»Nulltarif im Stadtverkehr!« – mit dieser Forderung versuchen wir seit zwei Jahren einen doppelten Spagat: Zwischen sozialer Frage und Ökologie ebenso wie zwischen pragmatischer Kommunalpolitik und antikapitalistischer Utopie. Entstanden ist unsere Kampagne für einen kostenfreien öffentlichen Nahverkehr aus zwei zunächst getrennten Debatten, die uns die letzten Jahre beschäftigt haben: Grundeinkommen und Klimawandel. An der Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen überzeugte uns vor allem das Konzept
»Sozialpolitik als soziale Infrastruktur« (www.links-netz.de): Alle Menschen haben ein Recht auf lebensnotwendige Güter wie Bildung oder Gesundheitsversorgung. Die Gesellschaft stellt diese Güter kostenlos zur Verfügung, unabhängig von Erwerbstätigkeit und ohne Vorbedingungen. Ein solcher radikaler Reformismus wartet nicht auf die Revolution, sondern kann heute anfangen. In der Klimadebatte fallen soziale Rechte meist unter den Tisch. Im Vordergrund stehen oft technologische Fragen: erneuerbare Energien, Elektroautos etc. Umweltschutz ist hierzulande etwas für Leute, die es sich leisten können, im Bioladen einzukaufen und auf ihrem Eigenheim (subventionierte) Solarzellen zu installieren. Bürgerliche und grüne Klimapolitik setzt auf hohe Energiepreise und verlangt von den »kleinen Leuten«, den Gürtel enger zu schnallen und zu »verzichten«. Dabei wird ignoriert, dass Arme (lokal wie global) am wenigsten zum drohenden Öko- Kollaps beigetragen haben und trotzdem am heftigsten die Folgen ausbaden müssen. Die Klimakrise ist auch eine soziale Frage. Umgekehrt ignorieren keynesianistische Wachstums-Hoffnungen ebenso wie die linksradikale Forderung »Alles für Alle!«, dass unsere bisherige Lebensweise an ihre ökologischen Grenzen gestoßen ist. Ziel müsste es sein, Strukturen so zu ändern, dass eine umweltfreundlichere Lebensweise für alle möglich wird. Andere Verhältnisse ermöglichen anderes Verhalten, nicht umgekehrt.
Soziale und ökologische Perspektiven gehören zusammen. Die Kampagne Nulltarif im Stadtverkehr! in Tübingen sollte dies exemplarisch durchspielen. Hier eine Zwischenbilanz.
Nulltarif für Umverteilung und Lebensqualität
Ein Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr hat einen überdurchschnittlichen Nutzen für Arme, Familien mit Kindern etc. Es wäre ein Stück Umverteilung von oben nach unten. Leute, die auf den Bus angewiesen sind, aber ihren Besuch im Stadtzentrum auf morgen verschieben, weil die Vier-Euro-Rückfahrkarte zu teuer ist, könnten mobiler werden. Gleichzeitig könnten mehr Menschen das private Auto stehen lassen und auf den Stadtbus umsteigen. Das wäre ein Gewinn an Lebensqualität für alle: weniger Stress, Unfälle, Lärm und Gestank, mehr Lebensqualität in der Stadt. Straßen und Plätze würden als öffentlicher Raum zurückgewonnen. Und eine wirksame Reduzierung des Autoverkehrs würde sehr viel schneller und viel mehr CO2 einsparen als alle Gebäudesanierungs-Programme (die trotzdem richtig sind). Angesichts der Folgekosten des motorisierten Individualverkehrs (Straßenbau, Umweltschäden, Unfallkosten) würde sich eine solche Umstellung auch volkswirtschaftlich auszahlen: mehr Mittel für eine »soziale Infrastruktur«. Voraussetzung wäre allerdings ein kräftiger Ausbau des Bahn- und Bus- Angebots, vor allem auf dem Land, und der politische Kampf gegen die Autolobby. Unsere Nulltarif-Forderung richtet sich also »nach oben«, an den Staat und die kommunalpolitisch Verantwortlichen, die das Geld zur Verfügung stellen müssten. Sie setzt auch »unten« an, indem sie aufruft, eigene Konsumgewohnheiten in Frage zu stellen: Kollektiv organisierte Mobilität statt individuelle Verbrennungsmotoren.
Ein örtlicher Nulltarif wäre hier und jetzt machbar. Die bestehenden Produktions- und Eigentumsverhältnisse blieben unangetastet, wie auch die Arbeitsbedingungen der BusfahrerInnen. Innerstädtischer Einzelhandel, Gastronomie und Kultureinrichtungen könnten profitieren. Im Sinne einer »Richtungsforderung « weist der Nulltarif auch über den Kapitalismus hinaus: Mobilität würde nicht mehr als Ware gehandelt, sondern als soziales Grundrecht anerkannt.
Die Kampagne
Im Frühjahr 2008 veröffentlichten wir den Vorschlag für eine Kampagne TüBus umsonst – Nulltarif im Stadtverkehr! und luden umwelt- und verkehrspolitische Gruppen, soziale Initiativen, linke Gruppen und Einzelpersonen dazu ein. Dabei ließen wir offen, was für uns im Vordergrund stand: die baldige Umsetzung der Nulltarif-Forderung (oder etwaiger Kompromisslösungen wie z.B. preisgünstige Sozialtickets) oder die politische Bewusstseinsbildung und Propaganda. Die politischen Rahmenbedingungen schienen günstig. Tübingen (85000 EinwohnerInnen) hat bereits ein relativ gut ausgebautes Busnetz. Im Gemeinderat gibt es eine rechnerische Mehrheit von Grünen, SPD und der Linken, und der grüne Oberbürgermeister Boris Palmer profiliert sich bundesweit als Umwelt- und Verkehrspolitiker. Palmer befürwortet einen Nulltarif prinzipiell, hält ihn aber kommunalpolitisch derzeit nicht für durchsetzbar.1