Fünf Jahre dümpelte die Partei mit Wahlergebnissen von meist unter zwei Prozent vor sich hin, ausgenommen beachtliche 13 Prozent unter männlichen Erstwählern bei der Bundestagswahl 2009. Noch am 4. September 2011 reichte es in Mecklenburg-Vorpommern nur zu 1,8 Prozent. Zwei Wochen später brachten die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus mit 8,9 Prozent den Durchbruch und weitere Erfolge. Ist dieser plötzliche Erfolg mit den Themen und dem Handeln der – jeweiligen – Piraten zu erklären, mit jähen politischen Veränderungen, etwa neuen Angriffen des Staates auf die Freiheit der Netze? Wohl kaum. Die politischen Themen der Piratenpartei – Netzpolitik, Urheberrecht, Grundeinkommen – spielten keine die Wahlentscheidung dominierende Rolle. In Nordrhein-Westfalen erklärten zuletzt gut 70 Prozent der Befragten, die Piraten gewählt zu haben, weil sie neu seien und sie aus Unzufriedenheit über die »Altparteien« »etwas Neues ausprobieren« wollten.Identifikation und Bindung mit der Partei sind eher gering. Die Motive und Interessen der Wählerinnen und Wähler der Piraten lassen sich also nicht aus den Selbstdarstellungen der Partei ableiten. Das Beständige im Verhältnis von Partei und Wählern ist das Unbestimmte und Offene, die Vielfältigkeit von Erwartungen und Projektionen, die die neue Partei auf sich zieht. Der Wahlerfolg entzieht sich als work in progress identitären Bestimmungen.Das Phänomen lässt sich nur verstehen, wenn man es auf verschiedenen Ebenen einkreist und sich vor schneller Reduktion auf Bekanntes hütet. »Piraten« haben zwei Existenzen: eine als reale historische Gestalt und eine in den Vorstellungen und Mythen. »Nicht ohne Grund formte und festigte sich deshalb der Piratenmythos in einer Zeit, in der industrielle Arbeit, geregelt von der Stechuhr bei den einen und dem Terminkalender bei den anderen, die freie Verfügbarkeit von Zeit immer mehr einengte.« (Bohn 2005, 6, 9, 110) Im Piraten-Bild finden sich »Momente eines ungebundenen, freien Lebens«, »die Gegenfigur des Arbeiters und Bourgeois und erst recht des Spießers [...] In der populären Vorstellung besitzen piratische Gemeinschaften quasi urkommunistische Züge: sie organisierten sich demnach in demokratischer Selbstverwaltung, teilten ihre Beute nach ›gerechten‹ Grundsätzen und hatten, zumindest im überlieferten Fall der Bukaniere,sogar eine Art Sozialhilfe« (ebd). Wer über den Namen der Partei hinweggeht, übersieht einen Zugang zum Mythos freier Vergemeinschaftung und Aneignung eines »gerechten Teils« in bedrängten Lebenslagen, in ungerechten Verhältnissen und bei Auflösung tradierter Normen. Etliche Piratengemeinschaften gingen auf Diggers und Levellers aus England zurück, die Umverteilung durch Aneignung öffentlichen Eigentums oder durch gewaltsame Enteignung von Reichen angingen. Unter Cromwell wurden sie – wenn nicht sofort zum Tode verurteilt – auf Galeeren und in Arbeitslager nach Übersee verschickt. Einigen gelang es, sich zu befreien, sich die Schiffe anzueignen; Gleichheitsideen wurden auf die Schiffsgemeinschaft übertragen. Die Geschichte der Piraten ist auch eine der Kaperbriefe, der staatlichen oder outgesourcten Freibeuterei des Handelskapitals in der Frühphase der ursprünglichen Akkumulation und der Neuaufteilung der Welt. Diese Übergangsphase zu einer neuen Produktionsweise wurde mit der Deklaration über das Seerecht von 1856 für beendet erklärt und Piraterie erneut geächtet (vgl. MEW 15, 427ff). Historische Assoziationen erklären natürlich nicht die deutsche Piratenpartei. Sie schützen aber