Es ist über anderthalb Jahrhunderte her, dass Karl Marx das Kommunistische Manifest mit den Worten schloss: »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« Was bedeutet aber Vereinigung für linke Politik unter den heutigen Bedingungen? Linke Politik braucht für einen sozial und ökologisch gerechten, demokratischen und friedlichen Richtungswechsel gesellschaftliche Mehrheiten, die nur im solidarischen Zusammenführen der Mitte und des Unten der Gesellschaft möglich sind. Aber wieso ist dies so schwer, und wie könnte es doch gehen? Um diese Fragen zu beantworten, ist zunächst eine Klassenanalyse erforderlich.
Vertikale Klassenspaltungen
Neoliberale Politik und technologische Umwälzungen krempeln die Gesellschaft um: Die Mitte wird zerrissen. Den einen gelingt es, Einkommen, Bildung, Status und soziale Sicherheit zu verbessern. Sie verfügen über global gefragte Qualifikationen, arbeiten in Kernsektoren der boomenden deutschen Exportindustrien oder sind im höheren öffentlichen Dienst tätig. Andere kämpfen um die Aufwertung ihrer Löhne und Arbeitsbedingungen, um bescheidenen Wohlstand. Pflege und Kinderbetreuung gehören dazu. Wieder andere werden herabgedrückt. Sie sind das Dienstleistungsproletariat – sie putzen und lagern, transportieren und bewachen, liefern aus, räumen ein und kassieren in den Discountern, sie kellnern und erledigen die Routinearbeiten des digitalen Zeitalters. Sie arbeiten weitgehend unsichtbar, vereinzelt in Jedermann- oder Jederfraujobs und allzeit austauschbar. Viele sind Migrantinnen und Migranten. Der Arbeitsstolz misst sich vor allem am Maß der körperlichen oder geistigen Verausgabung – das hält keiner ewig durch. Verschleiß ist vorprogrammiert. Und das Verhältnis von Leistung und Lohn, von Anstrengung und Anerkennung stimmt vorne und hinten nicht. »Zukunft – da wird mir schlecht.« So fasst eine Reinigungskraft ihre Situation zusammen (zitiert nach Bahl 2014, 198).
In Folge der Bildungsexpansion der 1970er Jahre veränderte sich die vertikale Struktur der Gesellschaft zugunsten höher qualifizierter Mittelschichten. Bildungs- und soziale Aufstiegschancen gehörten zusammen und ermöglichten den »Mittelstandsbauch«. 25 Jahre später prägen gesellschaftliche Schließungsprozesse das Bild, die soziale Durchlässigkeit schwindet. Bildung ist nicht mehr hinreichende Bedingung für Wohlstand. Große Qualifizierungsschübe werden durch Dequalifizierungs- und Prekarisierungstendenzen anderer Gruppen konterkariert. Michael Vester spricht davon, dass man die Qualifikationsstufen in der Gesellschaft vor einem Vierteljahrhundert in der Form einer Birne darstellen konnte, heute aber ähneln sie eher einer Olive (vgl. Grafik 1). Auch bei der Einkommensstruktur wandelte sich das Bild. In Folge der neoliberalen Eingriffe ab dem Jahr 2000 wurde aus der Orange mit dickem Bauch eine Erdnuss mit schlanker Taille (vgl. Grafik 2). Durch die Stabilisierung des deutschen Modells Ende der 2000er Jahre und die erkämpften Lohnzuwäche ging die Polarisierung zurück; die Gruppen mit bescheidenem Wohlstand wuchsen wieder. Die Zahl der Arbeitskämpfe und Streiktage stieg. Die Konflikte zwischen Berufsgruppen im Exportsektor und bei den personenbezogenen Dienstleistungen in ihrer Verbindung mit einer geschlechterfixierten Arbeitsteilung haben zugenommen (vgl. Vester 2013, 65; Weber-Menges 2015, 6, 55–62). Klassenverbindende Arbeit unter Lohnabhängigen ist eine schwierige Aufgabe.
Horizontale Differenzierungen unter ArbeitnehmerInnen
Mehr denn je leben wir in einer Arbeitnehmergesellschaft, in der die Arbeit funktional ist, wenn auch oft nicht Lebenssinn. 90 Prozent der Erwerbstätigen sind lohnabhängig. Fast alle sind darum bemüht, Einkommen zu sichern, Arbeit, Familie und Freizeit zu koordinieren. Sie tun es aber auf sehr verschiedene Weise und mit divergierendem Erfolg. Das »Arbeitnehmerinteresse« an Lohn, Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen ist für jede und jeden zentral. Diese Einheit als ArbeitnehmerInnen stiftet aber kaum eine gemeinsame Identität.
