Verunsicherung und Erschöpfung sind die Rückseite der neoliberalen Anrufung von Eigenverantwortung und fortschreitender Flexibilisierung bis hin zum »Fordern statt Fördern« der Agenda 2010. Sie sind das Ergebnis von über 30 Jahren Verallgemeinerung prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse. »Jeder Zweite klagt über Stress, jeder Dritte hat das Gefühl, sich zerreißen zu müssen. […] Fast jeder kennt einen Kollegen mit Burn-out, egal ob Wirtschaftsprüfer oder Automechaniker« oder Arbeitslose – so die Studie von Financial Times Deutschland und GfK Verein (FTD 9.11.2012, 31).

Die Intensivierung der Arbeit steigert die Reproduktionserfordernisse; gleichzeitig verkürzen erhöhte zeitliche Ansprüche der Erwerbsarbeit die verfügbare Zeit für die Reproduktion von eigener und neuer Arbeitskraft. Beides muss in immer kürzerer Zeit geleistet werden und setzt die Betroffenen zeitlichem Stress aus: Insbesondere bei Frauen geht – trotz häufiger Teilzeitarbeit – die reale Arbeitszeit inklusive der notwendigen Erziehungs- und Hausarbeit oft deutlich über 70 Stunden in der Woche hinaus. Hoch flexibel im Zeitmanagement zwischen Job, Schule, Kita, Zuhause und den Großeltern, die ab und zu helfen. Die Ausdünnung und Verteuerung öffentlicher Dienstleistungen verschärfen das Problem. Eine Verdichtung von Arbeit im Gesundheitswesen und in Bildungseinrichtungen führt zudem zu sinkender Qualität der Leistungen. Folge: Zuerst wird die eigene Reproduktion vernachlässigt, dann die nötige Erziehungs- und Sorgearbeit und schließlich ist auch die Arbeitsleistung bedroht: Erschöpfungssyndrome sind Allgemeingut geworden. Besonders unter berufstätigen Alleinerziehenden ist die Burn-out-Rate hoch (FTD 9.11.2012, 1). Für die Einzelnen ist die »Krise der Reproduktion« seit langem Alltag.

Wessen Krise?

Eine Krise der Reproduktion auf subjektiver Ebene ist noch keine gesellschaftliche Krise. Der lange Prozess einer molekularen (vielerorts auftretenden, langsamen, nicht unmittelbar sichtbaren) Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse im Sinne wachsender Probleme individueller Reproduktion wird jedoch durch die große Krise seit 2007 verschärft. Als vereinzelte Phänomene sind solche molekularen Veränderungen beherrschbar. Generische Krisenelemente gehö- ren organisch zur Reproduktion kapitalistischer Produktionsweise. Da sie ständig wirksam sind, so DemiroviĆ (1987, 118), ist es weder berechtigt, sie selbst schon als Krise zu sehen, noch dahinter ein teleologisches Prinzip zu vermuten, das quasi automatisch zur »wirklichen« Krise hinführt. Doch sie tragen immer auch die Möglichkeit zur Verschiebung von Widersprüchen und Kräfteverhältnissen und damit zur Verdichtung in »großen« strukturellen bzw. organischen Krisen in sich. Sie berühren Fragen der Hegemonie und Legitimität. Die »kleinen« Krisen – verbreitete, sich verallgemeinernde individuelle Reproduktionsprobleme – sind nicht an sich bestandsgefährdend, sie schüren jedoch gesellschaftliche Konflikte. Aufgrund der Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse sind sie in letzter Konsequenz unkalkulierbar, ihre Überwindung ist nicht selbstverständlich. Im Moment des Zusammenfallens mit anderen Krisen, wie der Finanz- und Wirtschaftskrise beispielsweise, werden sie zur Reproduktionskrise. Darin liegt der krisenhafte Charakter solcher molekularen Bewegungen – insbesondere wenn sich unterschiedliche Krisenelemente verschränken und sich in einem Ereignis verdichten, wie etwa in Griechenland.

Auch in den Finanzkrisen 1998ff von Asien bis Argentinien gerieten ganze Gesellschaften an der kapitalistischen Peripherie an den Rand der Reproduktionsfähigkeit. Dann werden auch politische und ökonomische Verhältnisse als Ganze in Frage gestellt – aktuell in der Überschuldungs- und Bildungskrise in Chile (vgl. Völpel/Garreaud in diesem Heft). Zuweilen führt dies zur Abkehr vom Neoliberalismus und zu unterschiedlichen Versuchen der Transformation – wie in Lateinamerika. In Asien erfolgte eher eine Hinwendung zum Modell des chinesischen staatsinterventionistischen Kapitalismus.

Die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung und die besondere Position der deutschen Ökonomie hat eine Verdichtung der Krise hierzulande bislang verhindert. Um sie im Bereich der Reproduktion zu vermeiden, wird derzeit mit widersprüchlichen Versuchen der Reform experimentiert: von Ganztagsschulen und einem Anspruch auf Kindergartenplätze nach dem ersten Lebensjahr bis zur »Herdprämie« und dem verstärkten Einsatz von niedrig qualifizierten, also billigeren Erzieherinnen.

Zusammenhang von ökonomischer und Reproduktionskrise Mit dem Blick auf die Krisen der Reproduktion geht es jedoch nicht mehr nur um die Auswirkungen beispielsweise ökonomischer Krisen auf die Reproduktion der Subjekte, sondern auch um die Rückwirkung, das Wechselverhältnis, die Verschränkung und mögliche Verdichtung unterschiedlicher Prozesse und Krisen. Es finden sich bereits Hinweise, wie die Krise der Reproduktion – nicht nur im Bereich der reproduktiven Arbeit (vgl. Federici/Cooper in diesem Heft) – selbst auf die Ökonomie zurückwirkt. Diese bewegt sich seit langem auf eine Überakkumulationskrise zu (Candeias 2011).

