Die sozialen Bewegungen in Brasilien waren in den letzten Jahren stark urbane Bewegungen. Insbesondere die Proteste im Sommer 2013 stellten stadtpolitische Themen wie Verdrängung, bauliche Megaprojekte und kostenlosen Nahverkehr ins Zentrum. Wie kommt das?

Urbanisierungsprozesse sind essenziell für die Zukunft der Kapitalakkumulation, sie sind eines der wichtigsten Momente produktiver und profitabler Aktivität. Teilweise sind diese fiktiv, weil einfach nur Mieten erhöht werden. Dennoch: Gewinne aus Immobilien werden zunehmend zu einer wichtigen Einnahmequelle für die herrschende Klasse. Diese Dynamik müssen wir beenden. Die Entwicklung in Brasilien in den letzten 30 oder 40 Jahren macht dies besonders deutlich: Ich war zum ersten Mal in den 1970er Jahren in São Paulo, Recife und Salvador. Das war eine andere Welt. Heute sind diese Städte voll mit super bewachten Luxushochhäusern und Einkaufszentren. Die BrasilianerInnen denken, das wäre etwas Besonderes, feiern es als Fortschritt. Doch was ist daran so besonders? Es ist ein ähnlicher Kapitalismus wie anderswo auch. Wenn wir uns vor Augen führen, dass das alles in den letzten drei, vier Jahrzehnten geschehen ist, müssen wir uns fragen, in welcher Welt wir demnächst leben werden. Unvorstellbar! 

Der soziale Wohnungsbau in Brasilien ist kein Ruhmesblatt, Hunderttausende wohnen quasi in kleinen Schachteln, alle gleich. 

Richtig. Aber der soziale Wohnungsbau ist auch anderswo ein Desaster, er hat einen katastrophalen Ruf. In Guayaquil, in Ecuador, habe ich auch solche Siedlungen gesehen: 40-Quadratmeter-Schachteln, total beengt, an die man nichts mehr anbauen kann. Aber es gibt auch Gegenbeispiele, etwa in London aus den 1960er Jahren. Diese Wohnungen sind so schön, dass jetzt, nach der Privatisierung, das Bürgertum dort einzieht. Wir müssen wieder über die öffentliche Aneignung von Bauland nachdenken, von Räumen mit grundlegender Infrastruktur und anspruchsvollem Design. Hier lässt sich etwa an die Argumente des britischen Architekturtheoretikers John Turner aus den 1960er und 1970er Jahren anknüpfen. Er untersuchte die Praxis des selbstorganisierten Hausbaus in Peru, den USA und in Großbritannien, und stellte fest, dass Wohnungsbau am besten von jenen geplant werden sollte, die vor Ort leben. 

Ein Problem bei vielen dieser Siedlungen sind die oft enormen Entfernungen zum Arbeitsplatz…

Ja, das Phänomen der extrem langen Anfahrtswege zur Arbeit nimmt Überhand – auch das hat mit Verdrängung zu tun: Marginalisierte EinwohnerInnen werden auf minderwertiges Land abgedrängt, wo Jobs in der Regel Mangelware sind. In Istanbul habe ich einen Vorort besucht, in dem Menschen wohnen, die aus der Innenstadt vertrieben wurden. Die Qualität der Häuser war vergleichsweise gut, auf den ersten Blick schien das Abkommen mit der Stadtverwaltung fair zu sein: Sie zahlen eine monatliche Rate, und nach 15 Jahren gehören ihnen die Häuser. Die Regierung ist extrem stolz auf dieses Programm – das Problem ist jedoch, dass der Ort rund 55 Kilometer vom Zentrum Istanbuls entfernt ist. Es handelt sich zwar um eine wunderschöne, ländliche Region – nur Jobs gibt es keine. Also können die Menschen ihre Rechnungen nicht bezahlen, werden wieder obdachlos und müssen zurück ins Stadtzentrum. Auf die Frage, warum dort überhaupt Häuser gebaut wurden, sagen die zuständigen Minister: »Ich bin nicht für Jobs, sondern für Wohnungen zuständig.« Steigende Grundstückspreise verhindern für immer mehr Menschen den Zugang zum Arbeitsmarkt. Der explodierende Immobilienmarkt schafft diese Disparitäten mit den langen Pendelzeiten. Das ist die irrationale Seite der Urbanisierung.

