Du bist Mitglied der Refugee-Gruppe vom Oranienplatz. Wie habt ihr euch zusammengefunden?

Wir waren in Bayern in verschiedenen Flüchtlingslagern untergebracht, in denen ein System der Isolationshaft herrschte. Viele Flüchtlinge bekamen psychische Probleme, einige hielten es nicht mehr aus und begingen Selbstmord. 2012 hat sich ein iranischer Freund von mir aus einem Lager in Würzburg umgebracht. Daraufhin haben wir uns aus unterschiedlichen Lagern zusammengefunden, und angefangen Widerstand zu organisieren – zunächst auf lokaler Ebene und dann auch deutschlandweit.

Wir sind mit unserem Protest auf die Straße gegangen und haben seitdem verschiedene Aktionsformen ausprobiert. Wir haben beispielsweise einen 600 km langen Fußmarsch von Würzburg nach Berlin hinter uns. Wir haben Bustouren zu den Flüchtlingslagern organisiert und versucht dafür zu sorgen, dass die in den Lagern in Angst lebenden Menschen diese Angst zumindest zum Teil überwinden können. Wir haben sie eingeladen, mit uns auf die Straße zu gehen und für ihre Rechte und ihre Freiheiten zu kämpfen. Dank dieser Aktionen konnten wir uns mit vielen Flüchtlingen zusammentun und uns auch mit anderen gesellschaftlichen Gruppen vernetzen. Die Kommunikation untereinander organisieren wir über Versammlungen und über das Internet.

Deine politische Biografie hat dich zum Refugee-Aktivisten gemacht.

Ja, ich habe als linker Journalist und Schriftsteller in der Türkei gelebt. Wegen meiner politischen Arbeit wurde ich verhaftet und saß 15 Jahre ohne rechtskräftige Verurteilung in Haft. In türkischen Gefängnissen befinden sich Zehntausend politische Häftlinge, darunter viele Intellektuelle, Journalisten, Schriftsteller und auch Kinder. Als Anti-Kapitalist führt dein Weg in der Türkei unweigerlich durch Gefängnis und Folter. So war es auch bei mir.

Wir organisierten Widerstand gegen die Isolationsbedingungen. 1996 trat ich für 60 Tage in einen Hungerstreik. Damals verloren zwölf Menschen ihr Leben. Im Jahr 2000 wurde ein neues Gefängnismodell in der Türkei eingeführt. Dieses Modell heißt Typ-F-Gefängnis. Es wurde zum Zweck der Isolationshaft erbaut. Gegen diese Typ-F-Gefängnisse gab es wieder Hungerstreiks. Bei diesen Streiks und den Gegenmaßnahmen des Staates verloren 150 Menschen ihr Leben. 

Als Amnesty International befand, dass ich zu Unrecht inhaftiert worden war, initiierten sie eine Kampagne für meine Freilassung. Zur gleichen Zeit entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass ich zu Unrecht im Gefängnis saß und verurteilte den türkischen Staat zu einer Entschädigungszahlung. Wegen der sehr langen Untersuchungshaft wurde ich schließlich entlassen, bis kurze Zeit später das oberste Revisionsgericht die lebenslange Haftstrafe bestätigte. Also wurde erneut Haftbefehl gegen mich erlassen.

So hatte ich keine anderen Wahl, als nach Griechenland überzusetzen, wo ich wieder inhaftiert wurde und drei Monate im Gefängnis saß. Da ich – wie gesagt – zu Unrecht inhaftiert war und die Gefängnisse in Griechenland außerdem in einem desolaten Zustand sind, trat ich in einen Hungerstreik. Schließlich wurde ich freigelassen und bin nach Deutschland gekommen. Jetzt bin ich Teil der Flüchtlingsbewegung.

Das Leben in Lagern bringt Vereinzelung mit sich. Wie seid ihr zum gemeinsamen Handeln gekommen?

Viele Menschen fliehen nach Europa aufgrund von imperialistischen Kriegen, Diktaturen, Folter und Armut. Den Flüchtlingen wird ein Leben in Lagern außerhalb der Gesellschaft aufgezwungen. Sie verbringen lange Jahre in diesen Lagern, fernab von sozialen Beziehungen und einem gesellschaftlichen Leben. Das Gutscheinsystem, das Lagersystem, das Residenzpflichtsystem – all das sind letztlich rassistische Maßnahmen, die die Menschen aus der Gesellschaft ausschließen. Wir akzeptieren diese Gesetze nicht und haben gemeinsam beschlossen, dagegen auf die Straße zu gehen. Die Selbstmorde damals waren eine einschlägige Erfahrung

Ist es euch gelungen, Bündnisse mit anderen gesellschaftlichen Kräften beispielsweise hier in Deutschland zu schließen?

