Ende Februar ist es nun soweit: Nach zwei verschobenen Parteitagen kann die Staffelstabübergabe an eine neue Parteispitze erfolgen. Ich nehme dies zum Anlass, um auf das zurückzublicken, was die vergangenen Jahre prägte.   

LEITENDES

Obwohl die Biografien von Bernd Riexinger und mir sehr unterschiedlich sind, waren wir uns nach unserer Wahl schnell einig, welche Ansätze leitend für unsere Arbeit sein sollen – der Anspruch, eine verbindende Partei sowie eine Partei in Bewegung zu sein.

Verbindende Partei
Die verbindende Partei setzt auf das Gemeinsame zwischen den einzelnen Milieus – ausdrücklich nicht auf das Trennende. Daraus folgt, das Zusammenführende in den Mittelpunkt von Kampagnen zu stellen. So bringt z.B. der Kampf für bezahlbares Wohnen die Rentnerin, den Studierenden sowie den Facharbeiter zusammen, weil sie alle von explodierenden Mieten betroffen sind.

Dialektischer Umgang mit Widersprüchen
Natürlich gibt es auch in unserer Partei unterschiedliche Positionen. Unser Anspruch war, damit in guter dialektischer Manier umzugehen. Soll heißen: Von These und Antithese zur Synthese zu kommen. Dieser dialektische Dreisprung These-Antithese-Synthese meint folgendes Verfahren: Es gibt die Position A. Dann nimmt jemand die Gegenposition dazu ein, also Position B. Nun kann man streiten, ob A oder B weniger irrt.  Oder es gelingt eine Weiterentwicklung, die jeweils die Stärken von A und B aufgreift und zur Synthese also zur Position C verdichtet. Unterschiedliche Erfahrungen produktiv zu machen, gelingt nicht immer. Aber in unseren guten Stunden gelang uns das. Einschränkend ist zu sagen: Es gibt auch Konflikte, die gehen so ans Eingemachte, da geht nur eins: Partei ergreifen.

Partei in Bewegung
Für den alten linken Streit zwischen Bewegungsorientierung versus Parlaments- und Regierungsorientierung ist zumindest eine dialektische Auflösung möglich. Die Stärken beider Ansätze münden in das Leitbild „Partei in Bewegung“. Das heißt, dass wir selber in Bewegung, also eine lernende Organisation sind. Dass wir zudem im vertrauensvollen Austausch mit den fortschrittlichen Bewegungen sind. Und schließlich steht es für den Anspruch, nicht nur das Richtige zu fordern, sondern es auch in der Gesellschaft in Bewegung zu setzen. Für mich bedeutet das, auf „Regieren in Bewegung“ zu setzen. Ein Beispiel dafür ist der Mietendeckel in Berlin. Seine Durchsetzung gelang, weil es einerseits kämpferische Mieteninitiativen gibt und andererseits LINKE in Regierungeverantwortung, die durch den Druck von der Straße die Koalitionspartner überzeugen konnten.

Revolutionäre Realpolitik
In der Kontroverse zwischen Reform und radikalem Umbruch ist für mich Rosa Luxemburgs Vorstellung der „revolutionären Realpolitik“ entscheidend. Also um jede Verbesserung im Hier und Heute zu kämpfen und zugleich zu wissen, dass man radikal an die Wurzeln der Ursachen gehen muss. Das heißt auch, die Eigentums- und Produktionsverhältnisse zu verändern. Allerdings – und hier waren wir stark von Antonio Gramsci inspiriert – sollte dieses An-die-Wurzeln-gehen immer Anknüpfungspunkte im Alltagsverstand haben. Ein aktuelles Beispiel dafür ist, wenn wir die Eigentumsfrage angesichts der Debatten um Impfstoffe an Patenten thematisieren und herausarbeiten, dass Patente die Privatisierung von medizinischem Wissen sind, die den weltweiten Einsatz behindern.

ERREICHTES

In den vergangenen Jahren haben wir einiges in die Wege geleitet, neue Konzepte (sozial-ökologischer Umbau, demokratischer Sozialstaat, wirtschaftliches Umsteuern) entwickelt und neue Praxen verankert. Wir wollten, dass die Partei im Wissen um die großen linken Traditionen für die Zukunft aufgestellt ist. Dazu gehört neben der Zuwendung zu Zukunftsthemen, wie Digitalisierung, Klimaschutz und Feminismus, methodisch auf der Höhe der Zeit zu sein und die Produktivkräfte auf der Höhe der Zeit zu analysieren.