vielleicht vor kurzschlüssigen Erklärungsmustern wie »Parteienverdrossenheit« und verweisen auf tiefer gehende Brüche in der Legitimität von bestehenden Machtund Eigentumsverhältnissen, Verfahrensweisen und Institutionen, zumal der Parteiname selbst ausdrücklich an den kollektiven Mythos und ein piratisches Aneignungsverhältnis zum gesellschaftlichen Reichtum anknüpft. Anders als die Grünen ging die Piratenpartei nicht aus langjährigen Debatten einer sozialen Bewegung hervor, sie ist, trotz »Zensursula« und ACTA, keine »Bewegungspartei«. Anders als PDS oder WASG gründete sich die Partei auch nicht als Reaktion auf historische Bruchsituationen, sei es der Untergang eines Staates oder einer sozialdemokratischen Traditionslinie. Die Partei profitiert von den weitreichenden Umbrüchen in den technologischen Grundlagen der Gesellschaft und davon, dass den vorhanden politischen Kräften vielfach nicht mehr zugetraut wird, die vorhandenen Möglichkeiten der Verbesserung der gesellschaftlichen Bedingungen auszuschöpfen und die Apologeten und Anwender dieser Ver- änderungen angemessen zu integrieren. Da scheint die Konzeptlosigkeit der Piratenpartei ehrlicher; sie »präsentieren sich als eine Partei, die selbst noch nicht weiß, was sie will [...] außer der Absicht, parteipolitisches Handeln aus seinen starren Gewohnheiten zu lösen, es transparent und nachvollziehbar zu gestalten« (Klönne 2012). Das Wohlwollen gegenüber den selbst erklärten Dilettanten entspringt aus der gestörten Beziehung eines Teils der Wähler zu den Altparteien. Der politische Betrieb wird als professionelle Inszenierung von Demokratie jenseits der Alltagspraxis wahrgenommen. Authentizität, Repräsentation und Partizipation in Sprache und Auftreten des politischen Personals werden vom professionalisierten Marketing nur als asymmetrische Kommunikation simuliert, den um »Vertrauen« wetteifernden Politprofis und ihren Agenturen gelten die Wähler als Flugsand, »der durch werbende Performance der Parteien und publizistische Kampagnen von materiell dazu fähigen Medien mal hierhin und mal dorthin getrieben wird; Partizipation von Mitgliedern der Parteien kann als virtuelles Spiel betrieben werden, dessen Regeln die Hauptamtlichen setzen« (Klönne 2012). Im Aufstieg der Piratenpartei manifestiert sich der verbreitete Protest gegen »Politik als Beruf« (Max Weber). Ob daraus eine dauerhafte Beziehung zu ihren Wählern entsteht oder ob es bei einem »Küblböck«- Effekt (schnell aufsteigend, schnell verschwindend) bleibt, ist offen. Zwei Konstellationen für den wahlpolitischen Erfolg einer neuen Partei sind denkbar: Mexico, MaloMalverde Re:organisieren luxemburg | 3/2012 149 Er kann die Abspaltung eines Teils der Wähler von einer anderen Partei ausdrücken, wie es im Westen 2005 und 2009 für WASG und die LINKE der Fall war. Oder er kann ein sich plötzlich einstellendes Ergebnis allmählicher Veränderung im Wahlverhalten sein. Dieser Fall liegt bei der Piratenpartei vor. In den Landtagen wird seit über einer Dekade nur noch gut die Hälfte der Wahlberechtigten parteipolitisch repräsentiert. Die Wahlbeteiligung und damit erst recht die politische Repräsentation liegt gerade bei den Jüngeren noch deutlich darunter. Die Landesregierungen repräsentieren nur ein knappes Drittel der Wahlberechtigten. Gleichzeitig nahm bei den jüngeren Wahlberechtigten die Bindung an eine bestimmte Partei deutlich ab. Als »Wechselwähler« wird der wachsende Anteil von Wahlberechtigten bezeichnet, der unter eher situativen und taktischen Erwägungen entscheidet, ob und wem er oder