Was müsste die öffentliche Hand tun? 

Ob man sich es sich leisten kann, in einer bestimmten Gegend zu wohnen, hat mit den Grundstückspreisen zu tun. Der Staat müsste also die Spekulation mit Land unterbinden und öffentliche Ressourcen umlenken, etwa aus der Besteuerung von Mittel- und Oberschichtswohnungen Mittel gewinnen für den sozialen Wohnungsbau. Doch heute wird die Bevölkerung mit niedrigem Einkommen teils höher besteuert als die Reichen. 

Wie beurteilen Sie die Versuche, in lateinamerikanischen Metropolen eine neue Stadtpolitik umzusetzen?

In Ecuador zum Beispiel gibt es eine extrem disfunktionale staatliche Bürokratie. Die Anstrengungen selbst fortschrittlicher PolitikerInnen werden oftmals von der Bürokratie behindert. Wenn dann die Rechten kommen und sagen, staatliche Kontrolle oder Verstaatlichung ist nicht die Lösung, dann haben sie Recht. Das ist die Erfahrung vieler Menschen. Auch dass der Markt gegenüber dem Klientelismus durchaus ein gewisses egalitäres Moment hat. Eines der großen Probleme ist die Vorstellung der Linken, der Sozialismus müsse vom Staat organisiert werden. In diesem Sinne ist die anarchistische Kritik vollauf nachvollziehbar, dass manche Leute sagen: Vertrau bloß dem Staat nicht. Ob man den Staatsapparat so reformieren kann, dass er nicht nur effizient, sondern auch noch human und gerecht ist, weiß ich nicht. Ich denke an meine Erfahrungen in Ecuador, wo ich versuche, ein Forschungszentrum aufzubauen. Nun soll ich plötzlich nachweisen, dass ich überhaupt dort war und tatsächlich Lehrveranstaltungen abgehalten habe. Absurd. Die Effizienz der staatlichen Verwaltung ist also ein echtes Problem in Lateinamerika, wie in vielen anderen Teilen der Welt. Das Problem ist den ecuadorianischen Ministern wohl bewusst – doch durch die Reformen von oben sind die Reste lokaler Demokratie massiv beschnitten worden. Ecuador hat ein sehr starkes Demokratiedefizit, zum Teil, weil die Führung es so will. Aber auch weil es so schwer ist, funktionierende demokratische Strukturen zu etablieren. 

Wie kann da eine politische Lösung aussehen? 

Die Linke hat Recht, wenn sie sagt: Wir müssen alternative Formen des Regierens entwickeln, die demokratischer sind. Weil sie näher an den Leuten dran sind, kann das im Hinblick auf die Mittelallokation beispielsweise viel effizienter sein. Das ist auch der Ansatz des US-amerikanischen Anarchisten Murray Bookchin, der in den 1970er Jahren Vordenker des libertären Kommunalismus war. Gesellschaft sollte dezentral über miteinander vernetzte Kleinstädte organisiert werden. Sein Vorschlag war: Statt die Regierungen frontal herauszufordern, gilt es, kollektive Organisierungs- und Entscheidungsformen herauszubilden, die lokale Probleme konstruktiv angehen. Wir sollten damit beginnen, einen radikal ineffizienten Staat nicht zu ›stürzen‹, sondern schrittweise zu verdrängen. 

In ihrem Buch »Rebellische Städte«, das 2013 in Deutschland erschienen ist, gehen Sie auch auf das Instrument des Bürgerhaushalts ein, wie es ihn beispielsweise in Porto Alegre schon 1989 gab. Ist das eine Form, BürgerInnen aktiv an kommunalen Entscheidungsprozessen zu beteiligen und entsprechend eine Demokratisierung auf der lokalen Ebene anzustoßen? 

