Als im Februar 2014 eine Welle von Sozialprotesten in Bosnien-Herzegowina kurzzeitig die herrschende Ordnung ins Wanken brachte, war dies ein Moment unerwarteten Optimismus. Zum ersten Mal nach Ende des Krieges 1995 rebellierte eine Basisbewegung gegen die ethnonationalistischen und kleptokratischen Eliten, die das ärmste Land Europas autoritär kontrollieren. In einigen Städten wurden von ArbeiterInnen, Arbeitslosen und Jugendlichen die Gebäude der Kantonalregierungen gestürmt und abgebrannt. In den folgenden Wochen wurden außerdem regelmäßige Plenarversammlung abgehalten, in denen Tausende BürgerInnen sowohl ihre Probleme als auch politische Alternativen offen diskutierten. Zum ersten Mal tauchte auch in BosnienHerzegowina der Diskurs der »nova levica« (neue Linke) auf, der sich in den vergangenen Jahren auf dem Balkan entwickelt hat.2 Diese spontane Protestbewegung ist längst wieder abgeflaut, eine ›Post-Plenums-Depression‹ hat sich breit gemacht.

Einige Debatten, die im Kontext der Proteste begonnen haben, werden aber in unterschiedlichen Zirkeln – unter anderem im Rahmen der Offenen Universität Sarajevo – weitergeführt. In einer Art Resümee wollen wir im Folgenden vier zentrale Dilemmata skizzieren, denen sich die neue Linke nicht nur in Bosnien-Herzegowina, sondern auf dem ganzen Balkan gegenübersieht. Sie kennzeichnen zugleich die Herausforderungen, die es in den kommenden Jahren zu bewältigen gilt.

Europa und/oder die EU

Ein zentraler Bezugspunkt der Diskussionen war das Verhältnis der Linken zur Europäischen Union. Wie sollen wir uns ein Europa ohne EU vorstellen und wie eine Zukunft ohne EU, die ja das politische Projekt ist, das den postsozialistischen Horizont der letzten 20 Jahre dominiert hat? Wie sollen wir handeln, wenn die EU etwa in Ländern wie Bosnien als die einzige Instanz betrachtet wird, die Stabilität und dauerhaften Frieden gewährleisten kann, sowie als Bollwerk gegen einen ungezügelten Nationalismus?

2015 stellten sich uns diese Fragen mehr denn je. Viele von uns verloren ihre Hoffnungen in die EU. Zunächst waren da im Sommer 2015 die Entwicklungen in Griechenland. Eine anfänglich ungeheure Euphorie verflog angesichts der von EU, EZB und IWF gegen den demokratischen Willen der griechischen Bevölkerung durchgesetzten Maßnahmen. Dann kam es zur sogenannten Flüchtlingskrise, die noch immer anhält. Und schließlich erlebten wir die sicherheitspolitische Aufrüstung in Reaktion auf die terroristischen Anschläge von Paris. Europa ist heute von Stacheldraht durchzogen und die Balkanstaaten fühlen sich isolierter denn je.

Wie hätte eine progressive, linke, antinationalistische und antifaschistische Antwort auf diese Situation auszusehen? Offenbar gibt es zwei Herangehensweisen: Manche weisen die EU als neoliberales Projekt zurück, das nur den Reichen und den mächtigsten Staaten diene. Andere vertreten hingegen den Standpunkt, man müsse die EU-Strukturen erhalten und reformieren. Der erste Ansatz bietet keine umsetzbare Alternative, nichts, was sich realistischer Weise auf den Ruinen der EU errichten ließe. Er bietet vor allem Visionen: von einem Balkan-Bund bis hin zu einem sozialen und sozialistischen Europa, das von Grund auf neu aufzubauen wäre. Der zweite Ansatz ist zwar auch der heutigen EU gegenüber kritisch, begreift die Zerschlagung der EU jedoch als Gefahr für Europa im Allgemeinen und der Balkanstaaten im Besonderen. Jenseits dieser Differenzen eint die VertreterInnen beider Ansätze, dass ihnen der Nationalismus große Sorgen bereitet.