Die wichtigste Aufgabe bestand darin, dass DIE LINKE in der Gesellschaft als ernstzunehmende Kraft wahrgenommen wird. Und das ist nicht nur eine Frage von Prozenten, sondern davon, wie stark unsere Ideen in der Gesellschaft aufgegriffen werden. Als ich für mich bilanzierte, war mir folgender Satz besonders wichtig: „DIE LINKE ist inzwischen ein fester und anerkannter Bestandteil des politischen Lebens dieses Landes“. Wieso ist das so wichtig? Linke Ideen waren in der Bundesrepublik lange verpönt. Wer im öffentlichen Dienst arbeiten wollte, musste abwägen, wie offen er mit seiner Parteimitgliedschaft umgeht. Als ich in die PDS eintrat, war dies noch eine Entscheidung für eine Partei, die ausgegrenzt wurde. Es hieß: „Werft erst mal eure Kapitalismuskritik über Bord und eure Friedenspolitik – dann können wir mit euch reden.“ Heute sind wir aus der politischen Landschaft nicht mehr wegzudenken. Und das ohne Kniefall vor dem Kapital, ohne Kniefall vorm Militarismus.

Wenn ich davon rede, dass wir ein anerkannter Teil des politischen Lebens sind, geht es auch darum, dass der demokratische Sozialismus als eine ernstzunehmende Option gilt, für die man sich engagieren kann, ohne ausgegrenzt zu werden. Ich selber habe in meiner Schulzeit zwei Systeme erlebt. Als mein jüngerer Bruder zur Schule ging, galt der Kapitalismus als das Ende der Geschichte. Heute glauben das immer weniger. Für die Generation meiner Tochter wünsche ich mir, dass sie in einer Gesellschaft aufwächst, in der der demokratische Sozialismus eine ernsthafte Option ist. Es gibt unter uns Mitglieder, da fängt die Begeisterung erst so richtig  an, wenn man für etwas angegriffen wird. Ich kann das gut nachempfinden. Aber wir müssen auch jene fürs Mitmachen gewinnen, die ihrem Beruf außerhalb der Partei nachgehen wollen und die ungern ausgegrenzt werden.

Alles, was wir in den vergangenen Jahren erreicht haben, die jungen neuen Mitglieder, die Modernisierung der Partei, die Zuwendung zu Zukunftsthemen wie Digitalisierung – all das haben wir in Zeiten erreicht, die für unsere Partei nicht einfach waren.

Als DIE LINKE sich neu gründete, stand die Agenda 2010 im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte. In dieser Anordnung war es leicht, mit sozialen Themen präsent zu sein. Mit denen zu kämpfen, die unten sind und die ansonsten von denen da oben nicht viel zu erwarten haben – das war und ist unsere DNA.

Doch durch Umbrüche in der Gesellschaft standen in den letzten Jahren andere Fragen im Mittelpunkt der allgemeinen Aufregung: die Flüchtlingsfrage, die drohende Klimakrise, die Bedrohung von rechts und zu guter Letzt die Coronakrise.

Als Parteiführung haben uns diese Krisen und die darauf folgenden Debatten wahrlich nicht ausgesucht. Doch wir mussten uns dazu jeweils verhalten. Unser Anliegen war dabei, all diese Fragen mit der sozialen Frage zu verknüpfen, aber sie nie gegeneinander auszuspielen.

ERINNERUNGSMOSAIK

Zu meinen besonders eindrücklichen Erinnerungen gehört, wie wir gemeinsam vom Parteivorstand zur Demo „Deutsche-Wohnen-enteignen“ zogen und uns freuten, dass das Stellen der Eigentumsfrage auf so viel Widerhall in der Bevölkerung stößt. Und dann die Freude, als einige Zeit später auf den Titelseiten einer Berliner Zeitung stand „Mieter, alle mal Lompscher knutschen“, weil sie den Mietendeckel in die Wege geleitet hatte.

