Steigende Mieten sind für die Menschen in Berlin das beherrschende Thema. In keiner anderen deutschen Stadt steigen sie so rasant. Bezahlbarer Wohnraum ist Mangelware und weder der private Wohnungsmarkt noch die kommunalen Wohnungsunternehmen schaffen hier Abhilfe. Diese Situation ist auch ein Ergebnis politischer Entscheidungen: Seit den 1990er Jahren wurden 220 000 landeseigene Wohnungen privatisiert und jährlich verlieren Tausende weitere Wohnungen die Sozialbindung. Neu sind diese Erkenntnisse nicht, seit Langem prangern stadtpolitische Gruppen und Mieterinitiativen die Wohnungspolitik des Senats an. Mithilfe neuer Organisierungsprozesse und regelmäßiger Demonstrationen ist es in den letzten Jahren jedoch gelungen, das Thema ganz oben auf die Agenda zu setzen – ein beachtlicher Erfolg, wurde doch vonseiten des Senats lange behauptet, es gebe kein Mietenproblem. Trotz einzelner Erfolge und gewonnener Abwehrkämpfe gegen Zwangsräumungen und Privatisierungen konnte jedoch kein wirklicher Kurswechsel erreicht werden – erst recht keiner, bei dem die Berliner*innen hätten mitreden dürfen. Der Unmut über die Ignoranz der Politik kam 2014 im Volksentscheid zum Erhalt des Tempelhofer Felds zum Ausdruck: Die Bebauungspläne des Senats wurden mit eindeutigem Votum abgelehnt. In dieser Situation entstand die Idee eines Mietenvolksentscheids (MVE), der die Wut der Berliner*innen auf die Senatspolitik aufgreifen und dieser eine politische Stimme geben sollte. Wie schon im Volksentscheid zur Berliner Energieversorgung 2013 beteiligte sich die Interventionistische Linke Berlin (IL) an dem entsprechenden Bündnis. Verschiedene Überlegungen spielten hier eine Rolle: Wir sahen die Möglichkeit, konkrete Verbesserungen zu erkämpfen, die die Verdrängung zumindest abschwächen und die Mieterbewegung in die Offensive bringen würden. Wir sahen außerdem das Potenzial, verschiedene Kämpfe in der Stadt zu bündeln und sie insbesondere über das linke Spektrum hinaus zu erweitern. Schließlich wollten wir über den Gesetzentwurf hinaus die Richtungsforderung nach einer Vergesellschaftung von Wohnraum stärken.1

Wir begriffen das Ganze als ein Projekt »revolutionärer Realpolitik« im Sinne Rosa Luxemburgs. Ein Projekt, das einerseits auf konkrete Verbesserung zielt, aber gleichzeitig auf einen Prozess der Veränderung und Organisierung, der schrittweise die Grenzen des politisch Machbaren verschieben kann. Gut eineinhalb Jahre nach dem Start des Mietenvolksentscheids ziehen wir ein gemischtes Fazit. Wir wollen im Folgenden nicht nur über den konkreten Verlauf der Kampagne und den MVE im Spannungsfeld zwischen realpolitischem Teilerfolg und der Gefahr einer Vereinnahmung durch die Senatspolitik reflektieren, sondern allgemein über real- und bewegungspolitische Potenziale und Beschränkungen von Volksentscheiden.

Worum ging es im Mietenvolksentscheid?

