Die Blechlawine, die sich durch die lateinamerikanischen Metropolen wälzt, heizt die Klimakrise an – und durch deren Folgen werden die ökologischen und gesundheitlichen Probleme noch gravierender: Unwetter und Regenfälle werden immer intensiver und die Trockenzeiten immer länger. Während der Trockenphase steigt die Konzentration der Schadstoffe in der Luft und lässt die Abgase leichter in die Atemwege eintreten. Zu bestimmten Jahreszeiten nicht mehr frei atmen zu können – das ist längst Normalität geworden für die Stadtbevölkerung.

Betrachten wir beispielsweise den Fall São Paulo, der bevölkerungsreichsten Stadt Amerikas. Allein innerhalb der offiziellen Stadtgrenzen leben hier mehr als 12 Mio. Menschen. Jedes Jahr leiden hier Millionen Menschen während der Trockenzeit unter Atembeschwerden. Und die Stadt ist eine der wenigen in Lateinamerika, wo der Schadstoffgehalt überhaupt gemessen wird. Die angewandten Höchstwerte liegen jedoch weit über den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation. Nicht selten werden Atemwegsprobleme bereits durch die von den Behörden als „normal“ eingestuften Belastungen hervorgerufen. Kinder und alte Menschen sind davon für gewöhnlich am stärksten betroffen. Überfüllte Kliniken mit Kindern an Inhalationsgeräten sind im Winter Alltag. Im Sommer wird die Luft durch die Regenfälle gereinigt. Doch das bringt andere Probleme mit sich. Für den enormen Verkehr wurde die Stadt praktisch vollständig mit Beton und Asphalt versiegelt und massive Überschwemmungen sind die Folge. In den meisten Stadtteilen gibt es keine Bäume oder andere Vegetation mehr, die das Regenwasser aufnehmen könnte. Im Februar 2020 gab es so starke Regenfälle, dass die beiden verschmutzten Hauptflüsse der Stadt ganze Stadtteile überschwemmten. Jedes Jahr verlieren hunderte Menschen ihre Häuser, einige auch ihr Leben – und es sind in aller Regel diejenigen, die ohnehin am wenigsten haben.

Die Versiegelung, die hier zur tödlichen Falle wird, ist ein Produkt der Stadtplanung der 1940er und 50er Jahre. Als es im Zuge des Urbanisierungsprozesses zu ersten Stauproblemen kam, ließ der damalige Bürgermeister im großen Stil die Straßen für den Autoverkehr verbreitern. Die Flussauen wurden mit Fahrspuren überzogen und die Flüsse kanalisiert. Die restlichen Überschwemmungsgebiete wurden von informellen Siedlungen und Favelas in Beschlag genommen. Diese Gegenden sind dem Wasser, das keinen Weg in die Erde findet, am stärksten ausgesetzt: einige der ärmsten Gegenden der Stadt verwandeln sich jedes Jahr in einen See aus Schlamm, Abwasser und Schmutz.

Diese Form der Stadt- und Verkehrsplanung hat also dramatische soziale Folgen, die als eine Form von  Klimaungerechtigkeit, ja sogar Klimarassismus bezeichnet werden müssen. Denn die menschengemachten Umweltkatastrophen treffen arme Menschen mit viel größerer Wucht als reiche. Gerade im Verkehrssektor wird deutlich, dass soziale und ökologische Frage nicht zu trennen sind. Die Gleichgültigkeit angesichts der katastrophalen Folgen einer Politik, die sich allein an den Bedürfnissen der Reichen orientiert, nimmt hier perverse Züge an.

Das Modell der Autostadt

São Paulo ist zwar die größte, aber bei weitem nicht die einzige lateinamerikanische Stadt, die ein Urbanisierungsmodell verfolgt und forciert, das den motorisierten Individualverkehr vor dem kollektiven öffentlichen Nahverkehr priorisiert – und dieses Modell aus den Vereinigten Staaten importiert hat.

Südlich von Henry Fords Heimatland, von Mexico Stadt bis Buenos Aires entstehen seit Jahrzehnten immer breitere Straßen, Tankstellen, und Parkplätze: die Infrastruktur für private, motorisierte Fortbewegung wird immer weiter ausgebaut, statt in kollektive, öffentliche Transportsysteme zu investieren. Dadurch steigt auch die Anzahl der Fahrzeuge immer weiter an und der Verkehr wird immer schlimmer. Ein endloser Kreislauf, gerade so, als würde man versuchen, Übergewicht dadurch zu bekämpfen, dass man den Gürtel lockert.

Brasilien ist ein Beispiel dafür, wie die Autobahnpolitik in Lateinamerika immer weiter expandierte und schließlich außer Kontrolle geriet. 1998, bei einer Bevölkerung von 169 Millionen waren mehr als 24 Millionen Autos und Motorräder registriert. Zwanzig Jahre später sind es bereits 99 Millionen, bei einer Bevölkerungszahl von 208 Millionen. Ein Anstieg mit tödlichen Folgen: Allein in Brasilien starben  zwischen 1996 und 2016 rund 768 Tausend Personen bei Verkehrsunfällen. Der Verkehr ist nach dem Schusswaffengebrauch die zweithäufigste Todesursache.