Oder der Abend der Thüringen Wahlen, als Jung und Alt vor Freude über das tolle Wahlergebnis zu tanzen anfingen und wir zugleich ahnten, wie schwer es wird, die Wiederwahl von Bodo als Ministerpräsident im Parlament durchzubringen. Oder nehmen wir den 26. Mai 2019, als sich am Wahlabend in Bremen andeutete, dass Bremen das erste westdeutsche Bundesland mit linker Regierungsverantwortung wird. Und zugleich verstellte all diese Freude nicht den Blick darauf, dass das Wahlergebnis zu den Europawahlen am gleichen Tag wirklich besorgniserregend ausfiel. Und noch heute treibt mich die Frage um, ob wir uns damals nicht besser für die Republik Europa hätten entscheiden sollen. Zu den Höhepunkten gehörten für mich auch die erste Zukunftskonferenz und die Digitalisierungskonferenz, nicht nur, weil es dort Roboter-Fußball gab, sondern weil wir uns dort Zukunftsthemen zugewandt haben. In meinem persönlichen Fotoarchiv gibt es zwei Fotos, bei deren Anblick ich immer automatisch zu lächeln anfange. Beide entstanden auf einem Neujahrsempfang, auf dem namhafte Autorinnen wie Carolin Emcke und bekannte Satirikerinnen wie Idil Baydar mit uns feierten und ihr Kommen auch ein Zeichen von Anerkennung für uns war.

AUSGEBREMSTES

Als ungeduldiger Mensch bedauere ich, dass einige Vorhaben so lange brauchen. So dauert es in einigen Regionen sehr lange, bis die neuen Methoden, wie Haustürbesuche und Organizing, auch wirklich in der Breite unserer Partei zur Anwendung kommen.

Zu einer Bilanz gehört zudem die nüchterne Erkenntnis, dass einige mühsam erarbeiteten Fortschritte wieder konterkariert wurden. Angesichts all der Sirenengesänge, DIE LINKE sei eine Partei ohne Jugend und ohne Zukunft, war mir die Modernisierung eine Herzensangelegenheit. Das Ziel lautete: Junge Menschen, die die Welt verändern wollen, sollten in der LINKEN die erste Adresse sehen. Darin waren wir sogar erfolgreich. Immerhin ist der Anteil der unter 30-Jährigen bei uns inzwischen höher als bei allen anderen im Bundestag vertretenen Parteien. Doch diese Fortschritte wurden angegriffen mit der Unterstellung, wir würden uns nur um urbane Hipster kümmern. Dabei kamen vor allem junge Pflegekräfte zu uns und Menschen, die angesichts des Rechtsrucks Flagge für Solidarität zeigen wollten.

Noch heute ärgert mich die Unterstellung: Bernd und ich würden uns allein um die urbanen Hipster kümmern.  Und das, wo Bernd als Gewerkschafter sein ganzes Leben sich für Beschäftigte eingesetzt hat und sich auch persönlich sehr in der Kampagne gegen den Pflegenotstand engagierte. Ich habe seit 2003 für die PDS federführend die Proteste der Erwerbslosen gegen Hartz IV mitorganisiert, kämpfe seit 16 Jahren im Bundestag gegen Armut und man muss erstmal eine Abgeordnete finden, die im Bundestag häufiger gegen Hartz IV zu Felde gezogen als ich.

Wer hat eigentlich diese schräge Argumentationsfigur gesetzt, dass Kampf gegen Diskriminierung gleich Entfremdung von der Arbeiterklasse bedeutet? Das Problem entsteht doch erst dann, wenn einseitig auf das eine oder das andere gesetzt wird. Sozialer Fortschritt wird nicht dadurch wahrscheinlich, dass wir auf die Forderung nach Freiheitsrechten verzichten, sondern dadurch, dass sich Menschen hinter gemeinsamen Ideen versammeln. Dafür braucht es viele und wir werden nicht mehr, wenn wir uns spalten.

Für das analytische Auseinandernehmen von Milieus ist die Soziologie zuständig. Eine ehrenwerte Wissenschaft. Ich bin aber nicht in DIE LINKE eingetreten, um Soziologie zu betreiben. Meine Lehre aus der Milieu-Debatte lautet: Weniger Hobby-Soziologentum, dafür mehr gemeinsame soziale Kämpfe.

Bernd und ich mussten einige Konflikte austragen, auch weil sie uns aufgedrückt wurden. Dadurch haben wir uns in den vergangenen Jahren nicht nur Freunde gemacht. Das Gute ist, zentrale Konflikte sind nun geklärt. So sprechen wir jetzt in der Migrationsfrage mit einer Stimme. Davon zeugt die gemeinsame Erklärung „Solidarität heißt: niemanden vergessen!“ zur Aufnahme von Geflüchteten aus Moria, die im Juni 2020 von Partei- und Fraktionsspitze, von Europaabgeordneten, sowie den drei linken Landesverbänden in Regierungsverantwortung vorgestellt wurde.