Der Mietenvolksentscheid zielte auf einen Gesetzentwurf für eine neue soziale Wohnraumversorgung und beruhte auf drei Säulen: Erstens sollte ein fest finanzierter Wohnraumförderfonds den Ankauf und Neubau von Wohnungen ermöglichen, die von sechs landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften verwaltet werden sollten. Zweitens sollten diese Wohnungsbaugesellschaften in Anstalten öffentlichen Rechts umgewandelt werden und sich damit an einer gemeinwohlorientier ten Wohnraumversorgung statt an Renditezielen orientieren. Dies sollte auch mehr öffentliche Kontrolle und Mitbestimmung der Mieter*innen ermöglichen. Das dritte Element war ein einkommensabhängiges Sozialwohngeld für die Mieter*innen im alten sozialen Wohnungsbau, die akut von Verdrängung bedroht sind. Diese Idee zog zahlreiche Interessierte an. Ein breites Bündnis aus Gruppen und Einzelpersonen traf sich in einem wöchentlichen Aktivenplenum, während ein Koordinierungskreis (Ko-Kreis) für Ansprechbarkeit nach außen sorgte und für die Infrastruktur zuständig war. Als IL Berlin waren wir in beiden Gremien präsent. Andere tragende Gruppen waren die Initiative Kotti & Co, die seit mehreren Jahren Sozialmieter*innen am Kottbusser Tor in Kreuzberg organisiert (vgl. Kaltenborn in LuXemburg 4/2012), sowie Aktive des linken Studierendenverbandes SDS und eine Reihe von Einzelpersonen. Die im Ko-Kreis eingebundenen Expert*innen spielten von Beginn an eine zentrale Rolle und waren maßgeblich an der Formulierung des komplexen Gesetzestexts beteiligt. Ein Volksentscheid folgt einem strikten Zeitplan. Um ein Gesetz zur Abstimmung stellen zu dürfen, müssen in zwei Phasen Unterschriften gesammelt werden. Schon in der ersten Phase zeigte sich das große Mobilisierungspotenzial. Eine Vielzahl von Gruppen und Einzelpersonen beteiligte sich, die Presseresonanz war groß und die Dynamik beachtlich. Statt der geforderten 20 000 konnten bereits nach sieben Wochen 50 000 Unterschriften an die Senatsverwaltung übergeben werden.

Die Tücke des Gesetzes: Realpolitik und Richtungsforderungen

Die Stärke des Volksentscheids, konkret umsetzbare Maßnahmen zur Abstimmung zu stellen, war auch eine große Schwierigkeit. Damit ein Gesetzesvorhaben wenig Angriffsfläche bietet und schnell die formalen Hürden nimmt, müssen enge rechtliche Vorgaben erfüllt sein.2

So mussten die Kernforderungen schon zu Beginn in einem schmerzhaften Prozess zurechtgestutzt werden. Wegen bestimmter landesrechtlicher Einschränkungen entschied das Bündnis, sich auf den kommunalen und sozialen Wohnungsbau zu konzentrieren. Der gesamte private Wohnungsmarkt blieb so außen vor, und damit drei Viertel der Mietwohnungen in Berlin. Wichtige Forderungen und stadtpolitische Akteure konnten folglich nicht eingebunden werden. Die IL Berlin hatte deshalb vor, den Volksentscheid durch eine Kampagne zu begleiten, die weiterreichende Forderungen hätte thematisieren können. Diese nahm jedoch nie an Fahrt auf – auch weil die anstehenden Aufgaben und erforderlichen Diskussionen im Bündnis fast alle unsere Ressourcen banden. Wir sahen in dem Gesetzentwurf dennoch viel Potenzial und den Grundstein für eine soziale Wohnraumversorgung. Zugleich versuchten wir, möglichst weitgehende Richtungsforderungen zu verankern, deren Umsetzung vielleicht nicht reibungslos funktioniert hätte, die aber das Potenzial gehabt hätten, einen Transformationsprozess anzustoßen. Solche Forderungen sind jedoch insofern juristisch riskant, als immer die Gefahr besteht, dass das gesamte Verfahren aus formalen Gründen gekippt wird. Entsprechend waren sie im Bündnis umkämpft. Zusätzlich steckt der Teufel im Detail: Wie etwa demokratisiert man eine städtische Wohnungsbaugesellschaft? Wie lassen sich die Interessen der aktuellen und potenziellen Mieter*innen vereinbaren, wie die der Beschäftigten mit denen von stadtpolitischen Bewegungen? Die Interessenlagen sind komplex, und es war notwendig, auch andere Akteure in der Stadt wie etwa ver.di oder den Flüchtlingsrat Berlin einzubinden. Genau hier liegt eine Chance des Volksentscheids: Er kann Diskussionsräume öffnen, um solche Richtungsforderungen gemeinsam zu entwickeln und konkret auszubuchstabieren. Mit weitgehenden Demokratisierungsforderungen konnten wir uns allerdings nicht durchsetzen: Dem Senat keine Mehrheit im Verwaltungsrat der neu zu schaffenden Anstalten öffentlichen Rechts zuzusichern, erschien vielen als zu weitgehend, weil es unter Umständen die Regelungskompetenz des Gesetzentwurfs überschritten hätte. Nicht nur an diesem Beispiel wird deutlich, dass das Projekt, ein neues Gesetz zu formulieren, tendenziell dazu zwingt, sich die Logiken der herrschenden Institutionen weitgehend zu eigen zu machen. Die eigenen Forderungen müssen entsprechend möglichst passförmig zu bestehenden Strukturen formuliert werden, können diese kaum überschreiten. Beispielhaft ist hier auch die Orientierung an Durchschnittsmieten als Maßstab für Mietsubventionen im sozialen Wohnungsbau: Während die Durchschnittsmiete eine dynamische Größe ist, die eine Mietsteigerung langfristig nur verlangsamen, aber nicht aufhalten kann, wäre eine Mietobergrenze hier eine sehr konkrete und zugleich radikalere Forderung gewesen. Um solche Abwägungen zu treffen, braucht es nicht (allein) juristische Sachkenntnis und Fachdebatten, sondern auch eine politisch-strategische Auseinandersetzung. Diese zu organisieren ist jedoch schwer, wenn das Machbare im Vordergrund steht und sich die neu eröffnete Diskussionsräume schnell wieder bürokratisch schließen.