Die Gesellschaft wird sehr unterschiedlich erfahren und gelebt. Das Interesse an guter sinnvoller und sicherer Arbeit erscheint als eines, das neben den Interessen an sauberer Umwelt, Zugang zu bezahlbarem Wohnraum, Schutz vor Kriminalität, freier Fahrt auf Autobahnen oder Fahrradwegen steht. Viele kämpfen individuell um bessere Arbeitsbedingungen und engagieren sich gemeinschaftlich für Ziele in ihrem Lebensumfeld, für gesellschaftliche Belange jenseits der Arbeitswelt. Sie haben Patchwork-Identitäten und bewegen sich in Patchwork-Zusammenhängen. Nur noch 42 Prozent der Menschen in Deutschland leben in Familien mit Kindern. Es gibt nicht ein, sondern viele »Wir«. Wie soll solidarisch verbunden werden, was auf so gegensätzliche Weise zusammengehört?
Auch in der Arbeitswelt gibt es nicht nur das Oben und Unten, sondern starke horizontale Differenzierungen. Ein Teil der Berufstätigen arbeitet immer selbstbestimmter. Andere sind weiter in strikt hierarchische Zusammenhänge eingebunden. Der ökologisch-technologische Umbruch der Arbeitsverhältnisse ist gravierend. Zu den oberen sozialen Schichten gehören heute auch das liberale intellektuelle Milieu und das Milieu der »Performer« – die effizienzorientierten »Leistungseliten«.
Bei den Mittelschichten bilden die traditionsverwurzelten Milieus zwar heute noch die größten Gruppen. Aber andere steigen auf, vor allem neue städtische Milieus (adaptiv-pragmatisch bzw. hedonistisch). Sie werden in zehn Jahren die untere soziale Mitte dominieren. Flexible Lebensgestaltung, permanente Neuerfindung, kreative Selbstgestaltung gehen einher mit der Relativierung traditioneller Normen und Werte. Für die neuen modernen »Performer« der sozialen Mitte sind Stabilität und Kontinuität eher nachrangig, ebenso Ordnung, Fleiß und Strebsamkeit. In den Vordergrund rücken Flexibilität und Kreativität (vgl. Grafik 3). Das erscheint vielen anderen wiederum als Bedrohung.
Auf gemeinsamer Fahrt mit unterschiedlichen Vorstellungen
So sehr sich die Gesellschaft vertikal wie horizontal ausdifferenziert hat, ist doch der großen Mehrheit gemeinsam, dass sie Deutschland als Leistungsgemeinschaft begreift. Dies ist das gemeinsame geistige Band der Gesellschaft der ArbeitnehmerInnen. Wie Stine Marg in ihrer Studie der Vermessung des politischen Ortes »Mitte« zusammenfasst, geht die Mehrheit davon aus, dass Leistung sich lohnt, dass durch sie eine entsprechende Anerkennung in Form von Einkommen, Arbeit und Sicherheit erreicht werden kann – vorausgesetzt, dass man sich »über ein gewohntes Maß hinaus beansprucht« (vgl. Marg 2014, 177). Solidarität ist im Verständnis großer Mehrheiten an Leistungsbereitschaft gebunden: Leistung ist für die Mitte auch, »dass die Starken etwas für die Schwachen tun«. Wobei dies immer nur dann gilt, wenn sich die Schwachen ebenso angestrengt haben.
Die »Gemeinschaft der Leistenden« schließt aus – nach oben jene, die sich maßlos und unverschämt selbst bedienen; nach unten jene, bei denen der Leistungswille zu fehlen scheint. Die »überzogenen Manager-Boni« sind verhasst, Niedriglohn und Armutsrenten gelten als skandalös. Ein bedingungsloses Grundeinkommen, das ohne Gegenleistung gezahlt wird, hat in diesem Weltbild keinen Platz. Solidarität soll nur im Rahmen und zu den Bedingungen der Leistungsgemeinschaft erfolgen.