ANSTEHENDES

Zu dem, was möglich gewesen wäre, aber nicht gelangt, gehört, dass wir uns bundesweit dauerhaft im zweistelligen Bereich aufstellen. Die Qualität unserer Inhalte hätte das auf jeden Fall verdient. So manches Mal dachte ich: „Es ist zum Mäuse melken.“ Immer dann, wenn unsere Umfragewerte stiegen, ja zweistellig wurden, passierten interne Fehler oder tauchten externe Krisen auf, die uns ausbremsten. Hier müssen wir alle zusammen besser werden.

Kurz vor der Pandemie standen wir bei 10 Prozent. Jetzt stehen wir eher bei 7 oder 8. Das ist definitiv zu wenig. Ich meine, das liegt an der Corona-Situation und daran, dass wir als LINKE in der Frage der Durchsetzung noch unentschieden sind. Eine Partei, die für sich die Regierungsfrage geklärt hat, hat objektiv andere Möglichkeiten als eine Partei, die in dieser Frage aus guten wie schlechten Gründen noch unentschieden ist.

Seit 2005 ist die neue LINKE nun im Bundestag und macht dort aus der Opposition heraus Druck für das, was so notwendig wäre. Unsere Bilanz beim Themensetzen kann sich sehen lassen. So manche Alternative, die wir als erste ins Gespräch brachten, erfährt inzwischen breiten Zuspruch in der Gesellschaft (Kampf gegen Pflegenotstand, Überwindung von HartzIV, Kindergrundsicherung, Arbeitszeitverkürzung in Form der Vier-Tage-Woche, Verbot von Rüstungsexporten etc.) Doch immer wieder mussten wir erleben, dass die Regierungsmehrheiten das Notwendige blockieren. Deshalb steht nun eine neue, vielleicht die bisher größte Herausforderung vor uns: der Kampf um #NeuelinkeMehrheiten und Regieren in Bewegung im Bund zu wagen. Es kommt jetzt darauf an, soziale Mehrheiten links der Union zu erkämpfen und zu nutzen, um die sozialen Sorgen der Menschen zu entschärfen und sicherzustellen, dass niemand mehr Sorge haben muss, über den Monat zu kommen. Und zugleich gilt es, mit Klimagerechtigkeit und Friedenspolitik dafür zu sorgen, dass wir alle eine Zukunft auf diesem Planeten haben.

AUFBRUCH

Unsere Partei hat zur Instanz der Vorsitzenden ein widersprüchliches Verhältnis. Einerseits sollen die Vorsitzenden möglichst nichts entscheiden, geschweige denn den Fraktionen etwas vorschreiben. Andererseits herrscht die allgemeine Erwartung, dass Vorsitzende alle Probleme lösen. Und wenn irgendetwas schief geht neigen gerade Abgeordnete dazu, schnell alle berechtigten Sorgen vorwurfsvoll an die Parteispitze zu adressieren. Zwischen beiden Haltungen besteht objektiv ein logischer Widerspruch. Bernd und ich haben gelernt, das nicht persönlich zu nehmen. Für die Zukunft empfehle ich der Partei um ihrer selbst willen einen anderen Umgang. Bei der bevorstehenden Vorsitzendenwahl sollte es um ein Signal des Aufbruchs gehen. Und der Aufbruch beginnt damit, dass die beiden neuen Vorsitzenden viel Rückenwind bekommen.

Die neuen Vorsitzenden waren an keinem der bisherigen Konflikte beteiligt. Das heißt, ganz gleich, auf welcher Seite der Konflikte Mitglieder bisher standen, wir können alle nun einen Strich darunterziehen. Wir alle können uns nun hinter den neuen Vorsitzenden versammeln und gemeinsam den Aufbruch in Angriff nehmen. Also, möge die Partei von Mecklenburg-Vorpommern bis Bayern, vom Saarland bis Sachsen sich hinter ihnen versammeln. Damit wir gemeinsam DIE LINKE noch stärker machen und unsere Ideen und Alternativen noch wirkungsmächtiger werden. Diese, unsere Zeit ruft nach einer starken LINKEN.