Ein Zitat aus dem Aaron-Sorkin-Film »The Newsroom« geht mir einfach nicht aus dem Kopf: »Weißt du, warum die Linken immer so unbeliebt sind? Weil sie verlieren. Wenn sie so verdammt klug sind, warum verlieren sie dann andauernd?«
Als urbane Fahrradaktivist*innen sind wir klug oder zumindest gut informiert. Wir wissen, wie wichtig das Radfahren ist. Wir wissen Bescheid über fahrradfreundliche Städte in aller Welt und darüber, wie positiv sie sich auf Gesundheit und Wohlbefinden, Wirtschaft und Verkehr, Umwelt und Klima, Gerechtigkeit und persönliche Freiheit auswirken. Aber wenn wir so klug sind, warum zur Hölle scheitern wir die ganze Zeit? Warum bekommen wir bestenfalls ein paar Kilometer Markierungen auf dem Asphalt oder, wenn wir Glück haben, ein paar von Plastikpollern geschützte Radwege?
Momentan betteln wir um Krümel
Radinfrastruktur wird fast nur gebaut, wenn schon etwas passiert ist. Nach (Beinah-)Unfällen mit Autos fordern wir als Einzelne oder als Lobbygruppen, einen bestimmten Streckenabschnitt umzugestalten. Wir versuchen, die lokale Bevölkerung und die Kommune auf unsere Seite zu ziehen, und schlagen Veränderungen vor, die so kostengünstig und kleinteilig wie möglich si nd, um als »realistisch« durchzugehen. Was ist daran falsch? Nun, es ist so, als ob man zum Bau einer großen Brücke nach dünnen Ästen und Zweigen verlangt – sie sind nutzlos, können kaum Gewicht stemmen und sind leicht zerstörbar. Eine gute Radinfrastruktur wird in dieser Strategie zum Almosen – sie erscheint immer wie ein Nischeninteresse und nicht wie ein substanzieller Beitrag zur Verkehrswende. Denjenigen, die dafür Verkehrsraum und Steuergelder opfern, kommt es so vor, als würden sie das für einen guten, aber nutzlosen Zweck tun. Wenn Straßen, Autobahnen oder Brücken gebaut werden, geht man jedoch anders vor: Sie werden nicht nach und nach für jeden Stadtteil und jede Kommune geschaffen. Man baut nicht hier und da auf Forderung einer lokalen Initiative ein wenig Straße und lässt dazwischen kilometerlange Lücken. Genau so läuft jedoch die »Planung« unserer Radinfrastruktur ab. US-amerikanische Städte sind in der Regel nur sporadisch mit Radwegen versehen. Die wenigen, die es gibt, sind meistens nur aufgemalt und als Spur zwischen den fließenden Verkehr und parkende Autos gequetscht, die jederzeit ihre Türen öffnen können – ein Abenteuer, dem sich vor allem erfahrene Radler*innen stellen. Oft genug sind diese Spuren gleich ganz zugestellt – mit Polizeiautos, Lieferwagen, Filmteams oder ganz normalen Pkw, deren Fahrer*innen dafür kaum Strafzettel befürchten müssen. Eine derartige »Infrastruktur« für Fahrräder trägt weder dazu bei, aktive Radfahrer*innen zu schützen, noch kann sie weite Teile der Bevölkerung ermuntern, aufs Rad umzusteigen. Warum geben wir uns mit solchen Krümeln zufrieden? Die Anzahl der Menschen, die Rad fahren oder andere Formen von Mikromobilität wie Scooter oder Skateboard nutzen, ist keineswegs gering und nimmt weiter zu. Es handelt sich um eine riesige Bewegung, die allerdings räumlich getrennt, machtlos und zersplittert ist. Denn ein paar Radwege hier und da versprechen eben nicht den Wandel, denwir für unsere Umwelt, unsere Sicherheit und unser Wohlbefinden brauchen. Niemand hat Lust, für ein paar dürre Äste in den Ring zu steigen. Auf diese Weise gibt es wenig Chancen, eine starke Bewegung für Mikromobilität voranzubringen.
Denn gleichzeitig werden in den Automobil- und Lastverkehr auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene Milliarden gepumpt. Ohne groß nachzudenken, lassen Regierungen gewaltige Summen zur Erweiterung von Highways springen – man denke nur an die 1,6 Milliarden US-Dollar, die gerade in Los Angeles für eine weitere Spur auf der Interstate 405 ausgegeben wurden, obwohl längst klar ist, dass sie die Fahrtzeiten nicht spürbar verringern wird. Während man für die Automobilinfrastruktur riesige Summen lockermacht – und so manches Projekt völlig nutzlos bleibt oder den Verkehr noch verschlimmert – bleiben für robuste Radwegnetze nur Krümel übrig. Wie kann das sein?