Doch auch die Einheit der »Leistungswilligen« ist in sich widersprüchlich. Die oberen Mittelschichten sind gespalten. Während die sozial-libertären Gruppen dem Leitbild einer sozialen Demokratie (vor allem das engagierte Bürgertum) oder des demokratischen Sozialismus (vor allem die kritischen Bildungseliten) folgen, sind die marktorientierten Kräfte einem liberalen Leitbild mit mehr oder minder starken autoritären Elementen verpflichtet. Ein Teil der oberen Gruppen schreibt ihre gehobene Stellung vor allem der eigenen Leistung zu. Die Leistungsideologie wird gerade bei ManagerInnen teilweise auf die Spitze getrieben. Jede Kritik an Macht und Privilegien denunzieren sie als Sozialneid. Jene oberen Gruppen jedoch, die eher in den öffentlichen Diensten, in den Bereichen des Sozialen und der Kultur tätig sind, haben durchaus ein anderes Verhältnis zur Gesellschaft und Politik. Eine Studie aus der Mitte des vergangenen Jahrzehnts arbeitete heraus, dass die, die als »kritische Bildungseliten« und »engagiertes Bürgertum« bezeichnet werden können, viel eher staatliche Eingriffe in die Wirtschaft unterstützen und autoritäre Führung strikter ablehnen als jene, die leitende Positionen in der Privatwirtschaft besetzen und sich als »etablierte Leistungsträger« sehen (vgl. Neugebauer 2007, 88, 90).
Die soziale Lage (oben oder unten) und die Offenheit gegenüber Veränderungen (eher traditionsbezogen oder auf Neues aus) bestimmen wiederum nicht zwangsläufig die politischen Einstellungen. Die Arbeitsgruppe um den Sozialstrukturforscher Michael Vester konnte sechs große politische Lager identifizieren und ihre relative Größe bestimmen (alle folgenden Angaben und Zitate aus Vester 2013, 76–79). Im Zuge der Modernisierung, Individualisierung und Öffnung der Gesellschaft hat (1) das Lager der gemäßigten Konservativen zugenommen (18 Prozent). Auf sie setzt Angela Merkel. Wie Michael Vester schreibt: »Die moderneren Fraktionen der Konservativen suchen eine neue Kompromisslinie bei begrenzten Zugeständnissen in den Fragen der Sozial-, Ausländer-, Familien-, Ökologie- und Bürgerrechtspolitik.« Die (2) traditionell autoritär-konservativ eingestellten Gruppen sind vor allem in den privaten Sektoren und der oberen Mitte verankert (14 Prozent), aber sie haben auch AnhängerInnen in jenen mittleren und unteren Gruppen, die Patronage und Fürsorge durch die Bessergestellten einfordern. (3) Das Lager der postmateriell eingestellten Individualisten, die gleiche Rechte einfordern und Fürsorge nur als Nothilfe verstehen, ist fast nur in der oberen Mitte zu finden (11 Prozent). Die SPD hat vor allem im (4) Lager der Sozialintegrativen verloren, die umfassende Solidarität und gleiche Rechte für alle einfordern – materielle Verteilungsgerechtigkeit und postmaterielle Anerkennungsgerechtigkeit (13 Prozent). Gerade in diesen Milieus konnte die LINKE maßgeblich hinzugewinnen, in deutlich geringerem Maße auch aus dem (5) Lager der Skeptisch-Distanzierten. Die Unterstützung für die SPD ist hier deutlich gesunken. In diesem Milieu dominiert »ein Modell der Solidarität auf Gegenseitigkeit« (18 Prozent). Das größte politisch-ideologische Lager aber sind nach Vester (6) die Enttäuscht-Autoritären (27 Prozent): »Es vereint Verlierer der ökonomischen Modernisierung, die vor allem aus den kleinbürgerlichen und unterprivilegierten Milieus stammen, insbesondere ältere und teilweise auch jüngere Menschen mit wenig Bildungskapital und unsicheren Zukunftsperspektiven. Sie verarbeiten ihre Ausgrenzung – anders als die demokratische Mitte – nach autoritärem Muster, mit Ressentiments gegen Ausländer, alles Moderne und die Politiker, die ihre Fürsorgepflichten vernachlässigen.« In der Pegida-Bewegung besetzten sie gemeinsam mit jenen, die sich zur bedrohten Mitte der Gesellschaft zählen, Straßen und Plätze. Aber es geht ihnen nicht nur um die ökonomischen Verluste. Vor allem geht es um Sicherheit, um Anerkennung, auch um Heimat. Viele der Pegida-DemonstrantInnen sind gesellschaftlich gut integriert. 36 Prozent haben einen Hochoder Fachschulabschluss, drei Viertel sind voll erwerbstätig. Ihre Werte sind »Recht und Ordnung« sowie nationale Interessen. So wollen sie den Herausforderungen einer neoliberalen Globalisierung und der europäischen Krise begegnen. Zu drei Vierteln sind es Männer, die da auf die Straße gingen.
