Insofern war es nicht verwunderlich, dass die geplante Einführung der Primarschule in Hamburg zum Kernthema der politischen Auseinandersetzungen wurde. Mit ihr sollte das gemeinsame Lernen bis zum Ende der sechsten Klasse begründet und die Aufteilung der Schüler auf Gymnasien und Stadtteilschulen um zwei Jahre verschoben werden. Dies wäre eine sinnvolle Schlussfolgerung aus pädagogischer Forschung und hätte die positiven PISA-Ergebnisse derjenigen Staaten berücksichtigt, deren Schulsystem keine frühe Differenzierung vorsieht. Die in Deutschland tradierte, überwiegende Dreigliedrigkeit führt im europäischen Vergleich eindrucksvoll zur stärksten Verknüpfung des Lernerfolgs mit der sozialen Herkunft. Die geplante Veränderung war Kernstück einer Schulreform,1 die als Kompromiss der Koalition aus CDU und der GrünAlternativen-Liste (GAL) im Frühjahr 2008 entstanden war. Letztere hat dem Ansturm gegen die Primarschule nicht standgehalten. Über die Hamburger Landesgrenzen hinaus wurde der Konflikt relevant, weil er Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur und im politischen Verhalten offenbarte, die über das Feld der Bildung hinausweisen. Geführt wurde er über weite Strecken als Kulturkampf mit erstaunlicher Schärfe. Gescheitert ist der Versuch, zumindest einen Einstieg in das längere gemeinsame Lernen aller Kinder zu finden. Gescheitert ist damit aber nicht nur ein zentrales Projekt der schwarz-grünen Senatskoalition. Dem Bündnis aus konservativen Ideologen, vermögenden Besitzstandswahrern und verängstigten Eltern aus der sozialen Mitte der Gesellschaft gelang es, ein Kernanliegen linker Bildungsund Gesellschaftspolitik zu verhindern. Die Idee der Primarschule war auch ein Versuch, der zunehmenden sozialen Spaltung in der Gesellschaft, der weiteren Differenzierung gesellschaftlicher Milieus und der spezifischen Probleme der Einwanderungsgesellschaft entgegenzuwirken. Sie wäre – wenn auch unzureichend – eine sinnvolle Antwort auf die Krisenauswirkungen gewesen.

WER WAR NICHT FÜR DIE PRIMARSCHULE?

In zahlreichen Analysen des Volksentscheids hieß es, die »Oberen Zehntausend« hätten die Entscheidung zu ihren Gunsten gefällt. Nun lässt sich nicht nur insgesamt eine niedrige Wahlbeteiligung feststellen (39 Prozent), sondern auch eine starke innerstädtische Differenzierung: Wohngebiete mit niedrigem Sozialindex weisen eine geringe Wahlbeteiligung aus; umgekehrt proportional dazu verhalten sich reichere Stadtteile (50 bis 60 Prozent). Dennoch greift die Erklärung zu kurz. Die Reformgegner setzten sich flächendeckend in allen Stadtbezirken durch und kamen auf knapp zweihundertachtzigtausend Stimmen. Sinnvoller ist daher die Frage, warum es den Reformbefürwortern nicht gelungen ist, ihre eigene Mehrheit zu organisieren. Immerhin vereinigten sie ein zuvor unvorstellbares Bündnis bestehend aus den Senatsparteien CDU und GAL, den Oppositionsparteien SPD und LINKE, den Gewerkschaften, namhaften kirchlichen Repräsentanten und Einrichtungen, Migranten- und Jugendorganisationen bis hin zur Handwerkskammer. »Volksfront« war denn auch das Stichwort, das in einigen Medien in Stellung gebracht wurde. Wie in anderen politischen Konfliktlagen auch, lässt sich das Ergebnis des Volksentscheids nicht monokausal erklären. Es bestanden zu Recht vielfältige Kritikpunkte bezüglich der Reformmethodik, die auch Sympathisanten gemeinsamen längeren Lernens zweifeln ließen. Die grün geführte Bildungsbehörde beließ die entstehenden Kosten weitestgehend im Dunkeln, überfrachtete die Auseinandersetzung mit einer nicht vermittelbaren Zensurenreform und wollte ursprünglich die Abschaffung des Elternwahlrechts gleich mit durchsetzen. Auch entwickelte die Kampagne keine ausreichende Überzeugungskraft. Der Macht der Tradition, der emotionalen Bindung zum eigenen alten, »guten« Gymnasium wurde nichts Überzeugendes entgegengestellt. Hinzu kam, dass Bürger den Volksentscheid nutzten, um die Senatspolitik insgesamt abzustrafen. Anlässe gab es genug: von den Weihnachtsgeldkürzungen für Beamte bis zur massiven Erhöhung der KiTa-Gebühren, die genau jene Gruppe von ca. 40 000 Eltern traf, deren Kinder in den nächsten Jahren die Primarschule genießen sollten. Der Senat wurde unglaubwürdig und verhinderte die Aufbruchstimmung von Eltern, die für den Erfolg notwendig gewesen wäre. Dass eingefleischte ideologische Gegner, die mit Begriffen wie Gleichmacherei und Einheitsschule arbeiteten und sich aus traditionalistischen Milieus und den konservativen Teilen der CDU rekrutierten, nicht für die Reform zu gewinnen waren, überrascht nicht. Dies gilt sicherlich auch für Angehörige etablierter Milieus, sowohl aus politischen Gründen, als auch wegen des geringen Eigennutzens, den sie von einer kostenintensiven Reform gehabt hätten. Der Bildungserfolg ihrer Kinder ist nur zu einem geringen Teil von öffentlichen Bildungseinrichtungen abhängig. Nicht zu gewinnen war offensichtlich auch eine Vielzahl genereller Reformgegner, häufig mit dem Argument, die Primarschule denunziere das Konzept einer Schule für alle, also eines längeren gemeinsamen Lernens mindestens bis zur zehnten Klasse. Nicht zu unterschätzen wird zudem die Rolle von vielen der 15 000 Hamburger Lehrerinnen und Lehrer gewesen sein, die, anstatt Reformmotor zu sein, der unzähligen schulischen Umgestaltungen der Vorjahre überdrüssig waren und nun nicht für eine Reform stimmen wollten, deren Umsetzung wieder einmal zu ihren Lasten gegangen wäre. Verloren wurde die Auseinandersetzung allerdings in den Milieus der bürgerlichen Mitte. Hier finden sich diejenigen, die sich selbst enormen Mühen ausgesetzt sehen, um den starken Druck zu kompensieren, unter den sie geraten sind. Viele von ihnen setzen für den Bildungserfolg ihrer Kinder nicht mehr auf gesellschaftliche (Reform-)Lösungen, sondern auf individuelle Auswege.