Nationalismus und die jüngere Vergangenheit

Ein Thema, mit dem wir uns immer wieder beschäftigen müssen, ist der Nationalismus in der EU und in den Balkanstaaten, insbesondere im ehemaligen Jugoslawien. Hat die fortschrittliche Linke eine Antwort auf zeitgenössische nationalistische Bewegungen, angefangen beim Front National in Frankreich und den Ultranationalisten in der Ukraine, Polen und Ungarn bis hin zu den neu auflebenden Nationalismen der Balkanstaaten? Wie kann die Linke, insbesondere die postsozialistische und postjugoslawische, der nationalistischen Herausforderung begegnen? Der Nationalismus ist während der letzten 25 bis 30 Jahre in der Politik der Balkanstaaten die bedeutendste mobilisierende Kraft gewesen. Er mobilisiert noch immer massenhaft Menschen für ein postmodernes Projekt von homogenen Nationalstaaten, in denen eine ethnonationale Kontrolle über den Staat auf einem möglichst erweiterten und ethnisch ›gesäuberten‹ Territorium angestrebt wird, zusammen mit einer Wahldemokratie sowie einem neoliberalen und am Prinzip des Individualismus und des Konsums orientierten Kapitalismus. Dieser Ideologie-Cocktail hat bereits zahlreiche Opfer gefordert. Er hat die Mittelschicht ruiniert, die Arbeiterklasse verarmen lassen und ihre politische Macht gebrochen, für einen Ausverkauf der Natur- und Wirtschaftsressourcen gesorgt und eine Massenabwanderung herbeigeführt. Wie kann es sein, dass die fortschrittlichen Kräfte nicht in der Lage sind, dieser reaktionären Tendenz wirksam mit sozialen, politischen und wirtschaftlichen Alternativen entgegenzutreten? Und welches Subjekt wäre überhaupt dazu in der Lage, solche Alternativen voranzutreiben (und eventuell umzusetzen), um damit eine Vielzahl von Menschen von der Selbstzerstörung abzubringen und für ein Projekt der Selbstemanzipation zu gewinnen? Auch hier scheinen sich zwei grundlegende Positionen abzuzeichnen: Ein Ansatz schenkt dem Nationalismus als Ideologie wenig Beachtung und fokussiert auf strukturelle Faktoren (politische Ökonomie und politische Institutionen), die den Nationalismus gedeihen lassen. Die Vertreter des zweiten Ansatzes dagegen insistieren, man müsse nicht nur die strukturellen Faktoren berücksichtigen, sondern den Nationalismus als bedeutende hegemoniale Kraft anerkennen, die sich unmittelbar auf die Chancen der Linken auswirkt, ein nennenswerter politischer Akteur zu werden. Daher müsse man ihn auch in seinen kulturellen Ausdrucksformen und intellektuell bekämpfen.

Das Problem des Nationalismus hängt unmittelbar mit der Frage zusammen, wie wir mit der jüngeren Vergangenheit umgehen wollen, insbesondere mit der in Bosnien-Herzegowina. Wie reagieren wir auf die massenhafte Zerstörung von Leben und Städten, wie umgehen mit Kriegsverbrechen, Massakern und völkermordähnlichen Praxen, denen ganze Dörfer, Nachbarschaften und Tausende von Individuen zum Opfer fielen, nur weil sie einer bestimmten ethnischen oder nationalen Gruppe angehörten? Wie könnte hier eine Position der Linken aussehen? Eine Position, die sich zum einen unterscheidet von der Agenda der Liberalen, die versuchen, über juristische Institutionen und NGO-Projekte ›Vergangenheitsbewältigung‹ zu betreiben, und zum anderen von der der Nationalisten, die viele Verbrechen einfach leugnen beziehungsweise nur die eigenen Opfer anerkennen wollen. Mit anderen Worten: Wie ist es möglich, über grundlegende gesellschaftliche Veränderungen entsprechend unseren utopisch-sozialistischen Visionen zu diskutieren und diese voranzutreiben, wenn ständig neue Massengräber entdeckt werden?

