Auf diese Weise, also über transnationale soziale Medien, gelangten die Informationen über den Hungerstreik und die Bedingungen der Abschiebehaft an globale Mainstream-Medien wie Al Jazeera und France 24. Auf der Seite »Guantanamo Italia« werden weiterhin Videos und News geposted: Zum Beispiel geht es um die Proteste von Familienangehörigen ertrunkener MigrantInnen aus Zarzis. Auf dem Weg nach Italien war ein Fischerboot mit 120 MigrantInnen an Bord mit der Korvette »Liberté 302« der tunesischen Marine kollidiert. 35 Menschen ertranken. Die protestierenden Familien fordern für die Opfer wie für die Inhaftierten der Via Santa Maria Mazzarello Gerechtigkeit.
»Ob ich Facebook benutze, um mit meiner Familie in Kontakt zu bleiben? Alles was du brauchst, ist ein Smartphone. Zuhause, da haben sie nichts als Smartphones. Manchmal pingt man sie einfach nur an, damit sie von deiner letzten Vorwahl sehen können, wo du bist und dass du einen Schritt weitergekommen bist.
Auf Facebook hab ich kürzlich ein paar Freunde wiedergefunden, die ich vor Jahren aus den Augen verloren hatte – die leben jetzt in Paris. Letztes Jahr, nach dem Pagani-Camp, wollte ich zusammen mit einem Freund weiter nach Deutschland. Wir reisten durch Mazedonien und Serbien bis Ungarn, wo sich unsere Wege trennten. Wir hatten alles vorbereitet, wir hatten jeden Teil der Route als Kopie von Google Earth dabei, ausgedruckt in InternetCafés. Und wir haben das GPS auf unseren Smartphones benutzt. Mein Freund nahm einen Zug nach Deutschland, aber er schlief ein und musste in Wien aussteigen, wo sie ihn dann geschnappt haben. Ich wurde in Ungarn verhaftet und sechs Wochen lang in ein Lager eingesperrt. Sie drohten mir, dass ich jahrelang dort einsitzen würde, wenn ich das Land nicht freiwillig verlassen würde. Also entschied ich mich, nach Griechenland zurückzukehren. In Serbien nahm mir die Polizei dann all mein Geld und mein Smartphone ab, und ich wurde zusammen mit vielen anderen in einen Keller gebracht. So etwas hatte ich in Griechenland nie erlebt. Als ich dann endlich in Mazedonien ankam, fragte mich die Polizei, ob ich auf dem Weg nach Serbien oder Griechenland war. Sie zeigten mir den Weg und gaben mir sogar ein paar Münzen für einen Telefonanruf. Ich hatte schon mit einem Freund telefoniert, der durch Evros nach Athen gekommen war und jetzt dort lebt. Er erzählte mir, dass es in Evros tatsächlich sehr billig ist, nur 400 Dollar. Das hängt mit Sicherheit mit der Frage von Fingerabdrücken zusammen. Wenn du versuchst, es über die Inseln zu schaffen, dann ist es viel schwieriger, nicht deine Fingerabdrücke abgeben zu müssen. Deswegen ist es auch teurer. In Evros kommt man durch, ohne viel Geld und ohne Fingerabdrücke.« (Interview mit Sapik, Lesbos, 7.9.2012; Übers. d. Red.)
Man kann Dutzende solcher Darstellungen sammeln, um ein reichhaltiges und differenziertes Bild der multimedialen ›digitalen Umgebung‹ von grenzüberquerenden AkteurInnen zu zeichnen. Allerdings läuft man Gefahr, mit diesem Bild nur die reaktive Seite des Agierens transnationaler MigrantInnen zu erfassen, wenn man sich nämlich damit zufriedengibt, nur etwas über das Entkommen aus den Kellern zu erfahren und nichts über die spezifische Verortung dieser Keller und ihrer Beziehungen zu Kontroll- und Überwachungstechnologien.
Auch in den Debatten internationaler Migrationsforschung avancierte der connected migrant (Diminescu 2008) mittlerweile zu einer prominenten und vielfach diskutierten Figur. Mein Interesse hier liegt jedoch nicht auf einer sogenannten digital diaspora als Ort des Konsums transnationaler Lebenswelten und Identitäten und auch nicht einfach auf dem Aspekt der Mediennutzung beziehungsweise der »medialen Umgebungen« (Hepp 2009). Denn die Annahme einer relativ machtneutralen digitalen Migrationsumgebung geht einher mit einer weit verbreiteten Medieneuphorie, welche die machtvollen Verwerfungen an der Schnittstelle von Informations- und Kommunikationstechnologien und die Gewalt ihrer Territorialisierungen übersieht. Ich versuche, einen anderen Weg einzuschlagen, indem ich mit der vorgeschlagenen Methode einer »net(h)nografischen Grenzregimeanalyse« Prozesse der Herstellung von Konnektivität und Kollektivität im Zuge des bordercrossing untersuche.2