ELTERN UNTER DRUCK

Die Gesellschaft der Bundesrepublik verändert sich in rasantem Tempo. Ökonomische und soziale Lagen, Lebensauffassungen und Lebensweisen, Wertorientierungen und Alltagseinstellungen driften auseinander. Die Finanz- und Wirtschaftskrise mit ihren realen und mentalen Folgen wird diese Entwicklung vermutlich verstärkt haben. Dies hat Auswirkungen auf die Mittelschicht, die sich allerdings schwerlich als homogene soziale Gruppe innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft begreifen lässt. Im Zuge der Polarisierung der Einkommen verliert die Mittelschicht (vgl. Goebel u.a. 2010). Oben gewinnt kräftig, während Unten verliert und deutlich auf Kosten der Mitte wächst. »Wenn dies eine reale Erfahrung ist oder auch nur als Bedrohung wahrgenommen wird, kann bei den mittleren Schichten entstehen, was C.W. Mills als Statuspanik bezeichnet hat.« (ebd., 8) Da mittlere Schichten ihren Status auf Einkommen und nicht auf Besitz stützten, bestünde eine große Aufmerksamkeit für dieses Phänomen. Die neue Angst der Mitte findet umfangreiche Beachtung in den Medien, Politik und Wissenschaft. Nach Goebel u.a. gibt es die Tendenz, »andere Bevölkerungsgruppen für diesen Status-Verlust verantwortlich zu machen und so zur Ausbreitung von diskriminierenden Einstellungen beizutragen«. Hierzu passen Umfrageergebnisse, dass die Mehrheit gegen die Erhöhung der Hartz-IV-Sätze sei (Hamburger Abendblatt vom 5.10.2010), oder dass, wie Heitmeyer es beschreibt, »Mitmenschen vor allem nach ihrer Nützlichkeit bewertet und damit auch abgewertet werden«. Dreiviertel »der Befragten würden sagen, dass sich Solidarität, Gerechtigkeit und Fairness in dieser Gesellschaft nicht mehr verwirklichen ließen« (Der Spiegel 14/2010, 71). Dass in einkommensschwachen Milieus soziale und ökonomische Nöte Alltag sind, ist evident, aber zunehmend berühren Abstiegsängste die Mainstream-Milieus. Vielen Eltern scheint bewusst zu sein: ohne Abitur kein Studium, kaum Chancen auf attraktive Ausbildungsplätze und damit keine Wahrung des Lebensstandards. Für die meisten ist Bildung von erheblicher Bedeutung. Mit zunehmender Schärfe werden Bildungs- und Familienpolitik und deren mobilitätshemmende Länderhoheit kritisiert: etwa die Unterausstattung der KiTas, die zu geringe Zahl der Ganztagsschulen, eine kaum zu erreichende Vereinbarkeit von Familie und Beruf etc. Franz Walter bringt es auf den Punkt: »Stress in der Schule und an der Universität, selbst im Kindergarten, das Turbo-Abitur, die neuen Studiengänge, das alles ist ein großes Thema für die Mitte.« (Spiegel Online vom 17.6.2010) Den Wandel illustriert die Veränderung des Leitmotivs früherer Elterngenerationen, »Du sollst es einmal besser haben als wir«, zum heutigen, »Du hast es hoffentlich nicht schlechter als wir«. Der Druck führt einerseits zu Verunsicherung und Ängsten, andererseits – vermengt mit ausgeprägter Politikerverdrossenheit – zu allgemeiner Skepsis gegenüber öffentlichen Institutionen und schulischen Reformen. So wird nicht nur versucht, ein erodierendes öffentliches Bildungssystem mittels Privatschulen oder intensiver