Die Maxime von Infrastrukturprojekten: Je größer, desto besser
Infrastrukturprojekte folgen einer klaren Logik: je größer das Projekt, desto größer die Ingenieurs- und Baufirmen, die sich um lukrative Verträge bemühen, desto mehr Jobs, desto feierlicher der Spatenstich, desto besser die PR für Politiker*innen. Teure Projekte kommen in die Medien, interessieren die Bevölkerung, bleiben im Gedächtnis. Unsere Tweets und Meinungsspalten mögen den Nutzen autofreier Mobilität anpreisen, aber unsere Forderungen und Budgetvorstellungen bleiben hinter diesem Anspruch meilenweit zurück. Indem wir unsere Forderungen kleinhalten, geben wir uns mit einer Nischenexistenz zufrieden und stützen stillschweigend das Auto als vorherrschende Mobilitätsform. Kein Wunder, dass wir bei der Haushaltsplanung kaum eine Rolle spielen. Noch dazu lassen wir Milliarden liegen: Viele Initiativen in den USA tun wenig dafür, Mittel aus regionalen und nationalen Verkehrsfonds zu erhalten. Ich selbst habe mich vor einer Weile in die Haushaltsplanung von Los Angeles eingemischt. Dort stand eine wohlmeinende Verwaltung vor der Entscheidung, die Radinfrastruktur auszubauen oder einen Knotenpunkt für das Bikesharing-Projekt der Stadt einzurichten. Offenbar gab es keine ausreichenden Mittel für beides – obwohl im selben Haushalt ein dauerhafter jährlicher Betrag von einer Million US-Dollar für die Neupflasterung von Straßen vorgesehen war. Ich schlug vor, Teile der Straßenreparaturmittel für die beiden Radprojekte einzusetzen. Das würde den Autoverkehr reduzieren, der den schnellen Belagverschleiß verursacht – die Kosten für die Reparaturen würden also sinken. Meine Vorschläge wurden abgelehnt. Sogar für einen fahrradfreundlichen Stadtrat war es undenkbar, Mittel des »gewichtigen« Autoverkehrs für die weniger gewichtige Radinfrastruktur umzuwidmen.
Es scheint fast, als ob wir Stadtplaner*innen und Radaktivist*innen unser Anliegen nicht ernst genug nehmen und unsere Vorstellungen von Lobbyarbeit, unsere planerische Fantasie freiwillig begrenzen. In landesweiten Debatten kommen wir kaum vor, nicht einmal da, wo es um den billionenschweren Green New Deal geht. Bewegungen, die wirklich etwas wollen, bringen ernstzunehmende Forderungen auf den Verhandlungstisch. Wir müssen groß denken und Großes fordern. Wer könnte unser Vorbild sein? Vielleicht sollten wir uns ausgerechnet an der Autoindustrie orientieren.
Wie kam es zum Siegeszug des Autos in den USA?
Wie das Portal Vox schreibt,[1] waren es in den 1930er Jahren die Auto- und Ölfirmen, die das US-amerikanische Highway-System voranbrachten: »Vertreter der Autoindustrie entwarfen einen ehrgeizigen Plan weitläufiger, eleganter Highways. Sie sollten über Auffahrten zugänglich sein und das Land kreuz und quer durchschneiden. Diese Vision wurde in einem massiven, 4 000 m2 umfassenden Diorama präsentiert, das General Motors unter dem Namen ›Futurama‹ für die Weltausstellung von 1939 in New York baute.« Autofirmen zogen also nicht bettelnd von Kommune zu Kommune oder Region zu Region. Stattdessen propagierten sie einen umfassenden Plan für futuristische Highways im ganzen Land. Die Highways sollten direkt durch die Städte führen – ohne Rücksicht auf unzählige Häuser und Gemeinden, die dafür hätten abgerissen werden müssen. Sie wandten sich direkt an die Regierung und die Öffentlichkeit und betrieben Lobbyismus im Kongress und gegenüber Präsident Eisenhower. Letztendlich gab man über 425 Milliarden US-Dollar für ein landesweites Straßennetz von Küste zu Küste aus.