Viele unterstützen uns und kämpfen mit uns. Natürlich ist der überwiegende Teil dieser Gruppen und Personen irgendwie links. Inzwischen organisieren die Studenten-, die Obdachlosen- und die Arbeitslosenbewegung sowie Teile der Gewerkschaften gemeinsame Aktionen und Veranstaltungen mit uns. Die gemeinsame Ursache aller unserer Probleme ist der globale Kapitalismus. Wir bilden eine Aktionseinheit mit allen, denen diese Ökonomie schadet. Die linken Parteien im Parlament unterstützen uns auch. Rechte und konservative Kräfte führen Kampagnen gegen unseren Widerstand. Unsere Stärke beziehen wir von der Straße und von den Unterdrückten in der Gesellschaft. 

Wo seht ihr Probleme in dieser Zusammenarbeit?

Die Oppositionsbewegungen in Europa verharren teils in einer etwas passiven Haltung. Wir problematisieren das. Außerdem kritisieren wir Gruppen, die im Namen von Flüchtlingen Kampagnen durchführen, aber den Flüchtlingen selbst keine Stimme geben. Die Kampagnengruppen in Europa behandeln die Flüchtlinge teils wie Objekte. Es ist uns gelungen, diese Praxis hier und da zu durchbrechen. Wir haben gelernt, unseren Protest selbst zu organisieren und uns zu unseren Angelegenheiten selbst zu Wort zu melden. In vielen Versammlungen an Universitäten und anderen Orten sprechen wir nun selbst.

Für Flüchtlinge in Europa gelten teils sehr unterschiedliche Bedingungen. Wie funktioniert die transnationale Zusammenarbeit – auch rein praktisch?

Die Flüchtlingsorganisationen haben unterschiedliche Selbstverständnisse, entscheidend ist, dass sie über eine autonome Struktur verfügen. Unser Ziel ist es, zu allen Gruppen gleichberechtigte Beziehungen aufzubauen. Es gibt auch Statusunterschiede innerhalb der Gruppe der Flüchtlinge. Letztlich sind wir aber von denselben Problemen betroffen und kämpfen gegen dasselbe System. Auch wenn wir manchmal unterschiedliche Taktiken verfolgen, so gelingt es uns doch, unsere Aktionen in Solidarität miteinander durchzuführen. Als Menschen, die unterschiedliche Auffassungen haben und viele verschiedene Sprachen sprechen, haben wir gelernt, zusammenzukommen und gemeinsam zu kämpfen.

Ihr plant für Mai – im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament – einen Marsch nach Brüssel.

Wir haben auf lokaler Ebene angefangen, dann den Protest deutschlandweit organisiert, und nun sind wir dabei, unsern Widerstand auf Europa auszuweiten. Wir haben Beziehungen zu vielen Organisationen in Europa hergestellt und internationale Treffen durchgeführt, bis jetzt in Brüssel, Rom und Freiburg. Wir haben zusammen Entscheidungen getroffen und Texte mit gemeinsamen Forderungen verfasst. Im Rahmen dieser Forderungen werden wir im Mai/Juni einen Marsch nach Brüssel organisieren. Die Probleme in der Flüchtlingspolitik sind schließlich nicht auf Deutschland begrenzt. Die Flüchtlingspolitik in ganz Europa ist ein Problem.

Der neoliberale Kapitalismus steckt in einer Krise. Um aus dieser Krise herauszukommen, werden Maßnahmen ergriffen und Kriege geführt, die Menschen dazu bringen, ihre Länder zu verlassen und nach Europa zu fliehen. Hier sind sie dann mit rassistischen und postkolonialen Gesetzen konfrontiert. Menschen, die vor Krieg und Ausbeutung fliehen, begegnen in Europa demselben Unterdrückungs- und Ausbeutungssystem, vor dem sie geflohen sind.

Gegen Gesetze, die die Bewegungsfreiheit eingrenzen und die Möglichkeit eines gleichberechtigten Lebens ausschließen, kann nur europaweit Widerstand geleistet werden. Wir machen die Erfahrung, dass ein anderes Leben möglich ist, indem wir es praktisch angehen.

Welche konkrete politische Hoffnung verbindet ihr mit dem europäischen Marsch der Flüchtlinge?

Bislang haben wir europaweit positive Wirkung erzielt. Dass wir unseren Widerstand gegen andauernde Polizei- und Naziattacken verteidigt und trotz Angriffen aus den Parlamenten aufrechterhalten haben, hat unseren Wirkungskreis erweitert. Wir erwarten, dass unser Marsch nach Brüssel unseren Anliegen eine neue Dimension verleihen wird. Bewegungen und Personen aus verschiedenen europäischen Ländern werden sich diesem Marsch anschließen. Der Marsch nach Brüssel wird eine wichtige Rolle dabei spielen, unsere Probleme sichtbar zu machen und Akzeptanz für unsere politischen Forderungen zu gewinnen. 

Die Fragen stellten Andrew Noble und Barbara Fried. Aus dem Türkischen von Errol Babacan.