstradition sorgen im Sexgewerbe für besondere Härten. Viele Sexarbeitsaktivist*innen kritisierten beispielsweise, dass die Corona-Hilfen auch für leistungsberechtigte Selbständige lediglich die Betriebskosten, aber nicht das Einkommen der „Soloselbständigen“ ersetzten. Hamburg ist hier eine Ausnahme. Selbständigkeit ist im Sexgewerbe jedoch angesichts einer langen Tradition rechtlicher Diskriminierungen stark verbreitet (vgl. Künkel 2020, 60-72): Bis zum Inkrafttreten des Prostitutionsgesetzes im Januar 2002 waren Arbeitsverträge generell ungültig und die Möglichkeit Leute anzustellen, als „Förderung von Prostitution“ verboten. Legal konnten Bordellbetreiber*innen nur Zimmer an Selbständige vermieten. Der Aufbau eines Tarifsystems und die Durchsetzung von regulären Beschäftigungsverhältnissen waren in Zeiten neoliberalisierter Arbeitsmarkpolitik, in denen viele andere Branchen den umgekehrten Weg gingen, bislang nicht durchzusetzen. Dies lag nicht zuletzt an fehlenden Übergangs- und Ausführungsbestimmungen zum Gesetz, einer unvollständigen rechtlichen Anerkennung als Gewerbe durch die Länder, am fortbestehenden Verbot für Bordellbetreiber*innen, Arbeitspraktiken vorzugeben, den Sorgen von Sexarbeiter*innen vor erhöhten Kosten und Abhängigkeiten und die schwache gewerkschaftliche Vertretung im traditionell von Polizei und Sozialer Arbeit regulierten und stigmatisierten Beruf. Zudem kollidiert abhängige Beschäftigung mit der hohen Mobilität im Gewerbe. Sexarbeiter*innen reisen häufig und wechseln den Arbeitsplatz – auch um für Kund*innen „neu“ zu sein, oder anonym und fern von zuhause zu arbeiten. Sie profitieren daher in aller Regel nicht von Kurzarbeit, wie zwar nicht die Sexarbeiter*innen selbst, aber die Gewerkschaft ver.di problematisierte. Arbeitskämpfe blieben angesichts der rapiden Schließungen in den letzten Wochen aus, doch verschiedentlich gibt es Kulanzarrangements. Denn Sexarbeiter*innen wohnen aufgrund der hohen Mobilität im Sexgewerbe und dem Mangel an preiswertem Wohnraum häufig in den Betriebsräumen. Dies ist laut Prostitutionsschutzgesetz von 2017 partiell verboten – die Wohnräume wurden aber z.T. in separate Bordelletagen verlegt. Mit den COVID-bedingten Schließungen von Prostitutionsstätten waren die Sexarbeiter*innen von Obdachlosigkeit bedroht. Auch Hotels, die in marginalisierten Rotlichtvierteln oft als Stundenhotels und als Unterkunft für Wohnungslose dienen, sollten nun geschlossen werden. In dieser Situation erklärte das Bundesfrauenministerium das Verbot, in Bordellen zu wohnen, für nicht mehr anwendbar, da diese nun keine Arbeitsstätten mehr seien. Einzelne Betreiber*innen ließen daraufhin Sexarbeiter*innen weiter im Betrieb wohnen.
Corona: Verbote, Schließungen und Gewalt
Für diejenigen, die mangels Alternativen versuchten weiterzuarbeiteten und angesichts der Betriebsschließungen in Escort oder Straßenprostitution auswichen, ist die Situation durch die Corona-Verordnungen noch komplizierter geworden. Zum einen drohen Bußgelder von bis zu 5.000 Euro, außerdem sind die mehrheitlich männlichen Kunden rar geworden. Sozialarbeiter*innen berichten von erhöhtem Preisdruck und vermehrter Gewalt nicht nur auf Sex-, sondern auch auf Drogenmärkten, da bestimmte Drogen wie Crack angesichts von Grenzschließungen weniger verfügbar sind. Unter den Bedingungen des Kontaktverbots waren diese Probleme kaum bearbeitbar: Zwar gaben Notunterkünfte vermehrt Essen aus. Doch die meisten Gesundheitsämter schlossen ihre Beratungsstellen für Sexarbeiter*innen. Noch geöffnete sozialarbeiterische Kontaktstellen mussten ihr Angebot stark einschränken, um die Abstandsregeln einzuhalten. Aus anderthalb Meter Entfernung konnte die Soziale Arbeit, der es zum Teil sogar an Masken fehlte, manche Aufgaben kaum leisten: In illegalisierten Märkten, wo die Sexarbeiter*innen wegen der Klandestinität, dem Hurenstigma und der Erpressbarkeit durch Drogenentzug besonders marginalisiert sind, kommt es immer wieder auch zu Vergewaltigungen. Sozialarbeiter*innen sind hier meist erste und oft einzige Ansprechpersonen, um über das Erlebte zu sprechen.