sie die Stimme gibt. Möglichkeitsbedingungen für den wahlpolitischen Erfolg einer neuen Partei, die es versteht, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und Lebensgefühl auszudrücken, sind somit seit längerem vorhanden. Die typischen Wähler der Piratenpartei bei den vergangenen vier erfolgreichen Wahlen waren unter 40 Jahre alt, überwiegend jünger als 30 und mehrheitlich männlich. Alle sozialen Schichten sind vertreten, bei einem überdurchschnittlichen Anteil höher Qualifizierter und teilweise der unterdurchschnittlich Verdienenden. In der Summe aller vier Landtagswahlen kamen 13 Prozent der Wählerschaft der Piratenpartei von der SPD, je 12 Prozent von der FDP und Der Linken, 9 von der Union und 8 von den Grünen. Ebenfalls 8 Prozent der Piraten-Wähler hatten zuvor eine kleinere Partei gewählt, 13 Prozent hatten nicht gewählt. Ein Viertel der Piraten-Wähler war bei der vorherigen Wahl im jeweiligen Bundesland nicht wahlberechtigt, also zugezogen oder Neuwähler. Auch wenn es einen leichten Überhang der Stimmen aus dem linken Lager gibt, die Piraten in Befragungen eher als Partei »links von der Mitte« angesiedelt werden und sie dies auch programmatisch abbilden, ist kennzeichnend, dass die Stimmen von jüngeren Leuten kommen, die sich zuvor über das gesamte Parteispektrum verteilten und politisch und sozial äußerst heterogen sind. Der Absturz der FDP und die OccupyBewegungen haben die Piraten begünstigt. Das Motto »Mehr Netto vom Brutto« hatte für vielfältige Wünsche nach Teilhabe an den Früchten neoliberaler Umverteilungspolitik gestanden; unter dem Eindruck der Finanzund Wirtschaftskrise wuchs der Eindruck, dass es ohne gemeinschaftliche oder staatliche Garantien doch nicht gehen wird. Die FDP stürzte in den Umfragen bis zum Frühjahr 2012 ab, die Zeiten einer Ein-Punkt-Partei, eines maß- und wertelosen Klientelismus scheinen vorbei. Die Piraten kamen da mit ihrer Verteidigung der individuellen Freiheit gegen staatlichen Zugriff bei gleichzeitiger Garantie notwendiger gemeinschaftlicher Grundgüter wie Einkommen, Wohnen und Mobilität gerade recht. Zur Partei eines wiederbelebten Sozialliberalismus fehlt ihnen allerdings Entscheidendes: Selbst die Ordoliberalen bestanden darauf, dass eine zu große wirtschaftliche Konzentration nicht nur die Marktwirtschaft außer Kraft setzt, sondern auch die Reichweite demokratischer Entscheidungen unzulässig beschränkt. Bislang haben die Piraten die Macht von Facebook, Apple und Co. nicht in Frage gestellt. Möglicherweise würden darüber auch ihre Wähler auseinandergetrieben. Die Occupy-Bewegung, hier stellvertretend für andere politische und soziale Aufbrüche 2011 erwähnt, entwickelte auf der losen organisatorischen Grundlage horizontaler sozialer Netzwerke jenseits parteiförmiger Politik ein neues politisches Einmischungsmodell. Die Piratenpartei erschien im Herbst 2011 in Deutschland als organische Fortsetzung dieser Politikform unter den Bedingungen des repräsentativen Systems: offen für breite Beteiligung, ausgeprägte horizontale Kommunikation mit hoher Konsensorientierung, themen- statt personenorientiert, vom Selbstverständnis her ein neues Betriebssystem für demokratische Partizipation. Im Kern ist damit das Programm der Piraten umschrieben, der Rest, der bei anderen Parteien das Wesen eines Programms ausmacht, ist liquid bzw. patchwork – die Piratenpartei als permanente Einladung, sie zu kapern. Dem arbeitet die Ideologie der Entideologisierung zu: Pragmatische, lösungsorientierte Entscheidungen ständen im Vordergrund, eine Haltung, wie sie wiederum Ingenieuren und Technikern nachgesagt wird. Weltanschauungen wie Konservativismus, Liberalismus und Sozialismus würden dagegen unterschiedliche Aspekte der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit in den Vordergrund rücken. »Der Irrtum entsteht dort, wo eine Perspektive absolut gesetzt und zur allein gültigen Wahrheit erklärt wird.