Es fällt auf, dass dieses Thema bei linken Akteuren in der Regel ein beträchtliches Unbehagen auslöst. Vielleicht hängt dies damit zusammen, dass das sozialistische Projekt – vor allem seine jugoslawische Variante der Brüderlichkeit und Einheit – mit den ethnisch begründeten Massenverbrechen eine besonders herbe Niederlage erfahren hat. Oder hat das Unbehagen mit der Ansicht zu tun, liberale und Mitte-rechts-Politiker hätten die Menschenrechtspolitik und damit verbundene Diskurse ›gekapert‹, was für die Linke bedeutet, diese entweder ganz zu meiden oder fortlaufend zu dekonstruieren? Wie wir wissen, werden Menschenrechte und Völkermorde häufig instrumentalisiert, um damit militärische Auslandseinsätze und imperialistische Politiken auf der ganzen Welt zu rechtfertigen. Wie können wir über tatsächlich stattgefundene Ereignisse sprechen und uns gegen deren politische Manipulierung verwehren, wie können wir die Letztere verurteilen, ohne forensischen Belegen für Massenverbrechen auszuweichen oder, schlimmer noch, sie zu leugnen?

Langsam bildet sich in Reaktion auf dieses Problem überall im ehemaligen Jugoslawien eine klare, am antifaschistischen Kampf orientierte Position heraus. Diese lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Es gab nie so etwas wie einen ›Hass zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen‹ oder einen ›ethnischen Krieg‹, sondern kriminelle Oligarchien, die Tötungen organisierten, um daraus politischen und wirtschaftlichen Nutzen zu ziehen. Die Täter sind zu bestrafen, ganz gleich, um wen es sich handelt. Ihre Verbrechen sind ans Licht zu bringen, ihren Opfern muss Gerechtigkeit widerfahren. Die Vergangenheit zu erinnern bedeutet jedoch nicht, dass wir keine andere Zukunft aufbauen können. Gerade indem wir uns erinnern, stärken wir den Kampf gegen das destruktive Wesen von Nationalismus und Faschismus, insbesondere in ihrer Funktion als Schmiermittel des kapitalistische Getriebes, wie das im ehemaligen Jugoslawien der Fall war. Einzig und allein die Linke hat also – anders als die liberalen und neoliberalen Apologeten der Ungleichheit – eine konstruktive Antwort zu bieten, weil sie für eine Gesellschaft eintritt, die auf sozioökonomischer Gleichheit und wahrer Demokratie beruht und in der alle den uneingeschränkten Schutz der Menschenrechte genießen.

Der Sozialismus – seine (jugoslawische) Vergangenheit und seine (postjugoslawische) Zukunft

Wenn die Linke zwischen 1941 und 1945 wirklich die richtigen Antworten hatte: Gelten diese auch noch für heute? Die Kommunisten verwirklichten ihre Vision, indem sie die Nazis und deren Kollaborateure besiegten, das Land befreiten und eine sozialistische Gesellschaft aufbauten. Wie kann uns diese Vergangenheit helfen, uns aus unserer gegenwärtigen Lage zu befreien und auf dem Balkan die Vision von einem Sozialismus des 21. Jahrhunderts zu verwirklichen? Das sozialistische Jugoslawien (nicht das der Zwischenkriegsjahre!) scheint immer wieder zurückzukehren. Für Nationalisten und rechte Reaktionäre ist es eine Art Gespenst, das sie täglich mittels ihrer ›ideologischen Apparate‹, religiösen Institutionen, Medien etc., bekämpfen müssen. Bemerkenswert ist zudem die jüngste Welle von Rehabilitierungen verschiedener faschistischer Anführer und Bewegungen in der gesamten Region. Für viele heutige Linke bleiben der antifaschistische Kampf und die sozialistische Selbstverwaltung in Jugoslawien Vorbilder. Um keine Missverständnisse entstehen zu lassen: Die kommerzialisierte, folkloristische Jugoslawien-Nostalgie lehnen diese Linken ab. Sie geben sich nicht mit der Anrufung einer ›besseren Vergangenheit‹ zufrieden, die politisch unwirksam bleibt, sondern wollen die Errungenschaften zurück, die in jener Zeit erreicht (und dann im postsozialistischen Kapitalismus zerstört) wurden. Kurzum: Sie sagen Nein zu einer monolithischen leninistischen Partei, zum Personenkult oder zu stalinistischen Praktiken. Sie sagen Ja zu kostenloser Bildung, kostenloser Gesundheitsversorgung und kostenlosem Wohnraum. Sie sagen Ja zur Arbeiterselbstverwaltung, Ja zu offenen Grenzen und zur Solidarität zwischen verschiedenen nationalen und ethnischen Gruppen. Und damit auch Ja zu verschiedenen internationalen und regionalen Vereinigungen und Zusammenschlüssen (was uns zu Problem eins zurückführt: dem Problem der Form aktueller internationalistischer Mobilisierungen auf dem Balkan und in Europa).