Hieran etwas zu verändern, ist alles andere als einfach: Wie in anderen Teilen der Welt ist es auch in Lateinamerika gang und gäbe, dass Regierungsvertreter*innen der Autoindustrie nahestehen. In Brasilien ist so seit mehr als einem Jahrzehnt eine aggressive Politik der Subventionen und Steuergeschenke an der Tagesordnung: neben Investitionen in das Straßennetz wird auch die Entwicklung und Produktion von Fahrzeugen gefördert. Allein im letzten Jahr kamen auf 2,4 Mio. neu zugelassene PKW und kleinere Nutzfahrzeuge gerade einmal 19.000 Busse.

Uberlastung statt Entlastung

Dass das Modell der Autostädte – trotz anderslautender Beteuerungen – grundlegend gescheitert ist, zeigen nicht nur die jährlich wiederkehrenden Abgas- und Überschwemmungskrisen, sondern die alltägliche Ineffizienz des Verkehrssystems. Für die übergroße Mehrheit bedeutet es lange Staus, Verspätungen und Stress. Statt einer Verkehrswende ist jedoch aktuell eine „Modernisierung“ des autobasierten Verkehrssystems zu beobachten.

Uber ist zum Synonym für ein dieses neue Transportsystem geworden. Das Unternehmen hat sich gemeinsam mit anderen Anbietern von digitalen Transportapps auf dem Kontinent in den letzten Jahren schnell verbreitet. Die Zahl der Fahrer*innen und Auslieferer*innen, die ohne festes Gehalt und Sozialversicherung für digitale Unternehmen arbeiten, stieg sprunghaft an. Dabei handelt es sich in der Mehrzahl um junge Menschen, die lange Arbeitstage in Kauf nehmen müssen und versuchen, in kürzester Zeit so viele Lieferungen wie möglich zu erzielen.

Die „Uberisierung“ ist ein Geschäftsmodell, dass auf diesen prekären Arbeitsbedingungen basiert. Es prosperierte in dem größeren Kontext neoliberaler Politik, die mit den Niederlagen der progressiven Regierungen wiedererstarkte und auf eine Schwächung der Arbeitnehmer*innen-Rechte abzielte. In diesem Umfeld konnten kreativere, unabhängige und unternehmerische Formen der Ausbeutung der Bedürftigsten entstehen. Nach Zahlen der Internationalen Arbeitsorganisation gab es Ende 2019 in Lateinamerika und der Karibik eine Arbeitslosenquote von durchschnittlich 8,1%. Von den 15 bis 24-jährigen hatte etwa jede*r Fünfte keine Arbeit. In Brasilien erreichte die Jugendarbeitslosigkeitsquote zuletzt sogar 28,5%. Daneben muss auch der hohe Anteil an informeller Beschäftigung berücksichtigt werden, der in Brasilien bei rund 41 Prozent liegt.

Es ist daher kein Zufall, dass Brasilien heute der größte Markt für die Expansion von Uber und vergleichbaren Unternehmen darstellt. Angesichts des Stellenmangels versuchen tausende Personen ihr Überleben durch Fahren zu sichern, selbst wenn sie dabei auf einen formalen Arbeitsvertrag verzichten müssen.

Mexiko-Stadt, São Paulo und Rio de Janeiro sind gegenwärtig die drei Städte mit dem höchsten Aufkommen von Uber-Fahrten weltweit. 10% der brasilianischen Gesamtbevölkerung nutzen Uber aktiv und es gibt bereits 600.000 „Partner-Fahrer*innen“, wie das Unternehmen die von ihm verwalteten Dienstleister*innen bezeichnet.

Abgesehen davon, dass das Unternehmen von der Vermittlung jeder einzelnen Serviceleistung profitiert, indem es die Route und den davon abhängigen Fahrpreis selbst festlegt, will Uber keinerlei formelle Arbeitsverhältnisse mit den Fahrern*innen eingehen. Das Unternehmen behauptet, lediglich eine Plattform anzubieten, auf der sich Passagiere und Fahrer*in treffen können und sieht die Menschen am Steuer als selbstständige Unternehmer*innen. Behörden und Regierungsvertreter*innen haben dies angezweifelt und das Unternehmen sogar versucht, gerichtlich dazu zu zwingen, den Fahrer*innen Arbeitsrechte und soziale Absicherung zuzugestehen. Den Unternehmen ist es bisher jedoch relativ gut gelungen,  sich der Verantwortung zu entziehen – mit nur einer gewichtigen Ausnahme: Kolumbien hat Uber infolge zahlreicher Klagen über unlauteren Wettbewerb und Mißachtung von Gesetzen für den Personentransport Anfang 2020 verlassen.