Corona als Gelegenheitsfenster für Sozialpolitik
Sie unterstützen daher die Forderungen der Sexarbeitsaktivist*innen nach Soforthilfen, vor allem in Verhandlungen mit lokalen Verwaltungen. Die Krisensituation bietet die Gelegenheit, einige seit vielen Jahren geforderte sozialpolitische Maßnahmen durchzusetzen, wenn auch nur temporär und in begrenztem Umfang. Während Arbeitsverbote in anderen Branchen neu waren, haben sie im Sexgewerbe eine lange Tradition, die Behörden wissen angesichts der Erfahrungen mit Sperrgebieten, dass Verbote keinesfalls ein Ende, sondern die Verdrängung von survival sex work bedeuten. Es gab mehrere Städte, die damit experimentierten, Marginalität eher sozial- statt vorrangig ordnungspolitisch zu adressieren. In Hamburg konnten beispielsweise erste Erfolge für Obdachlose, Drogenkonsument*innen und Migrant*innen errungen werden, wie eine Sozialarbeiterin von der Kontakt- und Anlaufstelle für drogenkonsumierende Sexarbeiterinnen Ragazza im Interview berichtet (27.4.2020).
Hotelzimmer für Obdachlose
Im Bahnhofsviertel Hamburg St. Georg hatte die Polizei die Betreiber*innen von Stundenhotels bereits zur Schließung aufgefordert, bevor Prostitution gänzlich verboten wurde. Damit drohte marginalisierten Sexarbeiter*innen Obdachlosigkeit. Das Land Hamburg reagierte darauf zunächst mit einem Appell an die Steigenbetreiber*innen, Sexarbeiter*innen – ohne staatliche Kompensation – kostenlos unterzubringen. Hotelzimmer wollte die Stadt für Obdachlose zunächst nicht bereitstellen – trotz ersten COVID-19-Fällen in Sammelunterkünften. Nachdem eine private Spende Hotelunterbringungen ermöglicht hatte, mietete jedoch auch das Sozialdezernat zu Ostern ein Hostel mit 60 Zimmern im St. Georg an. Dies ermöglichte es – wenn auch zeitlich und von der Platzzahl her begrenzt –, Sexarbeiter*innen mit Wohnraum zu versorgen. Einige von ihnen waren zwischenzeitlich bei Internetbekanntschaften untergekommen, wo sie aber nicht länger bleiben konnten oder gar Übergriffe erlebten. Die Hostel-Zimmer stellten für die Frauen einen sicheren Rückzugsraum dar, in dem sie vorübergehend zur Ruhe kommen konnten und in denen sich sogar das Gefühl eines „normalen Lebens“ einstellte – häufig symbolisiert durch den Fernseher auf dem Zimmer. Anders als von Behörden befürchtet, bleiben negative Effekte wie Sachbeschädigungen oder Hausregelverstöße aus. Das spiegelt Erfahrungen, die es mit dem sogenannten Housing-First-Ansatz gibt: Es ist humaner, erfolgreicher und sogar kostengünstiger, Obdachlosen dauerhaft und ohne Abstinenz- oder Therapiezwang Wohnraum zur Verfügung zu stellen, der ihnen unter Marktbedingungen nicht offensteht, als die Menschen im öffentlichen Raum ‚zu verwalten’ und durch ein Stufensystem an Gruppenwohnen und „Wohntrainings“ zu schleusen (Busch-Geertsema 2011).
Drogensubstitution auch ohne Krankenversicherung
Angesichts der einbrechenden Drogenmärkte erhielt eine Drogenhilfeeinrichtung in St. Georg die Möglichkeit, unbürokratische Notsubstitution anzubieten, auch für Menschen ohne Krankenversicherung. Dies ist eine langjährige Forderung der Sozialen Arbeit, konnte diese doch unversicherte Klient*innen oft nur mittels spendenfinanzierter Substitution soweit stabilisieren, dass ein Zugang zu sozialstaatlichen Sicherungssystemen möglich wurde. Gleichwohl wurde diese Forderung nur partiell umgesetzt: Die Kapazitäten sind stark begrenzt – Plätze werden häufig nur frei, wenn Konsument*innen es nicht schaffen, zu den begrenzten Öffnungszeiten zu erscheinen, und die Dosen sind so gering, dass Beikonsum oft nötig bleibt.