Die Erfahrungen aus Porto Alegre zeigen, dass es möglich ist, demokratische Teilhabe zu fördern und marginalisierte Bevölkerungsgruppen in politische Prozesse einzubinden. Wie sich diese Gruppen dann politisch positionieren, ist eine andere Frage. Es kann passieren, dass sie sich rechten Ideen zuwenden – somit ist der Bürgerhaushalt nicht per se eine linke Strategie. Ich glaube, das Problem in Porto Alegre und anderswo war, dass der Bürgerhaushalt immer nur einen kleinen Teil des Gesamtetats ausmachte. Auch hat die Arbeiterpartei (PT) das Projekt genutzt, um bestimmte Organisationen zu bedienen, einzubinden – so stößt das Konzept zwangsläufig an seine Grenzen. Auch in New York City gibt es mittlerweile so etwas wie eine Bewegung für Bürgerhaushalte. Alle Stadträte verfügen über eine Art Budget, das sie für lokale Projekte in ihren Bezirken verwenden können. Viele von ihnen haben die Idee des Bürgerhaushalts aufgegriffen und nutzen sie, um diese Gelder zu verteilen. Es scheint, als ob die Menschen über solche monetären Formen besser in politische Entscheidungsprozesse eingebunden werden können. Die Stadträte nutzen das Instrument entsprechend auch, um ihre Basis zu verbreitern und ihre Projekte durchzusetzen. 

Kann man in den USA von einem Comeback der Linken auf kommunaler Ebene sprechen? 

In gewisser Weise ja. Mitglieder des New Yorker Stadtrates haben sich deutlich radikalisiert: Man kann sie heute vielleicht als populistisch bezeichnen, sie sind nicht unbedingt links. Jedenfalls ist es besser als vorher. Ein Problem während der Amtszeit von Michael Bloomberg [republikanischer Bürgermeister von New York City von 2002 bis 2013] war, dass der Stadtrat ihm nie die Stirn geboten hat. Es gab einzelne Stadträte, die das versucht haben, aber es waren zu wenige. Heute unterstützt die Mehrheit den derzeitigen Bürgermeister Bill de Blasio. Es hat eine Revitalisierung kommunaler Politik stattgefunden, die wir landesweit beobachten können. Die von Obdachlosen und für Obdachlose gegründete Gruppe Picture the Homeless zum Beispiel verhandelt in New York mit De Blasio über ihr »Gaining Ground Pilot Project«, das vorsieht, mithilfe eines Community Land Trusts in Innenstadtgebieten bezahlbare Wohnungen für Obdachlose zu schaffen. Einen Teil der Finanzierung soll das städtische Department of Homeless Services übernehmen. Noch hat de Blasio nichts entschieden, aber wenn er diesem Vorschlag zustimmt, könnte dieses Projekt eine Modellfunktion einnehmen. Es gibt Anzeichen in diese Richtung, und das finde ich sehr beeindruckend. 

Ist das eine linke Politikrichtung, die mit Occupy begonnen hat und die wir auch in den kommunalen Bewegungen in Spanien und allgemein in Südeuropa sehen? 

Ja, genau. Am Anfang war Occupy stark von anarchistischen und autonomen Strömungen geprägt. Es bestand kaum Interesse an politischer Macht im konventionellen Sinn, der Staatsapparat war kein Referenzpunkt. Stattdessen wurde darauf bestanden, dass alles horizontal und nicht hierarchisch zu sein habe. Dies führte zu Konflikten, auch mit mir. Ich habe diese Haltung damals in einem Text kritisiert. In Anlehnung an Murray Bookchins »Hör zu, Marxist!« habe ich ihn »Hör zu, Anarchist!« überschrieben. Ich habe dort die Position vertreten, dass es ein großer Fehler wäre, beim Horizontalismus stehen zu beiben. Wir müssen weitergehen und uns auch in die Lokalregierung einbringen – in Spanien geschieht dies bereits. Ähnlich wegweisend ist das Beispiel der sozialistischen Abgeordneten Kshama Sawant, die die Kampagne »15 Now« initiiert und im Stadtrat von Seattle erfolgreich für die Einführung eines Mindestlohns von 15 US-Dollar gekämpft hat. Auch in Los Angeles wurde auf Druck der Bewegung »Fight for $15« der Mindeststundenlohn von 7,80 auf 15 US-Dollar angehoben. 