Uber ist zwar der Marktführer, jedoch gibt es daneben viele weitere kleine Unternehmen, die zum Teil Waren- und Essensauslieferungen anbieten. Sie alle arbeiten nach ähnlichen Prinzipien: Sie verbinden Endkund*innen auf der Suche nach niedrigen Preisen mit prekären Arbeiter*innen, die bereit sind, für einen niedrigen Lohn vielen in Kauf zu nehmen.

Der Erfolg dieses Systems beruht aber nicht nur auf der mit öffentlichen Mitteln subventionierten Straßeninfrastruktur, der hohen Zahl an privaten Fahrzeugen und der hohen Arbeitslosigkeit. Man muss auch bedenken, dass die Uberisierung für einen großen Teil der Bevölkerung überhaupt erst den Zugang zu kostengünstigem motorisierten Individualtransport ermöglicht hat. Dieser war zuvor nur jenen vorbehalten, die sich eigene Autos, Motorräder oder die Taxifahrt leisten konnten. Die viel niedrigeren Preise, die teilweise sogar die des öffentlichen Verkehrs unterbieten, haben so in gewisser Weise zu einer „Demokratisierung“ des Gebrauchs von Privatfahrzeugen für bestimmte Teile der Bevölkerung beigetragen. Ohne die völlig unzulänglichen Angebote der überfüllten, langsamen und unpünktlichen öffentlichen Verkehrsmittel ist der Aufstieg von Uber und co. also nicht zu verstehen.

Ausweg: Nulltarif

Lateinamerika gehört wohl zu den Weltteilen, die heute am stärksten von der Uber-Dystopie betroffen sind. Zugleich ist es aber auch ein Ort, an dem Ideen und Bewegungen für einen radikalen Wandel der Mobilität entstehen. Inmitten der endlosen Staus und Schmutzwolken erwächst eine Debatte um alternative Wege aus der Krise. Statt einer Ausweitung des Autoverkehrs zielen sie auf eine Ausweitung des Angebots an öffentlichen Verkehrsmitteln. Die schlagkräftigste und erfolgreichste Bewegung war die für den passe livre (wörtlich auf deutsch: Freifahrtschein) oder den tarifa zero (deutsch: Nulltarif) für den öffentlichen Nahverkehr.

Gerade unter den jungen Menschen sind immer mehr der Ansicht, dass Mobilität keine Ware oder Dienstleistung, sondern vielmehr ein universales Grundrecht sein sollte, das vom Staat garantiert wird. Darum wollen sie Systeme der Gebührenerhebung, der Überwachung und Kontrolle von Fortbewegungsmitteln abschaffen.

In Lateinamerika ist Chile das jüngste Beispiel für eine spontane, horizontale Revolte, die direkt mit der Ungerechtigkeit des Mobilitätssystems zusammenhängt. Die Proteste, die im Oktober vergangenen Jahres begannen und das Land seither in Atem halten, entzündeten sich an den Tariferhöhungen für Busse, U-Bahnen und Züge in der Provinz Santiago. Letztlich hatte die massive Mobilisierung der Bevölkerung Erfolg: die Regierung musste die Fahrpreiserhöhung zurücknehmen.

Die Geschehnisse in Chile ähneln denen in Brasilien vom Juni 2013, als dort hunderttausende Menschen für kostenlosen öffentlichen Verkehr auf die Straße gingen und auch diese Initiativen konnten Teilerfolge erreichen. Landesweit gibt es heute 16 Städte mit vollkommen kostenlosem Nahverkehr. Zwar handelt es sich dabei in der Mehrheit um kleine Städte mit weniger als 60.000 Einwohnern, es gibt jedoch auch Beispiele für größere Experimente, wie etwa die Stadt Maricá im Bundestaat Rio de Janeiro mit 160.000 Einwohner*innen. Hinzu kommen weitere Initiativen für eine Senkung oder gar Abschaffung der Tarife.

Öffentlicher Verkehr zum Nulltarif für alle? Das scheint angesichts eines kollabierenden Systems aus überfüllten Trams, Bussen und U-Bahnen in Lateinamerikas Städten schwer umsetzbar. Es ist jedoch der erste Schritt, um die Logik infrage zu stellen, nach der alle Linien immer am Belastungslimit arbeiten müssen, um einen ausgeglichen Haushalt zu gewährleisten. Wenn man die Prioritäten verschiebt, finanzielle Mittel umverteilt und die Abhängigkeit von der direkten Bezahlung der Fahrkarten beendet, ist es durchaus möglich auf Basis des Nulltarifs ein komfortables und zugängliches öffentliches Nahverkehrsmittelsystem zu erschaffen und aufrecht zu erhalten. Denn dann ist man gezwungen, eine andere Finanzierungsgrundlage zu suchen: eine Politik der Umverteilung ist mit dem Nulltarif unmittelbar verknüpft.