« (Plaum 2012, 180) Die piratische Internet-Demokratie verspricht die Befreiung vom demokratischen Zwang, eine Entscheidung zwischen Parteien treffen zu müssen und stattdessen mit technischer Hilfe Programmteile verschiedener Parteien auswählen und kombinieren zu können (a.a.O., 147–72). Ausgerechnet die Urenkel des Binär-Systems erklären das »Binär-Schema« für überholt. Mit den Piraten kehren Fortschritts- und Technikoptimismus in die Politik zurück; eine neue Form des Fortschrittsdenkens, in dessen Mittelpunkt Kooperation, Kreativität und Gleichheit zu stehen scheinen. Hacker, Software-Produzenten, »Informationsarbeiter« bilden die soziokulturelle Basis, um die sich tatsächlich sozial vielfältigere Wählergruppen zusammenfinden. Was die unterschiedlichen Gruppen verbindet, könnte der Widerspruch zwischen dem technisch Möglichen und Machbaren und den realen Zugangsschranken sein; für die einen eher beim Zugang zu Beteiligungs- und Entscheidungsprozessen, für die anderen eher beim kostenlosen Download von Filmen, Musik, Spielen. »Access« (Jeremy Rifkin) – letztlich: moderne Gemeingüter – wäre die Kurzformel für die Modernisierung der sozialen Frage, die die Linke als vermeintlich »weiches« Thema gegenüber den »harten« Themen der Verteilungspolitik zu lange gering geschätzt hat. Die Piratenpartei hat ihre Zukunft nicht in der Hand: Wenn sie ihr Angebot ernst meint, das Betriebssystem für eine neue Patchwork-Politik zu bieten, hängt viel davon ab, welche Schichten und Interessen sich daran machen, sich diese ihre eigene Partei zu basteln. Gleichzeitig haben es die konkurrierenden Parteien in der Hand, einen eigenen Zugang zu den unterschiedlichen Ebenen und Aspekten gesellschaftlicher Ver- änderungen und ihren Subjekten zu finden, deren politische Heimatlosigkeit die Piraten stark macht. Einfach wird das nicht. Auf der Projektionsfläche Piratenpartei verbinden sich kollektive Volksmythen mit vorgeblich technologisch grundiertem Pragmatismus und alltagsweltlicher Do-it-yourself-Mentalität zu einer politischen Lebendigkeit, die ohne Beschwörungen von Katastrophen, Weltuntergängen und Zusammenbrüchen, also ohne gängige politische Angstfaktoren der Konkurrenz, auskommt.  

Literatur

Bohn, Robert, 2005: Die Piraten, 2. Aufl., München Kahrs, Horst, 2011: Piraten auf Level 3, www.horstkahrs. de/2011/12, 4.12. Ders. und Benjamin-Immanuel Hoff, 2012: Die Piraten im vierten Landtag. Wahlnachtbericht-Spezial vom 13.5.2012, www.wordpress.wahlanalysen.de Klönne, Arno, 2012: Liquid Democracy, in: Klönnes Klassenbuch, Marx21, 22.5. Plaum, Wätzold, 2012: Die Wiki-Revolution. Absturz und Neustart der westlichen Demokratie, Berlin

Anmerkungen

1 Slogan der Gruppe Anonymous. 2 Gut ein Zehntel nennt »Soziale Gerechtigkeit« als prägendes Motiv, erst danach kommen die Themen, die der Partei als ihre ureigenen zugeschrieben werden: Netzpolitik, Urheberrecht, Internet. 3 Siehe hierzu sowie zu weiteren Aspekten der divergierenden sozialen und politischen Zusammensetzung der Wählerschaft der Piratenpartei Kahrs (2011) sowie Hoff/ Kahrs (2012). 4 »Bukaniere« ist der Name einer Piraten-Bewegung an den karibischen und nordamerikanischen Küsten im 17. Jahrhundert.