Movement-Building per Volksentscheid?

Als IL verfolgten wir von Anfang an zwei parallele Ziele: realpolitische Erfolge und die Stärkung der mietenpolitischen Bewegung. Beides hing eng zusammen: Gerade Menschen, die sich nicht als linke Aktivist*innen verstehen, engagieren sich vor allem dann, wenn sie konkret etwas erreichen können. Eine Radikalisierung von Forderungen kann so auch als Lernprozess in gemeinsamen Kämpfen erst entstehen. Wir haben erlebt, welche Mobilisierungskraft von einer Initiative ausgeht, die ein Anliegen von Menschen trifft, das politisch nicht repräsentiert ist. Keine der Parteien in Berlin steht für einen mietenpolitischen Paradigmenwechsel. »Wo kann ich gegen steigende Mieten unterschreiben?«, war eine häufig gehörte Frage an unseren Info-Ständen. Am Unterschriftensammeln kann sich jede*r beteiligen. Was aber heißt Beteiligung über das Sammeln hinaus? Wie kann ein Mitmach-Volksentscheid aussehen, der gemeinsame Lernprozesse und eine Politisierung der Auseinandersetzung ermöglicht? Gelungen ist eine solche Beteiligung dort, wo sich neue Kiezgruppen rund um bestehende Initiativen formiert haben, die nicht nur Unterschriften sammeln, sondern auch andere Aktivitäten in Angriff nehmen wollten. Zusätzlich haben wir versucht, eine zentrale Struktur aufzubauen, die Interessierte mit Informationen, Einladungen, Kontaktadressen versorgt – also auch diejenigen mitnimmt, die sich nicht in bestehenden (Basis-)Gruppen zu Hause fühlen. Eine Beteiligung der Vielen über das Sammeln hinaus war aber schwierig. Außerdem gelang es uns nicht, das Aktivenplenum zu einem zentralen Ort der strategischen Diskussion zu machen, mit dem Ergebnis, dass am Ende Detailwissen und fachliche Kompetenz nur bei Wenigen lagen. Es wäre hier eine Vermittlungsebene nötig gewesen: Neben den fachpolitischen Expert*innen und Aktivist*innen hätten wir mehr Menschen gebraucht, die die Fachfragen hätten so übersetzen können, dass sie für andere politisch diskutierbar geworden wären. Dass genau das fehlte, fiel in der Anfangsphase wenig ins Gewicht. Es rächte sich jedoch, als unser Gegenüber die Strategie änderte und wir als Bündnis reagieren mussten.