Sozialleistungen für EU-Bürger*innen
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Aktenzeichen 1 BvL 1/20), die Überprüfung des „Ausreisewillens“ auszusetzte, verschaffte EU-Migrant*innen temporär Zugang zu Sozialleistungen. Dies bleibt jedoch wenig attraktiv für Betroffene. Denn es bedeutet ein aufwändiges bürokratisches Verfahren für sehr begrenzte Unterstützungsleistungen, die obendrein ein Grund für Ausweisungen sein werden, sobald die Grenzen ins jeweilige Herkunftsland wieder öffnen und Anträge erneut der Überprüfung unterliegen.
Wie weiter?
Auch wenn angesichts der beginnenden Wirtschaftskrise verschärfte Verteilungskämpfe anstehen, gilt es, an diesen kleinen Erfolgen anzusetzen. Sie müssen nicht nur verstetigt, sondern ausgeweitet werden, und um Maßnahmen ergänzt, die die Marginalität an den strukturellen Wurzeln packen. Um die Ausbeutbarkeit in der Sexarbeit (sowie in unsexy Arbeit) zu senken, bedarf es zuvorderst einer Verbesserung der sozialen Absicherung, die nicht an Staatsbürgerschaft halt macht. Denn nur wer Alternativen hat, kann „nein“ sagen. Ein bedingungsloses Grundeinkommen könnte Zwänge im Sexgewerbe stark reduzieren. Um die Situation von Drogenkonsument*innen zu verbessern, fordern Akteur*innen der Drogen(selbst)hilfe und -forschung schon seit langem und insbesondere in Zeiten der Corona-Krise, die derzeitige prohibitionistische Drogenpolitik zu beenden. Eine Entkriminalisierung von Eigenbedarfsmengen, wie sie seit knapp 20 Jahren in Portugal praktiziert wird, wäre ein erster Schritt. Auch wäre es wichtig, die Drogenpolitik an wissenschaftlichen Erkenntnissen zu orientieren (z.B. #mybrainmychoice 2020). Obdachlosigkeit gilt es nicht nur mit Housing First zu bekämpfen. Vielmehr bedarf es einer sozialen Wohnungspolitik, in der beispielsweise Mietobergrenzen und die Wiederbelebung und demokratische Erneuerung von sozialem Wohnungsbau und Wohnungsgemeinnützigkeit zentral sind (vgl. LuXemburg 2/2019 und Holm et al. 2017). Dadurch ließen sich Abwägungen von Einkommens- versus Autonomieverlusten (Oso 2016) bei der Frage des Wohnens am Betriebsort verschieben und somit die Unabhängigkeit von Sexarbeiter*innen gegenüber Betreiber*innen erhöhen. Um die Rechte von Sexarbeiter*innen grundlegend zu stärken, bedarf es jedoch auch einer vollumfänglichen Anwendung des Arbeitsrecht: Statt der derzeitigen Sondergesetze braucht das Gewerbe eine Regulierungen analog zu ähnlichen Berufen (oft als „Neuseeländisches Modell“ benannt). Auch müsste die Selbstorganisation von Sexarbeiter*innen unter anderem durch gewerkschaftliches Organizing unterstützt werden (vgl. Sex Worker Solidartiy 2019, Klee in LuXemburg 2/2014). Denn in dem traditionell durch Polizei und Soziale Arbeit regulierten Gewerbe, das vom fordistischen Klassenkompromiss ausgeschlossen war, treten Arbeitsrechtsdiskurse oft hinter einer sozialarbeiterischen Rethorik des Empowerments und dem Wunsch nach einer Abwehr der gewerbespezifischen harschen Kontrolle zurück.
Verbotsforderungen
Leider kann der Artikel an dieser Stelle noch nicht enden. Denn statt durch die genannten Politikansätze mehr Sicherheit für Sexarbeiter*innen zu gewähren, nutzen Abolitionist*innen die krisenbedingten Bordellschließungen, um für ein generelles Verbot der Nachfrage nach sexuellen Dienstleistungen (oft als „Nordisches Modell“ bezeichnet) einzutreten. Bereits in Reaktion auf die sehr frühe Schließung jeglicher Prostitution in Stuttgart twitterte die Sozialdemokratin Leni Breymaier am 13.3.: „Stuttgart verbietet #Prostitution wegen #Corona. Geht doch. Man(n) kann ja schon mal üben.