Steigende Renditen lassen sich nur noch durch Umverteilung zu Lasten der Lohnabhängigen, des Staates und der national oder regional beschränkten Kapitale realisieren, während immer größere Bereiche gesellschaftlich notwendiger Arbeit, der öffentlichen Infrastrukturen, der sozialen Dienste – also der allgemeinen (Re-) Produktionsbedingungen – austrocknen. Während die Überakkumulation nicht nachhaltig abgebaut werden kann, sich nicht ausreichend neue Investitionsfelder eröffnen, spitzt sich eine Reproduktionskrise des Gesellschaftlichen zu. Sie gefährdet auch die Grundlagen der Akkumulation selbst: mangelnde Infrastrukturen, mangelnde Qualifikationen, mangelnder Zusammenhalt, mangelnde Profitaussichten etc.

Tatsächlich nehmen in Deutschland insbesondere die kommunalen Investitionen seit Jahren ab. Bereits im Jahr 2005 lag die Unterfinanzierung bei etwa 20 Prozent. Im Zuge der Krise sinken sie nach Ablauf der Konjunkturprogramme durch die gesetzliche Schuldenbremse und den Kürzungszwang weiter ab. Noch dramatischer sieht die Investitionslücke in den USA aus. In diesen Berechnungen geht es vor allem um physische Infrastrukturen. Investitionen in soziale Infrastrukturen wie Pflege, Gesundheit, Erziehung und Bildung sind nur unzureichend enthalten. Artus und Virard (2007) sprachen schon vor der Krise von einem »Kapitalismus ohne Projekt«, die Substanz der allgemeinen Reproduktionsbedingungen wird ausgezehrt.

Vor diesem Hintergrund erhalten auch andere molekulare Veränderungen eine andere Bedeutung, wirken krisenverschärfend. Etwa die Erschöpfung der neuen Produktivkräfte: So wurden in den letzten Jahren neue Formen der Arbeitsorganisation zurückgeschraubt. Von Kapitalseite erfolgt ein Rückbau von Autonomiespielräumen, Verschärfung von Kontrolle, Intensivierung und Prekarisierung der Arbeit sowie Überausbeutung. Auf der Seite der Lohnabhängigen führt dies zu breiter Demotivierung und Kreativitätssperren, sowohl durch die »Selbstausbeutung« in flexiblen, enthierarchisierten Arbeitsverhältnissen als auch durch enge Grenzen betrieblicher Vorgaben und des Despotismus – vor allem im Niedriglohnsektor. Dies bedeutet in vielen Fällen Erschöpfung, Verunsicherung, Burn-out, mangelnde Requalifizierung. »Für die Unternehmen ist das ein Problem.« (FTD 9.11.2012, 1) »Familie und Beruf passen kaum zusammen« (ebd.); Überstunden, Zeitdruck und Verdichtung führen.

zu »Schuldgefühlen, Frust – und sinkender Arbeitsleistung« (31). Die subjektiven Probleme der Reproduktion schlagen um in ökonomische Probleme: Im Ergebnis liegt der Anstieg der Arbeitsproduktivität in den letzten zehn Jahren – trotz New Economy Boom  – in Deutschland unter 2 Prozent, fluktuiert meist um die 1 Prozent. In den USA ist das Wachstum der Arbeitsproduktivität von 2000 bis 2007 im Durchschnitt auf 0,5 Prozent gesunken. Erst durch Massenentlassungen in der Krise konnte sie laut Bureau of Labor Statistics (statistisch) auf durchschnittlich 2 Prozent verbessert werden.

Die Kapitalproduktivität entwickelt sich noch schlechter: Von 1980 bis 1992 konnte sie noch gesteigert werden, mit der Rezession Anfang der 1990er Jahre fiel sie ab und stieg erst mit dem New Economy Boom noch einmal kurzfristig an. Seit der Krise 2000/2001 fällt sie kontinuierlich (erreichte das Niveau von 1979). Die Bundesbank bestätigt: »In der Tendenz entspricht die sinkende Kapitalproduktivität […] dem langfristigen Trend, der den überproportional wachsenden Kapitaleinsatz (Substitution von Arbeit durch Kapital)« widerspiegelt (Deutsche Bundesbank 2010, 16f). Trotz fallender Investitionen und sinkender Lohnquote steigt die Kapitalintensität bei zurückgehender Arbeits- und Kapitalproduktivität. »Die Profitrate steigt, wenn das Wachstum der Reallöhne niedriger ausfällt als […] der gewichtete Durchschnitt von Arbeits- und Kapitalproduktivität« – doch »es ist dieser doppelte Verfall der Arbeitsproduktivität im Verhältnis zum Kapitaleinsatz pro Kopf, aber auch im Verhältnis zu den Löhnen, der den Fall der Profitrate einleitet.« (Husson 2010) Spätestens seit 1999 können Steigerungen der Profitrate weder auf erhöhte Wachstumsraten noch auf wachsende Produktivität zurückgeführt werden, sondern nur durch Umverteilung des Mehrwerts erzielt werden.

Die Überlagerung von weiter wachsender finanzieller Überakkumulation, mangelnden Investitionsaussichten aufgrund von Eurokrise und Kürzungspolitiken, Problemen der neuen Produktionsweise und Schwierigkeiten der Reproduktion der Arbeitskraft (vgl. Winker in diesem Heft) erzwingt einen tiefen Einbruch mit massiver Kapitalvernichtung oder einen umkämpften Transformationsprozess.