Nachhilfe zu kompensieren, sondern diese werden auch zur Abgrenzung und Ausgrenzung potenzieller Konkurrenten genutzt. Zum Normbild guter Eltern wird es, mittels Frühförderung Vorsprünge vor anderen zu ermöglichen. Der Druck wirkt auf alle Eltern, jedoch je nach sozialem Milieu mit unterschiedlicher Härte, und es bestehen nicht die gleichen Handlungsalternativen. Eltern erleben das räumliche und kulturelle Auseinanderdriften der Stadtteile und Milieus sehr direkt. Unterschiede der Bildungsaspiration und des Bildungskapitals sind offensichtlich, ebenso die Bedeutung des Umfeldes für das Kind. Hier entsteht bei vielen der Wunsch nach der scheinbar sinnvollen Lösung: kein noch längeres gemeinsames Lernen als unbedingt notwendig. Räumliche Abgrenzung wird ergänzt durch Kontaktvermeidung, und Ernährung, Kleidung, Gesundheit, Medienkonsum dienen als Abgrenzungsfaktoren. Auch ist »Musik ein sicheres Vehikel der Distinktion nach unten und als Strategie längst in der bürgerlichen Mitte entdeckt worden« (Merkle/ Wippermann 2008, 50). Hier entwickelt sich eine sozial-hierarchische Demarkationslinie zwischen den oberen und mittleren Milieus und denen am unteren Rand: die vermeintlich bewusste, fördernde, fürsorgliche Erziehung einerseits, andererseits Eltern, die froh sind, wenn ihre Kinder nicht kriminell oder schwanger werden. Daraus folgt: »Keine Kontakte, keine Empathie, kein Grund zur Solidarität. Solidarität bekommt in der gesellschaftlichen Mitte zunehmend die spezifische Semantik von ›sich solidarisieren gegen …‹« (ebd., 52). Ein Moment der Entsolidarisierung erklärt sich durch die Kombination der Abgrenzung von den unteren Milieus mit dem Abgrenzungswunsch von den überwiegend dort vermuteten Familien mit Migrationshintergrund. Wäre Sarrazins Buch früher erschienen, wäre dies womöglich noch deutlicher geworden. So blieb es eher ein subtiler Subtext der Auseinandersetzung. Selbst Ole von Beust sah sich gezwungen, die vorhandenen Ressentiments zu kritisieren, »dass manche unverhohlen sagen: Wir wollen nicht, dass unsere Kinder länger als notwendig mit Kindern mit Migrationshintergrund zur Schule gehen.« (SZ vom 7.7.2010) Die Probleme der Auslese, der Spaltung, des Drucks werden auch für Eltern in den Milieus immer stärker, die eigentlich Träger des neoliberalen Zeitgeistes sein sollen. Die erwünschten Lebensbilder lassen sich, wenn überhaupt, nur unter großen Mühen umsetzen. Das ist der Nährboden, auf dem die erfolgreiche Hamburger Initiative »Wir wollen lernen« (WWL) gewachsen ist. Ihren Ausgangspunkt fand sie in den wohlhabenderen Vierteln der Stadt, aber sie reichte schnell und weit darüber hinaus. Mit dem agilen und medientauglichen Juristen Walter Scheuerl an der Spitze bildete sich eine soziale Bewegung heraus, die ehrenamtliches Engagement und außerparlamentarisches Agieren mit professionellem Campaigning verband. Gut vernetzte, den medialen Diskurs beeinflussende Gruppen nutzten die niedrigen Quoten der Volksgesetzgebung in dem Moment, als ihnen ausnahmsweise der Weg zur Durchsetzung ihrer Partikularinteressen über die hegemonialen Parteien versperrt war.

