»Zum ersten Mal seit langer Zeit wird es der Generation unserer Kinder schlechter gehen als uns.« Diese Ansicht vertreten (zumindest in vielen OECD-Staaten) Kommentatoren aus den unterschiedlichsten politischen Spektren. Dass die südeuropäischen Staaten tief in der Krise stecken, ist allenthalben bekannt – aber Großbritannien? Universitäten haben dort das akademische Jahr mit einschlägigen Kürzungen im Bildungssektor begonnen, sodass die meisten nun das Dreifache an Studiengebühren verlangen: 9000 Pfund pro Jahr, bei einer durchschnittlichen Studienzeit von drei bis vier Jahren. Seit Beginn der Krise ist die Arbeitslosigkeit um 3 Prozent gestiegen, während die Regierung immer weiter Sozialleistungen kürzt. Menschen mit Behinderung wird die finanzielle Unterstützung entzogen, Kindergärten und Bibliotheken werden geschlossen, Gesundheitsversorgung radikal eingeschränkt. Die Armen werden immer ärmer und die Reichen immer reicher. Am meisten von der Krise betroffen sind ältere Menschen und jene, die viel Reproduktionsarbeit leisten, unter ihnen ein hoher Anteil von Frauen. Vor Kurzem haben verschiedene Bezirke in London erklärt, sie würden Künstlern Räume mietfrei zur Verfügung stellen, um dem Stadtbild, das zunehmend von Verfall und leerstehenden Geschäften geprägt ist, etwas entgegenzusetzen. Trotzdem fährt die konservativ-liberale Regierungskoalition mit ihrem Kürzungsprogramm fort, das weitere Privatisierung und weitere Prekarisierung zur Folge hat. Diese Krise artikuliert sich zumeist ›lautlos‹, sie zermürbt die Menschen schlicht und einfach. Proteste, Riots, Streiks und Besetzungen flammen kurzzeitig auf, um wieder zu verstummen. Wir erleben eine massive Krise der sozialen Reproduktion.
Wer zahlt die Rechnung der Kürzungspolitik?
Der Slogan »We are all in this together« – wir sitzen alle im selben Boot – ist das zentrale Element in einem Diskurs, mithilfe dessen die Regierung versucht, die gesamte Gesellschaft in das Austeritätsregime einzubinden. Kürzungen und Privatisierung werden so legitimiert. Auch die Behauptung eines moralischen Zerfalls der britischen Gesellschaft ist Teil dieses Diskurses. Sie sei von »gierigen Bänkern«, »Steuerhinterziehern«, »verwilderten Jugendlichen« und »Sozialschmarotzern« gleichermaßen bedroht. All das hat einen offensichtlich depolitisierenden Effekt. Der moralische Appell passt in Camerons Idee der »Big Society«, die breite Teile der Gesellschaft dazu anhalten will, die Austeritätspolitik mit ihrer eigenen unbezahlten Arbeit gegenzufinanzieren.
Die Erzählung von der Big Society handelt scheinbar davon, Macht vom Staat in die Communities zu verlagern. Dort können – auf der Grundlage von Gegenseitigkeit – ehemals staatliche Aufgaben besser und basisnäher organisiert werden. Tatsächlich zieht sich der Staat schlicht aus der finanziellen Verantwortung für die Reproduktion der Arbeitskraft zurück. Die Zunahme unbezahlter Arbeit, die in den Communities geleistet wird, um dieses Defizit auszugleichen, wird als soziales Engagement vermarktet. Während die Iron Lady der Konservativen, Margaret Thatcher, in der 1980er Jahren bemerkte, »there is no such thing as society«, scheint Camerons Leitsatz zu sein, »society is everything«. Der Effekt ist derselbe: Gesellschaftliche Machtverhältnisse werden in eine vermeintlich gleichberechtigte und auf Gegenseitigkeit orientierte Gemeinschaftlichkeit aufgelöst. In ideologiekritischer Betrachtung zeigt sich hier eine Parallele zu dem, was Feministinnen ironisch als »Liebesarbeit« bezeichneten, also Formen von Arbeit, die zumeist unsichtbar im Privaten geleistet werden, wie z.B. emotionale oder Hausarbeit.
Die Vermarktung des Sozialen
Die Big Society verspricht eine größere Dezentralisierung von Macht, mehr Kontrolle über Dienstleistungen, mehr Demokratie und mehr Umweltschutz – tatsächlich passiert jedoch etwas anderes: Die Kosten sozialer Reproduktion werden immer weiter auf Einzelpersonen und Haushalte übertragen.
Gleichzeitig ist dies ein Prozess, der die Ausbeutung und Nutzbarmachung des Sozialen für den Profit vorantreibt. Die Austeritätsmaßnahmen ermöglichen es privaten Investoren, das soziale Handeln zu vermarkten – vor allem dort, wo Sparmaßnahmen Ressourcen verknappen, die von privatem Kapital ersetzt werden können. In Großbritannien greifen hier verschiedene neu verabschiedete Gesetze produktiv ineinander: Die einen reduzieren die direkte Beteiligung des Staates, während andere neue Märkte für Investition ins Soziale öffnen. Der Public Services (Social Value) Act etwa erwartet von Dienstleistungsanbietern, nicht nur einen monetären, sondern auch einen sozialen Wert und gesellschaftlichen Nutzen zu erwirtschaften. Oder der Localism Act, der ausdrücklich die Dezentralisierung von Staatsmacht hin zur lokalen Ebene betont, oder auch das Open Public Services White Paper, das soziale Infrastrukturen für private Investoren öffnet und damit dem Staat Kosten spart.