In der Falle: Einbindung statt Ermächtigung

Im Sommer 2015 sah sich der Mietenvolksentscheid mit einer Strategie der Einbindung und Einschüchterung konfrontiert. Die SPD bot Gespräche an und versprach eine mietenpolitische Kurskorrektur in Form eines Gesetzes zur sozialen Wohnraumversorgung, mit der einige unserer Forderungen aufgegriffen werden sollten. Zugleich drohte sie mit einer Klage vor dem Landesverfassungsgericht, die aufgrund unvorhergesehener rechtlicher Schwächen des Gesetzestextes sogar aussichtsreich gewesen wäre. Das Bündnis sah sich in einer Zwickmühle: Auf der einen Seite bestand die Gefahr, sich in jahrelangen juristischen Streitigkeiten aufzureiben und das politische Momentum zu verlieren; auf der anderen Seite die Möglichkeit, einen Teilerfolg zu erreichen, dabei aber der SPD Wahlkampfhilfe zu leisten und eine Schwächung der mietenpolitischen Bewegung in Berlin zu riskieren. Eine vom Ko-Kreis bestimmte Gesprächsgruppe nahm an den Verhandlungen teil. Es gelang jedoch auch hier nicht, zugleich eine breite Diskussion in den Strukturen des Bündnisses und darüber hinaus zu führen. Dies hätte Zeit erfordert und wäre der Forderung der SPD nach Vertraulichkeit und schnellen Entscheidungen zuwidergelaufen. In dieser Situation auf die Bremse zu treten und einen anderen Modus einzufordern, war nicht einfach und ist zumeist unvereinbar mit dem politischen Angebot, auf ›Augenhöhe‹ zu verhandeln. Am Ende der Verhandlungen stand ein von der Mehrheit der Gesprächsgruppe unterstütztes Kompromissgesetz. Im Bündnis gab es jedoch heftige Kontroversen, in denen auch die unterschiedlichen Perspektiven der Akteure deutlich wurden: Während für die einen vor allem konkrete Verbesserungen wie etwa Mietsenkungen im sozialen Wohnungsbau ausschlaggebend waren, sahen wir als IL darin eine Vereinnahmungsstrategie, die den Aufbau von Gegenmacht auch im anstehenden Wahlkampf weiter erschweren würde. Es wäre in dieser zugespitzten Situation sehr hilfreiche gewesen, wenn wir unterschiedliche Szenarien und unsere Perspektiven darauf bereits im Vorfeld der Kampagne diskutiert hätten.

