MigrantInnen, soviel wissen wir mittlerweile, sind medial gut vernetzt: Handys und Social Media gehören ebenso zur Erfahrung der ›Balkanroute‹ wie Grenzzäune und Robocops. Mediale Konnektivität ist, auch unter asymmetrischen Machtbedingungen, nicht nur potenziell mobilitätssichernd, sondern lebensrettend. In diesen umkämpften transnationalen Räumen stellen diese mobile commons eine wichtige Ressource für MigrantInnen dar.

Guantanamo Italia

Eine Gruppe von jungen TunesierInnen, die Anfang März 2011 in Lampedusa angekommen und dort in einem Lager inhaftiert worden waren, um anschließend über Turin nach Tunesien abgeschoben zu werden, trat in den bedingungslosen Hungerstreik, als einige erfuhren, dass die Haft im Abschiebegefängnis in Turin bis zu sechs Monaten dauern sollte. Die Streikenden forderten ihre bedingungslose Freilassung. Öffentlich wurde dies erst, als einer unter ihnen alle Namen der Insassen einsammelte und sie vom Handy aus einem Freund in Zarzis (Tunesien) schickte, der wiederum eine Facebook-Seite mit dem Namen »Guantanamo Italia« eröffnete und dort ein Video in Arabisch, Französisch und Italienisch hochlud, das die Namen aller in Turin in der Via Santa Maria Mazzarello Inhaftierten zu einem Song abspielt.1 

Auf diese Weise, also über transnationale soziale Medien, gelangten die Informationen über den Hungerstreik und die Bedingungen der Abschiebehaft an globale Mainstream-Medien wie Al Jazeera und France 24. Auf der Seite »Guantanamo Italia« werden weiterhin Videos und News geposted: Zum Beispiel geht es um die Proteste von Familienangehörigen ertrunkener MigrantInnen aus Zarzis. Auf dem Weg nach Italien war ein Fischerboot mit 120 MigrantInnen an Bord mit der Korvette »Liberté 302« der tunesischen Marine kollidiert. 35 Menschen ertranken. Die protestierenden Familien fordern für die Opfer wie für die Inhaftierten der Via Santa Maria Mazzarello Gerechtigkeit.

»Ob ich Facebook benutze, um mit meiner Familie in Kontakt zu bleiben? Alles was du brauchst, ist ein Smartphone. Zuhause, da haben sie nichts als Smartphones. Manchmal pingt man sie einfach nur an, damit sie von deiner letzten Vorwahl sehen können, wo du bist und dass du einen Schritt weitergekommen bist.

Auf Facebook hab ich kürzlich ein paar Freunde wiedergefunden, die ich vor Jahren aus den Augen verloren hatte – die leben jetzt in Paris. Letztes Jahr, nach dem Pagani-Camp, wollte ich zusammen mit einem Freund weiter nach Deutschland. Wir reisten durch Mazedonien und Serbien bis Ungarn, wo sich unsere Wege trennten. Wir hatten alles vorbereitet, wir hatten jeden Teil der Route als Kopie von Google Earth dabei, ausgedruckt in InternetCafés. Und wir haben das GPS auf unseren Smartphones benutzt. Mein Freund nahm einen Zug nach Deutschland, aber er schlief ein und musste in Wien aussteigen, wo sie ihn dann geschnappt haben. Ich wurde in Ungarn verhaftet und sechs Wochen lang in ein Lager eingesperrt. Sie drohten mir, dass ich jahrelang dort einsitzen würde, wenn ich das Land nicht freiwillig verlassen würde. Also entschied ich mich, nach Griechenland zurückzukehren. In Serbien nahm mir die Polizei dann all mein Geld und mein Smartphone ab, und ich wurde zusammen mit vielen anderen in einen Keller gebracht. So etwas hatte ich in Griechenland nie erlebt. Als ich dann endlich in Mazedonien ankam, fragte mich die Polizei, ob ich auf dem Weg nach Serbien oder Griechenland war. Sie zeigten mir den Weg und gaben mir sogar ein paar Münzen für einen Telefonanruf. Ich hatte schon mit einem Freund telefoniert, der durch Evros nach Athen gekommen war und jetzt dort lebt. Er erzählte mir, dass es in Evros tatsächlich sehr billig ist, nur 400 Dollar. Das hängt mit Sicherheit mit der Frage von Fingerabdrücken zusammen. Wenn du versuchst, es über die Inseln zu schaffen, dann ist es viel schwieriger, nicht deine Fingerabdrücke abgeben zu müssen. Deswegen ist es auch teurer. In Evros kommt man durch, ohne viel Geld und ohne Fingerabdrücke.« (Interview mit Sapik, Lesbos, 7.9.2012; Übers. d. Red.)