Der Public Services (Social Value) Act verdeutlicht diese Prozesse wohl am besten: Besonders relevant sind die dort artikulierten Vorstellungen von »sozialen Unternehmen« und »sozialem Wert«. Sozialer Wert oder auch soziale Rendite werden direkt in Zusammenhang mit der Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen gebracht, es geht um nichtfinanzielle Auswirkungen von Programmen, Organisationen und Interventionen. Die Idee vom sozialen Wert stellt darin eine Metrik dar, die auf den ersten Blick dazu dient, den Beitrag einer gegebenen Initiative oder eines Programms zum sozialen Zusammenhalt messbar zu machen. Dieses Kriterium setzt die verschiedenen Anwärter auf die staatlichen Dienstleistungsverträge in Wettbewerb zueinander – es gewinnt, wer am meisten sozialen Wert produziert. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass die Einheiten, in denen der soziale Wert gemessen wird, eigentlich Maßstäbe für Kostenersparnis und Kosteneffizienz sind. Ein Beispiel: Die gute Versorgung von Senioren wird als sozialer Wert angesehen. Wer dies aber am kostengünstigsten anbieten kann, sprich: für jedes Pfund, das in das »Soziale Unternehmen« investiert wird, den größten sozialen Wert produziert, bekommt den Zuschlag. So einfach ist das.
Zu guter Letzt gibt es noch das Community Right to Challenge mit seinem Do it yourself-Impetus. Hier kann eine Kommune die Erbringung sozialer Dienstleistungen selbst in die Hand nehmen, wenn sie mit den existierenden öffentlichen Dienstleistungen unzufrieden ist. Das mag zunächst als eine Form der Rekommunalisierung erscheinen – tatsächlich handelt es sich aber eher um eine Rekommunalisierung durch den Markt, die dem gesamten Sozialsystem eine Profit- und Wettbewerbslogik auferlegt.
Sozial-Börse statt Krise des Wachstums
Der staatliche Rückzug aus der sozialen Reproduktion bahnt den Weg für den Markt, der das Vakuum füllt und somit, aus der Sicht des Staates, die Krise der sozialen Reproduktion löst. Gleichzeitig scheint so ein neuer Motor für Wirtschaftswachstum gefunden zu sein. Die Ausdehnung des Markts in immer weitere Bereiche des Sozialen wird auch unter dem Begriff des »Philanthrokapitalismus«gefasst. Genauso wie Kommunen durch die Krise ermächtigt werden können, können Unternehmen Erfolge erzielen, indem sie aufgrund einer gemeinnützigen Orientierung agieren. Anders als frühere Formen der Corporate Social Responsibility oder der klassischen Philanthropie, in denen das ethische Prinzip ein externer Faktor im Geschäftsmodell war, wird bei dieser Form der Investition in das Soziale das ethische Prinzip zum internen Faktor. Die Gesellschaft ist keine Einheit mehr, von der man sich etwas nimmt und der man dann etwas zurückgibt. Das Soziale wird selbst zur Quelle von Wert. Investoren sollen sich hier für das Soziale interessieren, aber keinesfalls nur um der sozialen Auswirkungen wegen – es soll auch eine unmittelbar finanzielle Rendite erzielt werden. Auf der Social Stock Exchange – der Sozial-Börse – werden beispielsweise so genannte Social Impact Bonds gehandelt. Diese Sozialaktien sind finanziell dann rentabel, wenn sie ein positives soziales Ergebnis erzielen. Gute Renditen werden also erzielt, wenn gewisse soziale Ziele erreicht werden. Solche Ziele müssen natürlich quantifizierbar sein. Aber nach welchen Kriterien? Wie werden Erfolg und Misserfolg gemessen und wie verhalten sie sich zu Fragen der Effizienz, der Kostensenkung sowie der Profitmaximierung?
Dem freundlichen Anschein zum Trotz besteht die Funktion der sozialen Rendite darin, das Profitmotiv ebenso wie die Sparpolitik tief in die geförderten sozialen Projekte einzuschreiben. Diejenigen Kommunen und Haushalte, welche die volle Wucht dieser Finanzialisierung der sozialen Reproduktion ertragen müssen, stecken nun in der Klemme. Einerseits werden dadurch große Teile der reproduktiven Arbeit unsichtbar gemacht – andererseits wird reproduktive Arbeit nun daran gemessen, ob sie zur Profitmaximierung beiträgt, nicht zum gesellschaftlichen Wohlbefinden. So gesehen ist es sinnvoll, dass die Bewegungen, die im Kontext der momentanen Krise entstehen, die Frage der sozialen Reproduktion direkt in ihre Organisierungsformen integriert haben. Die öffentlichen Protestcamps der Occupy- und anderer Bewegungen zielten darauf, inklusivere und partizipativere Formen politischer Entscheidungsfindung zu entwickeln, gleichzeitig wollten sie die Commons wieder für sich reklamieren und darin nachhaltige Formen der sozialen Reproduktion gegen die und jenseits der kapitalistischen Herrschaft hervorbringen. Die Kämpfe der Zukunft werden sich also auf dem Terrain der sozialen Reproduktion abspielen: gegen die Unterwerfung allen gesellschaftlichen Lebens unter die Tyrannei der Akkumulation und für eine Politik, die schon jetzt im Alltag ein anderes Leben lebt.