Was bleibt? Versuch einer Bilanz

Es bleibt umstritten, ob der MVE als Erfolg oder Scheitern, Etappensieg oder Rückschlag zu werten ist. Argumente lassen sich für alle Einschätzungen finden. Für unsere Bewertung ist nicht zuletzt die Art und Weise der Entscheidungsfindung relevant. Wie mit den Angeboten von SPD und Senat umzugehen ist, wurde beispielsweise nicht mit allen am Bündnis Beteiligten diskutiert und erst recht nicht gemeinsam entschieden. Manche hätten lieber eine öffentliche Konfrontation mit der SPD gesucht, anstatt hinter geschlossenen Tü- ren zu verhandeln. Eine andere Option wäre gewesen, jenseits von Verhandlungstisch und Verfassungsgericht mit der Unterschriftensammlung für einen neuen Gesetzesentwurf Druck aufzubauen. Diese Debatten nicht gemeinsam geführt zu haben, war ein folgenschwerer Fehler. So ließ ein Projekt, das ursprünglich auf Selbstorganisierung und Selbstermächtigung abzielte, erneut das Gefühl entstehen, dass andere entscheiden. Die Mobilisierung der Vielen droht so zu einem Instrument zu werden, um ›auf Augenhöhe‹ mit der Politik zu agieren – die Ermächtigung gerät als Ziel aus dem Blick. Das ist eine problematische Form der Realpolitik, die auf ein konkretes Ziel fokussiert und langfristige Veränderungen ausblendet. All das ist nicht der bösen Absicht Einzelner geschuldet, sondern hängt auch mit dem Instrument des Volksentscheids zusammen und mit den damit verbundenen Arbeitsstrukturen. Dem explizit entgegenzuwirken und demokratische Entscheidungsprozesse zu organisieren, bedeutet viel Arbeit. Offene und einladende Strukturen ergeben sich nicht von selbst, sondern müssen aufgebaut und ›gepflegt‹ werden. Diese sollten jedoch als wichtige Ressource statt als Bürde betrachtet und die damit verbundenen Aufgaben auf vielen Schultern verteilt werden. Nur so ist es möglich, Wissen weiterzugeben und damit auch einen produktiven Umgang mit Widersprüchen, der Komplexität der Herausforderungen und möglichen Rückschlägen zu finden (vgl. Zelik sowie Bruchmann/Candeias in diesem Heft). Realpolitisch betrachtet war der Mietenvolksentscheid ein Teilerfolg: Das im November 2015 verabschiedete »Gesetz über die Neuausrichtung der sozialen Wohnraumversorgung in Berlin« sieht eine (wenn auch unzureichende) Mietsubvention für einkommensschwache Haushalte im sozialen Wohnungsbau und eine Ausweitung von Krediten zur Schaffung von Sozialwohnungen vor.3

Weitere Zugeständnisse sind die Festschreibung des sozialen Versorgungsauftrages der kommunalen Wohnungsunternehmen sowie die erstmalige Verankerung eines Mitspracherechts der Mieter*innen. Zusätzlich wurden millionenschwere Investitionen zur besseren Wohnraumversorgung beschlossen. Mietenpolitisch ist all das dennoch kein großer Wurf. Es fehlen strukturelle Veränderungen und ein neues stadtpolitisches Leitbild. Mit mehr Geld werden weiterhin vor allem private Investoren gefördert, sodass wir es eher mit der sozialen Abfederung einer weiter auf privatwirtschaftliches Wachstum setzenden Standortpolitik zu tun haben. Bewegungspolitisch besteht die Gefahr, dass ein anfänglicher Erfolg im Nachhinein zur Niederlage wird. Statt des Gefühls der Ermächtigung blieb bei vielen Ernüchterung: Das ›Abfanggesetz‹ erscheint als Ergebnis von Expertengesprächen, nicht als gemeinsam erkämpfter Etappensieg. Ob der MVE langfristig eher demobilisierend wirkt oder die Mieterbewegung vorangebracht hat, ist jedoch offen. Der Weg zu einer grundlegenden Veränderung der Verhältnisse ist schließlich nicht linear und schließt zyklische Lernerfahrungen ein. Zum Schluss die Frage: Lässt sich das Instrument des Volksentscheids für grundlegende politische Veränderung nutzen? Wie wir gesehen haben, sind die Ansprüche an ein solches Projekt unterschiedlich. Entscheidend ist aus unserer Sicht, die Durchsetzung von konkreten Verbesserungen und die langfristige Stärkung einer Bewegung als Ziele zusammenzudenken. In einem Widerspruch stehen sie dann, wenn die Reform zum alleinigen Ziel wird und weitergehende Möglichkeiten aus der Hand gegeben werden. Es geht nicht allein darum, die Lage zu verbessern, sondern auch darum, in gemeinsamen Kämpfen die Grenzen von Reformen zu erkennen und schrittweise radikalere Forderungen zu entwickeln. Um das Instrument des Volksentscheids für eine solche Politik nutzbar zu machen, muss aber dieses Spannungsfeld bewusst sein. Wir müssen Strukturen entwickeln, die nicht nur konkrete Verbesserungen erkämpfen, sondern auch Erfahrungen der Ermächtigung organisieren.

