Die Sinnfrage des Wirtschaftswachstums gewinnt an Gewicht. Vier von fünf Deutschen meinen: Wachstum ist nicht alles! Gerade nach einer Finanz- und Wirtschaftskrise ist eine Verständigung über Sinn und Zweck des Wirtschaftens nötig. Nachdem die Finanzmärkte kollabierten, gaben sich die Eliten zwar für kurze Zeit nachdenklich, doch aufgearbeitet und wirklich verändert wurde erschreckend wenig. Die Gewerkschaften müssen für einen Kurswechsel in Betrieb und Gesellschaft streiten. Sich angesichts des beschäftigungspolitisch glimpflichen Krisenverlaufs zurückzulehnen, wäre ein schwerer strategischer Fehler.
Aus Sicht der IG Metall konzentrieren sich die ökonomischen Fehlentwicklungen auf die unter dem Begriff Finanzmarkt-Kapitalismus zusammengefassten Tendenzen – Vermarktlichung aller Lebensbereiche und Dominanz radikaler, kurzfristiger Renditeziele als entscheidende Größe mit entsprechend negativen Folgen für Arbeitsbedingungen sowie für mittelfristige Investitions- und Innovationspfade. Diese wirtschaftlichen Fehlentwicklungen, die als Wachstum gelten, müssen korrigiert werden.
Eine neue Wachstumsdebatte
»Die Umweltkrise verlangt eine radikale Änderung unserer Vorstellung dessen, was wirtschaftlich gerechtfertigt ist.« Mit diesen Worten hinterfragte der Nationalökonom Karl W. Kapp 1972 auf der vierten Internationalen Arbeitstagung der IG Metall die ökologische Verträglichkeit des Wirtschaftens. Zugleich hob Kapp die wirtschaftsdemokratische und gesellschaftspolitische Dimension hervor: »In diesem Sinne trägt die heutige Umweltkrise zumindest die Keime einer radikalen Umwälzung der bisherigen wirtschaftlichen Organisationsformen in sich.« Auch wenn diese Gedanken in der Folge nicht prägend für die gewerkschaftliche Theorie und Praxis gewesen sind, so zeigen sich zumindest historische Fundstücke und damit Anknüpfungspunkte, die wieder nutzbar gemacht werden sollten. Die ökologische Herausforderung zwingt die Industrie zu einem weitreichenden Umbau. Für die Gewerkschaften steht eine mit mehr sozialer Gerechtigkeit verbundene ökologische Modernisierung auf der Tagesordnung. Die Alternative lautet nicht Pro oder Contra Wachstum. Es geht um die Entscheidung zwischen einem klima- und sozialverträglichen und einem konventionellen Wachstumspfad. Dies erweitert die Perspektive über die Umweltfrage hinaus auf die Dimensionen der Zivilisierung und weitergehende Demokratisierung vom Betrieb bis hin zur Gesamtwirtschaft.
Eine neue Wirtschaftsdebatte ist daher dringlich und bietet Potenzial für reale Veränderungen zugunsten der Beschäftigten. Gleichzeitig zeigen sich in der Wachstumskritik auch zahlreiche Sackgassen und Fallstricke: Null-Wachstum mutet für die materiell sich erst noch entwickelnden Länder illusorisch an. Manche, die ein anderes oder weniger Wachstum fordern, landen schnell bei Verzichtsappellen an die unteren und mittleren Einkommen. Oder es kommt zu einer falschen Konfrontation von industrieller Produktion und Dienstleistungssektor.
Wachstum für Europa
In Europa und Deutschland braucht es weiterhin Wachstum, droht doch andernfalls Arbeitslosigkeit. Durch den Produktivitätsfortschritt wird die gleiche Warenmenge mit immer weniger Arbeitskraft erstellt. Steigt nicht im gleichen Maße die Wirtschaftsleistung, kommt es zum Abbau von Arbeitsplätzen – es sei denn, das schrumpfende Arbeitsvolumen wird durch eine Verkürzung der Arbeitszeit auf mehr Menschen verteilt. Zuletzt hat in der aktuellen Krise Kurzarbeit einen dramatischen Zuwachs der Arbeitslosigkeit verhindern können – andere und strategisch weitreichende Formen der Arbeitszeitverkürzung sind anzustreben.
"Grüner Wachstumszyklus"?!
Jede historische Zeit bringt ihre Techniken hervor. Heute sind grüne Märkte in aller Munde. Sie beziehen sich sowohl auf neue Branchen und Produkte als auch auf die bestehenden Kernsektoren der Industrie, die sich gestiegenen Anforderungen an die Energieund Ressourceneffizienz gegenübergestellt sehen. Die Umwelttechnologien decken mit der umweltfreundlichen Energieerzeugung, den Energieeffizienztechniken, der nachhaltigen Wasserwirtschaft und der nachhaltigen Mobilität eine große Bandbreite ab, von der insbesondere der Maschinenbau und die Elektrotechnik profitieren können. Diese Fragen sind nicht nur technisch, sie sind auch abhängig von politischen Entscheidungen und Kräfteverhältnissen. In diesem Lichte betrachtet ist die Auseinandersetzung zwischen einer fossil-atomaren und einer regenerativen Energiebasis eine Schlüsselentscheidung, an der gesellschaftliche Kompromisse ausgehandelt werden.