Man kann Dutzende solcher Darstellungen sammeln, um ein reichhaltiges und differenziertes Bild der multimedialen ›digitalen Umgebung‹ von grenzüberquerenden AkteurInnen zu zeichnen. Allerdings läuft man Gefahr, mit diesem Bild nur die reaktive Seite des Agierens transnationaler MigrantInnen zu erfassen, wenn man sich nämlich damit zufriedengibt, nur etwas über das Entkommen aus den Kellern zu erfahren und nichts über die spezifische Verortung dieser Keller und ihrer Beziehungen zu Kontroll- und Überwachungstechnologien.

Auch in den Debatten internationaler Migrationsforschung avancierte der connected migrant (Diminescu 2008) mittlerweile zu einer prominenten und vielfach diskutierten Figur. Mein Interesse hier liegt jedoch nicht auf einer sogenannten digital diaspora als Ort des Konsums transnationaler Lebenswelten und Identitäten und auch nicht einfach auf dem Aspekt der Mediennutzung beziehungsweise der »medialen Umgebungen« (Hepp 2009). Denn die Annahme einer relativ machtneutralen digitalen Migrationsumgebung geht einher mit einer weit verbreiteten Medieneuphorie, welche die machtvollen Verwerfungen an der Schnittstelle von Informations- und Kommunikationstechnologien und die Gewalt ihrer Territorialisierungen übersieht. Ich versuche, einen anderen Weg einzuschlagen, indem ich mit der vorgeschlagenen Methode einer »net(h)nografischen Grenzregimeanalyse« Prozesse der Herstellung von Konnektivität und Kollektivität im Zuge des bordercrossing untersuche.2 

Beim bordercrossing handelt es sich um Taktiken und Strategien der grenzüberschreitenden Mobilität transnationaler, undokumentierter MigrantInnen. Grenzen erweisen sich in diesem Zusammenhang nicht mehr als fixe geografische Demarkationslinien, sondern als Aushandlungsfelder und umkämpfte border zones (vgl. Trimikliniots u.a. 2015). MigrantInnen sind im bordercrossing nicht unbedingt soziale Gruppen im soziologischen Sinne. Sie sind soziale Nicht-Gruppen, das heißt aktualisierbare, aktualisierungsfähige Netzwerke sozialer Gruppen. Niemand reist allein, jedenfalls in der Regel nicht für die Gesamtdauer der Reise, und keiner benutzt Medien individuell. Deshalb verwende ich den Begriff mobile commons.

In der kriminalisierten grenzüberschreitenden transnationalen Migration ist jeder umgeben von vielen Menschen und vielen medialen Umgebungen, die jeder einsetzen kann, individuell oder im Auftrag anderer: Ich benutze dein Handy und gebe dir dafür etwas anderes, du leihst mir dein Handy bis nach Bremen, und ich gebe es dann dort im Internet-Café ab. Oder ganz einfach: Du sendest für mich eine SMS. Sehr wichtig sind Skype, Twitter, GPS, aber auch ganz profan Briefe. Der Begriff mobile commons bezeichnet alle Formate von Medien, nicht nur digitale. Mit mobile commons ist das Vermögen gemeint, innerhalb des Kontinuums von Online- und Offline-Kommunikationsstrukturen zu agieren und gleichzeitig dafür Sorge zu tragen, dass die Leute, die nach einem kommen, die gleiche Migrationsroute und die gleiche mediale Infrastruktur unbeschädigt vorfinden und benutzen können.

Das ist die moralische Ökonomie des bordercrossing, bei der es allerdings weniger um Moral als um Reziprozität und Nachhaltigkeit geht. Wenn eine Migrationsroute nicht mehr offen ist, funktioniert sie als Absicherung nach hinten nicht mehr, aber auch nicht in die Zukunft. Digitalität ist ein Raum, in dem mediale Kontrolltechnologien einerseits und alternative Nutzungsmöglichkeiten der Medien seitens der MigrantInnen andererseits koexistieren. Das ist das Entscheidende: ihre wechselseitige Kopräsenz und Beobachtung. Jeder Form von Kontrolltechnologie entspricht eine Form des Widerstands gegen sie. Und mobile commons der Migration sind die Antwort auf eine bestimmte Form digitaler Erfassung oder digitaler Gefängnisse.

1 Vgl. www.facebook.com/guantanamo.italia.

2 Vgl. zur nethnographischen Grenzregimeforschung Pieper et al. 2014.

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