Wie weiter?

Wie könnte ein Neuanfang nach dem MVE in Berlin aussehen? Um eine breite politische Diskussion darüber zu führen, haben wir im Februar 2016 eine stadtpolitische Aktivenkonferenz organisiert. Ziel war es, eine Kampagne zu entwickeln, um den Senat im kommenden Wahlkampf unter Druck zu setzen und dem Eindruck entgegenzuwirken, die SPD habe die mietenpolitische Frage ›gelöst‹. Zugleich wollten wir die mietenpolitische Bewegung nach dem Volksentscheid wieder zusammenführen, und hier aus unseren Erfahrungen lernen. Schon in der Planung bemühten wir uns, offen mit möglichst vielen Akteuren zu kommunizieren, sie zur Vorbereitung einzuladen und nach ihren Ideen zu befragen. Zugleich ist klar, dass wirkliche Beteiligung und Mitverantwortung nicht allein durch offene Einladungen und Ideenabfragen entstehen. Vielmehr bedarf es der persönlichen Überzeugungsarbeit in kleineren Treffen, für die es weiterhin oft an Kapazitäten fehlt. Dennoch ist es auf der Konferenz gelungen, ein gegenseitiges Vertrauen wiederherzustellen. In den Strategiedebatten wurden gemeinsame Linien deutlich: eine Stärkung und Demokratisierung des öffentlichen Wohnungsbestands und das Zurückdrängen profitorientierter Investoren. Mit der Forderung nach »Wohnraum für Alle« haben wir die Wohnungsfrage für Geflüchtete mit der allgemeinen Wohnungsmisere zusammengebracht (vgl. Wiegand in diesem Heft).4

Für unsere zukünftige Kampagne gilt es nun, vielfältige und niedrigschwellige Anknüpfungsmöglichkeiten zu bieten – sowohl inhaltlich wie aktionistisch. Trotz der Zuspitzung auf Richtungsforderungen müssen viele konkrete Forderungen Platz haben. Gerade in der Planung ist es wichtig, vielfältige Aktionsformen zuzulassen und zu fördern. Begonnen haben wir im Juni 2016 mit einer Social-Media-Kampagne und Aktion zum symbolischen Einzug ins millionenschwere Berliner Stadtschloss und mit der Ausarbeitung eines wohnungspolitischen Forderungskatalogs. Die Zuspitzung bei gleichzeitiger Breite und Vielfalt bleibt eine Herausforderung, auch weil in Berlin weiterhin viele stadtpolitische Gruppen unverbunden nebeneinander her arbeiten. Der Mietenvolksentscheid war hier trotz aller Unzulänglichkeiten eine wichtige Erfahrung, die gezeigt hat: In einem breiten Bündnis kann die stadtpolitische Bewegung Ungeahntes erreichen.

1 Zum Konzept der Vergesellschaftung, wie es in der Interventionistischen Linken diskutiert wird, vgl. http:// gruppedissident.blogsport.de/images/vergesellschaftung_ilweb.pdf

2 Langwierige Prüfungen oder Verfassungsklagen hätten etwa dazu führen können, den anvisierten Abstimmungstermin, die Abgeordnetenhauswahl 2016, zu verfehlen. Dies ist eine bekannte Verzögerungstaktik des Berliner Senats, um Volksbegehren an der niedrigen Wahlbeteiligung scheitern zu lassen. So geschehen im Fall des Energievolksentscheids 2013.

3 Vgl. hierzu eine kritische Bewertung der Mieterinitiative Kotti & Co unter: https://kottiundco.net/2015/10/09/ unglaublich-fuer-berlin-trotzdem-nicht-genug/

4 Die Kampagne »Wohnraum für Alle« ist Teil des Zusammenschlusses »Berlin für Alle«, in dem sich unterschiedliche Initiativen gemeinsam für soziale Rechte und den Ausbau einer sozialen Infrastruktur engagieren. Infos unter: http://berlinfueralle.org

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