Die Mühen solidarischen Verbindens
Politik ist vor allem die Kunst, das Verschiedene, das Getrennte in Verbindung zu setzen. Und weil Politik sich auf das »Gemeinwohl« beruft und Allgemeingeltung beansprucht, muss sie unter den Bedingungen von Heterogenität und Spaltung Identitäten einer höheren, einer zweiten Ordnung hervorbringen. Wie aber soll dies geschehen? Welche Aufgaben stellen sich dabei vom Standpunkt einer linken Partei, die sich die Verbindung der getrennten Milieus auf die Fahne geschrieben hat?
Man darf sich keine Illusionen machen, dass das solidarische Verbinden des Unterschiedlichen in Zeiten der neoliberalen Reformen und des schnellen technologischen, sozialen und kulturellen Wandels einfach sei. Der Finanzmarkt-Kapitalismus zerreißt, wie gezeigt wurde, die Klasse der Lohnabhängigen. Der Kampf um Aufstieg oder um Behauptung bzw. gegen den Abstieg wird härter. Zudem hat die immer weitere Durchsetzung einer Arbeitnehmergesellschaft eben nicht zur Vereinheitlichung geführt, im Gegenteil, die soziokulturellen Milieus, die Einstellungen, die Lebensweisen, die Formen von Arbeit und Unterstellung wurden noch weiter ausdifferenziert. Und schließlich ist das neoliberale Modell mit seinen Wettbewerbsprinzipien, die bis in den konkreten Arbeitsplatz hineinreichen, durch die Privatisierung sozialer Risiken, durch nationalen Standortwettbewerb und Austerität tief verankert. Die Vorstellung von Mangel, Konkurrenz und Selbstsorge ist allgemein, der Wert der Solidarität und Gleichheit rückläufig. Der Neoliberalismus hat im Zuge seiner Offensive eine Wertewelt geschaffen, die ihn nun, auch in der Krise, so wirksam trägt.
Die Linken müssen erstens in dieser neoliberalen Welt nicht mehr und nicht weniger als eine andere Welt in Keimformen, als gelebte Beziehungen und andere Art des Sprechens und Handelns, hervorbringen. Das beginnt bei der Frage nach dem Gebrauchswert einer linken Partei. Ist sie überhaupt nützlich? Nützlich, um Anliegen im Parlament und der breiteren Öffentlichkeit zur Sprache zu bringen, um an unterdrückte Informationen zu kommen, um Gesetze zu beeinflussen? Und agiert sie dabei, ohne der Versuchung nachzugeben, andere für sich zu instrumentalisieren? Nützlichkeit und Vertrauen sind die zentralen Stichworte. Sind sie gegeben, entsteht in langen Jahren und manchmal in zugespitzten Ereignissen auch schnell eine lose und flexible Gemeinsamkeit. Kümmererpartei war die PDS nach den Umbrüchen von 1990, Wahlalternative gegen die Agenda 2010 wurden WASG und PDS im Bündnis. In vielen Stadtteilen haben Linke heute zusammen mit Initiativen Orte geschaffen, wo Anliegen des sozialen Wohnens, der Rekommunalisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge oder der Rechte von Flüchtlingen zur Sprache kommen, wo gemeinsam gefrühstückt, beraten, organisiert und geholfen wird.
Zweitens kommt es darauf an, den Blick von unten zu trainieren. Viele Linke leben selbst in Milieus der gehobenen Mittelschichten. Dies macht blind, verführt oder korrumpiert sogar. Wie sozial gemischt sind zum Beispiel die Freundeskreise dieser Linken? Die proletarisierten Unterklassen im Niedriglohnsektor mit dequalifizierter, isolierter Arbeit am Rande des Existenzminimums machen rund 15 bis 20 Prozent der Erwerbstätigen aus. Sie sind fast unsichtbar gemacht, auch wenn ihre Arbeitsergebnisse überall zu sehen sind. Sie stellen die elementare Normalität von Sauberkeit, Verfügbarkeit der Güter und Informationen im Netz, von Sicherheit und Ordnung her. Aber sie werden von den politisch Aktiven aller Parteien, einschließlich der LINKEN, immer weniger erreicht. Die wachsende Zahl der NichtwählerInnen – siehe Bremen, SachsenAnhalt, Sachsen – macht diese Ausschlüsse sichtbar. Nur dort, wo Linke real vor Ort sind wie im Bremer Stadtteil Gröpelingen, gelingt mühsam die Verbindung.