Eine doppelte Dividende zugunsten von Arbeit und Umwelt ist möglich. Viele Studien weisen auf die positiven Netto-Beschäftigungseffekte einer emissionsarmen Wachstumsstrategie hin, von denen insbesondere die Umwelttechnologien beschäftigungsintensiv sind. Die positive Netto-Betrachtung schließt Konflikte und Widersprüche nicht aus, die in den einzelnen Unternehmen und Branchen bewältigt werden müssen. Die IG Metall setzt auf eine aktive Gestaltung des ökologischen Umbaus, statt später Getriebener von Folgeproblemen zu werden. Schon heute sind Betriebsräte und Vertrauensleute vielfach Treiber des ökologischen Umbaus in den Betrieben. Diese Rolle gilt es deutlich zu erweitern.
Von der Arbeitsproduktivität zur Ressourceneffizienz
In den Unternehmen ist ein Umdenken nötig. Viele Industrieunternehmen waren in der Vergangenheit erfolgreich damit, die Arbeitsproduktivität in ungeahnte Höhen zu treiben. Weit abgeschlagen ist die Material- und Ressourcenproduktivität geblieben. Die heutige Kostenstruktur und steigende Rohstoffpreise erfordern eine andere Perspektive. Entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen wird künftig sein, wie schnell sie sich die Technologien zur Energie- und Ressourceneffizienz aneignen können. Auch der Verkehrssektor und die Automobilindustrie müssen deutliche Einsparungen der CO2-Emissionen realisieren. Hierzu braucht es ein integriertes Maßnahmenbündel aus verbindlichen Grenzwerten, motor- und fahrzeugtechnischen Innovationen und verbesserten Kraftstoffen. Die Auswirkungen für die Beschäftigten und ihre Qualifikationen sind weitreichend. Freilich wird etwa über E-Mobilität viel gesprochen, ihr kritischer Einfluss auf die Arbeitsplatzentwicklung spielt bislang jedoch kaum eine Rolle. Auch im Fall der boomenden regenerativen Energien ist die arbeitspolitische Realität häufig ernüchternd. Betriebsräte und Mitbestimmung stoßen vielfach auf Widerstände, vielfach gelten tarifvertragliche Regelungen nicht.
Bislang nur Mittelfeld
So zentral »grüne« Technologien zur Bewältigung des Klimawandels sind, so sehr sind sie gleichzeitig nur ein Teil einer sozial wie ökologisch nachhaltigen Wachstumsstrategie. Wegen der schwachen binnenwirtschaftlichen Dynamik blieb das Wachstum im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich. Dafür gibt es eindeutige Ursachen: Einkommensungleichheit und Armut haben stark zugenommen, der Niedriglohnsektor expandierte und im Ergebnis stagnierte der private Konsum. Sparrunden der öffentlichen Haushalte und geringe öffentliche Investitionen sind ebenfalls verantwortlich für die schwache Dynamik. Verfügbares Kapital aus den Gewinnen ist vor allem den internationalen Finanzmärkten zugeflossen, Investitionen in bestehende Produktionskapazitäten entwickelten sich schwach.
Im Mittelpunkt einer künftigen Wachstumsstrategie muss die Balance von Export- und Binnenwirtschaft stehen. Die Ausrichtung der Industrie auf den Investitionsgütermarkt geht mit einer starken Orientierung auf weltweite Absatzmärkte einher. Es kann aber nicht darum gehen, die Exportfähigkeit bewusst zurückzufahren. Schließlich sind nicht die Exporte problematisch, sondern der Exportüberschuss. Dieser kann durch wachsende Importe ausgeglichen werden. Zugleich sollte die lohnpolitische Koordinierung der europäischen Gewerkschaften verstetigt und über die Stärkung europäischer Ausgleichsmechanismen auf eine binnenwirtschaftliche Dynamik gesetzt werden.
Ausgebaute soziale Dienstleistungen
Industrie und Dienstleistung werden oftmals in einen künstlichen Widerspruch zueinander gestellt. Tatsächlich aber ist die industrielle Produktion auf eine funktionierende Logistik angewiesen. Industriebeschäftigte haben ein großes Interesse an funktionierenden und hochwertigen öffentlichen Dienstleistungen. Nach Jahren der Mangelverwaltung ist die Liste unterentwickelter kommunaler und allgemeiner Dienstleistungen lang, der demografische Wandel führt zu einem steigenden Bedarf an qualifizierter Bildung, Pflege und Betreuung. Diesen Bedarfen muss ein Angebot gegenübergestellt werden. Gewerkschaftspolitisch ist der Aufbau qualitativ guter Dienstleistungen nur mit Arbeits- und Einkommensbedingungen möglich, die auf »Gute Arbeit« ausgerichtet sind.
Druck von unten
Wirtschaftswachstum ist kein Selbstzweck. Vielmehr ist stetiges Wachstum in die Perspektive unserer gesellschaftspolitischen Leitvorstellung der Qualität des Lebens und der Gestaltung Guter Arbeit eingebettet. Im Mittelpunkt einer wachstumspolitischen Offensive stehen dabei die gesellschaftliche Wünschbarkeit sowie die Ausrichtung entlang sozial wie ökologisch nachhaltiger Kriterien. Eine nachhaltige wirtschaftliche und industrielle Entwicklung ergibt sich nicht im Selbstlauf. Um die Wirtschaft auf ökologischen Innovationskurs zu bringen und die Folgen des Klimawandels einzudämmen, braucht es einen Maßnahmenmix aus ökologischer Regulierung, dem Ordnungsrecht sowie wettbewerblicher, steuerlicher und wirtschaftspolitischer Instrumente. Eine Nachhaltigkeitspolitik der »radikale[n] Umwälzung der bisherigen Organisationsformen« (Kapp) ist aber ohne die vielen Initiativen aus den Belegschaften und den Druck von unten nicht bestandsfähig