LEHREN FÜR LINKE REFORMPOLITIK

Der Volksentscheid hat deutlich gemacht: Wir leben nicht in einer Zeit des Aufbruchs. Lieber arrangiert man sich mit dem Schlechten, dem Mittelmaß und versucht individuell durchzukommen; wer das nicht schafft, hat eben Pech gehabt. Zugleich trägt die scheinbare Bewahrung des Status quo erheblich zur sozialen Polarisierung bei. Die forcierte Herausbildung monokultureller Schulen verhindert das notwendige Erlernen des Umgangs mit Differenz. In der Hamburger Bildungspolitik ist mit dem Volksentscheid kein Problem gelöst, es wurde lediglich ein sinnvoller Weg der Veränderung verbaut. Das Hamburger Ergebnis hat Auswirkungen auf die Schulstrukturdebatten in anderen Bundesländern. Es scheint, dass »die Bewegung für gute Schule in ganz Deutschland ihr Leitmotiv eingebüßt hat: Der Begriff ›längeres gemeinsames Lernen‹ ist praktisch nicht mehr verwendbar« (taz vom 19.7.2010). Im Oktober letzten Jahres stellten die vermeintlichen PISA-Gewinner Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen das Grundsatzpapier »Individuelle Förderung statt Einheitsschule« vor. Das differenzierte Schulsystem sei zukunftsfähig, es könne bei jedem Kind die eigenen Talente und Begabungen entwickeln. Die drei Kultusminister sind sich sicher, dass die Idee der Einheitsschule der »Retropädagogik« des vergangenen Jahrhunderts entstamme. Sie können an Haltungen anknüpfen, die insbesondere bei jüngeren Menschen verfangen. Die Konzepte eines gemeinsamen längeren Lernens stammen aus einer Zeit, in denen viele Menschen sich – in unterschiedlichen sozialen Lagen bzw. Milieus – über gemeinsame Gesellschaftsentwürfe verständigten und eine Wertorientierung von der Veränderbarkeit gesellschaftlicher Zustände teilten. Wer einen Blick in die Shell-Studie wirft, stellt fest, dass letzteres in jüngeren Kohorten eine untergeordnete Rolle spielt. Selbstverwirklichung durch »Egotaktik« ist angesagt. Der Druck auf die differenzierten Milieus der Mitte führt zu einer Gefahr für die Akzeptanz und Durchsetzbarkeit linker Politik. Noch bei den letzten beiden Bundestagswahlen war beispielsweise Die Linke in allen drei Etagen der Gesellschaft ähnlich stark vertreten (vgl. Brie 2007, 42). Es gab diejenigen, die unmittelbar von Krise und unsozialer Politik betroffen waren, und diejenigen, die, unabhängig von ihrer persönlichen Lage, nicht in einer unsolidarischen Gesellschaft leben wollten. Die bisherige Erfolgsgeschichte der Linkspartei begründete sich in ihrer klaren Haltung im Sozialstaatskonflikt. Die Folgen der Finanzkrise, die absehbaren sozialen Einschnitte, erhöhen nun den Druck auf die mittleren Milieus und tragen so zur Abnahme des Gerechtigkeitsdiskurses bei. Eine ressentimentgeprägte Entsolidarisierung führt zur Veränderung von Handlungs- und Wahlpräferenzen. Auch hier werden die verängstigten Mainstream-Milieus der Mitte den Ausschlag geben. Es mag so scheinen, als ob beim Hamburger Volksentscheid nur über die Frage abgestimmt worden wäre, ob die Kinder zwei Jahre länger gemeinsam zur Schule gehen. In Wirklichkeit ging es darum, wie viel soziale Gerechtigkeit sich unsere Gesellschaft leisten will – und welche ihrer Teile dies als anzustrebendes Ziel verstehen.  

LITERATUR

Brie, Michael, 2007: Der Kampf um gesellschaftliche Mehrheiten, in: ders. u.a. (Hg.), DIE LINKE. Wohin verändert sie die Republik?, Berlin, 13–45 Goebel, Jan u.a., 2010: Polarisierung der Einkommen: Die Mittelschicht verliert, in: Wochenbericht des DIW Berlin 24/2010, www.diw.de/documents/publikationen/73/ diw_01.c.357505.de/10-24-1.pdf (7.2.2011) Merkle, Tanja, und Carsten Wippermann, 2008: Eltern unter Druck. Selbstverständnisse, Befindlichkeiten und Bedürfnisse von Eltern in verschiedenen Lebenswelten, Stuttgart

Anmerkungen

1 Ein Überblick findet sich bei Valentin Merkelbach, http://bildungsklick.de/a/72868/ein-volksentscheid-und-dieaussichten-auf-schulfrieden-in-hamburg/ (8.2.2011).