Was tun?

Schließlich führt uns dies zu der uralten Frage, die stets aufs Neue gestellt werden muss: Was tun? Was kann überhaupt getan werden? Hinter all diesen ›Jas‹ und ›Neins‹ stehen am Ende doch recht heterogene Positionen, vertreten von Personen unterschiedlicher politischer Couleur, oftmals mit sich widersprechenden ideologischen Ansichten. Das Spektrum reicht vom linken Liberalismus (Stärkung der sozialen Komponente liberaler Verfahren und Institutionen, mehr Rechte für Frauen, für Angehörige der LGBTQ-Communities und ethnische Minderheiten) über die Sozialdemokratie (staatliche Intervention in die kapitalistische Wirtschaft, mehr Umverteilung), den Sozialismus (Verstaatlichung, wirksamere Umverteilung des Wohlstands), den Ökosozialismus (Erkenntnis, dass der Kapitalismus unsere Umwelt zerstört und daher durch die Schaffung einer ökologisch aufgeklärten, auf Gleichheit beruhenden Gesellschaft bekämpft werden muss), den Neokommunismus (wahre Emanzipation unter Vermeidung der Fehler des Staatssozialismus; Aufbau einer Gesellschaft gleicher und freier Individuen, die EigentümerInnen der Produktionsmittel sind; freie Verfügung über vergesellschaftete Güter und gesellschaftlichen Wohlstand) bis hin zum Anarchismus (Misstrauen gegenüber Institutionen, Schaffung autonomer Assoziationen gegen kapitalistische Ausbeutung). Es liegt auf der Hand, dass diese politischen Optionen nicht leicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind, von der Bewältigung der anstehenden Aufgaben politischer Organisierung und Arbeit ganz zu schweigen. Diese Aufgaben haben sich, insbesondere seit der Bewegung der Plenarversammlungen in Bosnien-Herzegowina, zu einem der Leitmotive der Treffen der Linken und auch der Offenen Universität entwickelt. Auch hier kristallisieren sich zwei Positionen heraus: Enttäuscht von der Niederlage Syrizas und der Entradikalisierung von Podemos treten manche für eine Rückkehr zum Prinzip der Horizontalität ein. Andere wiederum sprechen sich, solchen Erfahrungen zum Trotz, für die Gründung einer politischen Organisation aus – entweder für eine strukturierte Bewegung oder eine demokratisierte Partei –, die unsere Gesellschaften und die Politik wirksam beeinflussen kann.

Abschließend kann festgehalten werden: Zweck dieses Textes ist es, die Aufmerksamkeit auf die aus unserer Sicht vier zentralen Probleme zu lenken, vor denen unserer Einschätzung nach heute alle linksgerichteten, fortschrittlichen und linksradikalen Kräfte in BosnienHerzegowina und im gesamten Ex-Jugoslawien stehen. Es gibt natürlich viele Ähnlichkeiten zwischen den hiesigen Diskussionen, Debatten und Polemiken und denen anderswo in oder außerhalb von Europa. Aus dem lokalen Kontext – wir leben sowohl in postsozialistischen als auch in Nachkriegsgesellschaften – ergibt sich jedoch für die emanzipatorische Linke hier zwangsläufig noch eine zusätzliche schwierige Aufgabe. Die Akteure dieser Linken – Bewegungen, Organisationen, Gruppen, Parteien und Individuen – werden sich all diesen Problemen stellen und sie angehen müssen, wenn sie zu wirkungsvollen, starken und erfolgreichen politischen Subjekten werden wollen, die keine Angst vor der Zukunft haben.

Die fünfte Offene Universität wird vom 24. bis zum 27. November 2016 in Sarajevo stattfinden.

Aus dem Englischen von Max Henninger

1 Vgl. otvoreni-magazin.net
2 Einen guten Einblick in die neue Linke auf dem Balkan bietet Stiks 2015

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