Wir springen mal an einen anderen Fleck der Erde: Im syrischen Teil Kurdistans haben wir ja in den letzten Jahren auch eine Bewegung erlebt, die für lokale Demokratie und Munizipalismus steht. 

Ja, auch sie beziehen sich auf Bookchin und sagen: Wir fordern nicht direkt die Regierung heraus, sondern versuchen, alternative kollektive Formen der Organisierung und Entscheidungen zu entwickeln, mit denen lokale Probleme angegangen und ineffiziente staatliche Strukturen ersetzt werden können. So etwa lautet der Kerngedanke, den die PKK aufgegriffen hat und der in den kurdischen Regionen Kobanê und Rojava in Syrien zurzeit praktiziert wird. Dort entsteht ein interessantes kommunales und sozialistisches Projekt. Die Parallelen zu den Zapatistas in Mexiko sind auffällig – auch hier wird nicht die Zentralregierung herausgefordert, sondern werden alternative Strukturen aufgebaut, die einen Großteil der Alltagsorganisierung übernehmen. Sogar in der Türkei wird versucht, diese Idee eines kommunalen Radikalismus wiederzubeleben. Die kurdischen Erfahrungen werden auch von der linken türkischen Partei HDP aufgegriffen. Natürlich stehen sie vor großen Herausforderungen: Viele Mitstreiter, die beispielsweise in Diyarbakir aktiv waren, sind aufgrund ihres Engagements im Gefängnis gelandet. Ihre Arbeit wird von der Regierung als »Terrorismus« gebrandmarkt, die PKK gilt als »terroristische Vereinigung«. 

Wie können solche Ideen und Projekte weiterentwickelt werden? Wie können wir als WissenschaftlerInnen zusammen mit den sozialen Bewegungen emanzipatorische Analysen mit praktischem Handeln verbinden? 

Ausgangspunkt sollten immer die praktischen Fragen sein. Wir müssen versuchen, an diese anzuknüpfen und mit unseren kritischen Analysen den Leuten etwas an die Hand geben, mit dem sie ihr Handeln reflektieren und auswerten können. Wir müssen die Probleme des täglichen Lebens vor dem Hintergrund der politischen und ökonomischen Kräfteverhältnisse, der jeweiligen Konfigurationen der Staatsmacht analysieren und daraus Perspektiven entwickeln. Zentral für uns sollte immer die Alltagspolitik sein. Marxisten haben sich viel mit der Produktion beschäftigt und wenig mit der Dynamik der Verwertung. Wertschöpfung findet derzeit in hohem Maße durch Urbanisierung statt, und die Menschen, die den Wert realisieren, sind nicht unbedingt jene, die ihn produzieren: Von der Mietenexplosion profitieren meist Leute, die nichts produziert haben. Die in der marxistischen Tradition stehenden Intellektuellen oder Aktivisten sträuben sich teils noch, diesem Umstand Rechnung zu tragen. Gleichzeitig bewegt sich politisch derzeit einiges. 

Mit David Harvey sprachen für das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo Ana Rüsche, Camila Moreno, Daniel Santini, Elis Soldatelli, Florencia Puente, Gerhard Dilger, Isabel Loureiro, Marcos de Oliveira, Mariana Fix, Pedro Arantes und Verena Glass. Aus dem Englischen von Gerhard Dilger und Niklas Franzen.