Die LINKE kann – und das hat sie in den Stadtstaaten Hamburg und Bremen gezeigt – zunehmend in innerstädtisch-modernen und linksorientierten Milieus WählerInnen für sich gewinnen. Zugleich aber bleibt sie überdurchschnittlich stark bei Arbeitslosen. Sie ist in der Lage, unterschiedliche Milieus zu erreichen, und erreichte in Bremen auf erstaunliche Weise Beamte, also MitarbeiterInnen des öffentlichen Dienstes, Selbständige und Arbeitslose – also Milieus, die bei aller Unterschiedlichkeit dieser Gruppen eines verbindet: Die einen sind von Prekarisierung und sozialen Problemen selbst betroffen, die anderen wie KindergärtnerInnen, LehrerInnen, MitarbeiterInnen in diversen Behörden, Sozialämtern, Jobcentern etc. sind es insofern, als sie nicht nur Leistungen für diese Betroffenen erbringen, sondern dies oft unter Bedingungen des Personalabbaus und der Unterfinanzierung sozialer Infrastrukturen und einer ausgedünnten öffentlichen Daseinsvorsorge tun. Die LINKE hat ebenso, wenn auch weniger stark, bei ArbeiterInnen zugelegt. Wenn die LINKE diese Fähigkeit, verschiedene Milieus anzusprechen, auch für andere Bundesländer ausbauen kann, hat sie die Chance, zu milieuübergreifenden gesellschaftlichen Mitte-unten-Bündnissen beizutragen.
Dazu aber bedarf es drittens vieler offener Debatten, um dem Leitbild der Konkurrenzgesellschaft, des Sachzwangs und Standortwettbewerbs ein anderes Leitbild entgegenzusetzen. Katja Kipping und Bernd Riexinger sehen in den sozialen Protesten und Bewegungen »eine neue Melodie« erklingen: »die Melodie der ›wirklichen Demokratie‹« (Kipping/Riexinger 2015). Diese verweist auf eine Gesellschaft des guten Lebens für alle (so auch die Losung einer Kampagne in Österreich), einer solidarischen Welt, einer Welt, in der viele Welten Platz haben, wie die mexikanischen Zapatistas es ausdrückten. Kipping und Riexinger prägen für eine solche Version den Begriff Sozialismus 2.0. Er ist sicherlich rot und grün zugleich, feministisch und »bunt« – ein Regenbogen.
Viertens gibt es gute Gründe, sich immer wieder die Vorstellungen der Mehrheiten bewusst zu machen und an ihren inneren Widersprüchlichkeit anzusetzen, so auch am Verhältnis von Leistung und Solidarität. Das Verständnis dafür, dass Leistung vor allem auch die Sorge um andere, Pflege und nachbarschaftliche Hilfe beinhaltet und dass Zeit gebaucht wird, um sich selbstbestimmt in Projekte einzubringen, kann entwickelt werden. Forderungen können spaltend oder verbindend sein, sie können Gegensätze vertiefen oder sie in Bewegung bringen. Die Linke muss an Brücken bauen, die vom Heute in ein anderes Morgen führen. Dies bedeutet auch, sich auf Einstiegspunkte zu konzentrieren und klar die Weggabelungen zu benennen, vor denen wir stehen. Am erfolgreichsten werden wir sein, wenn wir viele praktische Beispiele vorweisen können, wie (und warum) es anders, besser, solidarischer geht. Noch erzählt die Linke viel zu wenig davon.
Die parteipolitische Linke muss aber auch und vor allem an realistischen Machtperspektiven arbeiten, angefangen mit Opposition, die wirklich etwas bewegt. Sie muss in Kommunen und Regionen arbeiten und um einen Richtungswechsel der Politik in der Bundesrepublik und der Europäischen Union kämpfen. Gerade hierfür sind Parteien noch immer unersetzbar. Ganz unerwartet mobilisieren sie wie Syriza plötzlich Millionen. Begonnen hat auch diese Partei im Alltag, mit der jahrzehntelangen praktischen Arbeit des Verbindens.