“ Dies hatte einen Shitstorm von Sexarbeitsaktivist*innen und Unterstützer*innen zur Folge, den sogar die prominenteste Ex-Sexarbeiterin in der abolitionistischen Bewegung Huschke Mau indirekt unterstützte: Sie kritisierte auf ihrer Homepage das Zelebrieren reiner Bordellschließungen und forderte finanzielle Unterstützung für Sexarbeiter*innen. Ungeachtet solcher Kritiken attackierte die abolitionistische Zeitschrift EMMA Sexarbeitsaktivist*innen, die die besondere Marginalität von Sexarbeiter*innen thematisieren. Deren häufig prekäre Lage wird von der Sexarbeitsbewegung sonst eher zögerlich aufgegriffen, da solche Schilderungen in der Regel von Abolitionist*innen ausgenutzt werden, um gegen das Sexgewerbe als solches einzutreten. Obgleich EMMA die bedenkenswerte Frage der oben angesprochenen Verbreitung selbstständiger Arbeit, die mit z.T. hohen Mieten von Arbeitsräumen einhergeht, aufgeworfen hat, wurde das Problem schließlich nur in einer individualisierenden Art und Weise erfasst. Der Artikel (Louis 2020) problematisiert Kapitalisten statt Kapitalismus, indem er die Figur des Bordellbetreibers, der 5000 Euro im Monat verdiene, als Verkörperung des Bösen ins Feld führt. Die Ursachen der Ausbeutbarkeit, etwa der Mangel an sozialer Absicherung insbesondere von Migrant*innen, finden jedoch keine Erwähnung. Stattdessen wird Sexarbeit als illegitim gebrandmarkt und damit, wie so oft im abolitionistischen Diskurs, die Legalität des Gewerbes in Frage gestellt:
„Und vielleicht fragen sich jetzt in Berlin und anderswo noch ein paar PolitikerInnen mehr, wie es sein kann, dass aus den Steuergeldern von Krankenschwestern oder Supermarktkassiererinnen, die gerade das Land vor dem Kollaps bewahren, die Türsteher eines Großbordells bezahlt werden. Das passiert zwangsläufig, wenn man Prostitution als das behandelt, was es nicht ist: "ein ganz normales Gewerbe“. (Ebd.)
Der Angriff auf das Sexgewerbe geht im Artikel mit missverständlichen Vorwürfen einher, die Sexarbeitsaktivist*innen dafür verantwortlich machen, dass bestimmte Gesetzte für die Branche fehlten. So werden sie beispielsweise gefragt, warum sie nie eine verpflichtende Krankenversicherung, Mindestlohn oder Gesetze gegen Wuchermieten gefordert hätten. Für Probleme existieren allerdings bereits rechtliche Grundlagen.
Im Corona-Diskurs der Solidarität konnten Sexarbeitsaktivist*innen diese Anwürfe als herzlose Versuche, die Krise für die eigene Interessenpolitik zu instrumentalisieren, zurückweisen. Das Medieninteresse an den Verbotsforderungen blieb gering. Eine durchmischte Resonanz erhielt die Forderung nach dem „Nordischen Modell“ erst, als 16 Bundestagsmitglieder dem Aufruf von Breymaier folgten: In einem offenen Brief an die Ministerpräsident*innen nannten sie Sexarbeiter*innen „super spreader“ und Prostitution per se „menschenunwürdig, zerstörerisch und frauenfeindlich“ (Winkelmeier-Becker et al 2020).
Zum internationalen Hurentag (6. Juni) warnten hingegen verschiedene Institutionen wie die Deutsche Aidshilfe vor den Effekten des „Sexkaufverbots“. Denn – wie Holmström und Skilbrei (2017) in einer Aufarbeitung des Forschungsstands zum schwedischen Gesetz zeigen – konnte der erhoffte Rückgang von Prostitution durch das Gesetz bislang nicht nachgewiesen werden. Dafür stieg die Zustimmung der Bevölkerung für eine Kriminalisierung auch der Sexarbeiter*innen, und es zeichnen sich erste Auswirkungen des verstärkten Stigmas auf die Perspektive von Behörden und Sozialer Arbeit ab. Sexarbeit wurde in klandestinere und weniger sichere Arbeitsformen verdrängt (wobei ein Teil der Verdrängung aus dem öffentlichen Raum auch neoliberalen Stadtentwicklungspolitiken zuzuschreiben ist). Nina Vuolajärvi untersuchte jüngst das Nordische Modell in Schweden, Norwegen und Finnland und kommt zu dem Schluss: “the punitivist governance of commercial sex […] in practice leads to control, deportations, and women’s conditions becoming more difficult” (Vuolajärvi 2019, 151). Dies gelte insbesondere für Migrant*innen, die zunehmend durch Ausländergesetze regiert werden.
In Reaktion auf die abolitionistischen Forderungen, dass Sexgewerbe möge nach der Pandemie für immer geschlossen bleiben, lancierte der Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen die Kampagne #RotlichtAn und publizierte gemeinsam mit Akteur*innen aus Gesundheitsämtern erarbeitete Empfehlungen für Schutzmaßnahmen, die eine Wiedereröffnung von Sexbetrieben analog zu ähnliche Berufssparten (z.B. Massagesalons) begleiten sollten.
Es bleibt zu hoffen, dass die Verbotsforderungen künftig nicht länger die Debatte überschatten, und eine wissenschaftlich fundierte Diskussion darum, wie Marginalitätsursachen bekämpft werden können, beginnt.