Wie sehen Sie aus lateinamerikanischer Perspektive die gegenwärtige Krise in Europa?
Wir sind mit einer internationalen Krise konfrontiert, die viele Facetten hat: Es ist eine Immobilienkrise, eine Finanzkrise, selbstverständlich eine ökonomische Krise im weitesten Sinne, aber gleichzeitig ist es auch eine ökologische Krise, eine Energiekrise, eine Nahrungsmittelkrise und eine ideologische Krise.
Was die Schuldenkrise angeht, gleichen die Anpassungsmaßnahmen, die Europa heute erlebt, denen, die die lateinamerikanischen Völker schon hinter sich haben. Das Eingreifen des Internationalen Währungsfonds unterstreicht die Parallele noch. In den USA und in Europa, wo die Spekulationsblase am heftigsten explodiert ist, wurden alle Forderungen der großen Banken und der Banker, also derjenigen, die die Krise verursacht haben, erfüllt. Die Banken wurden mit enormen Steuermitteln gestützt, um das Finanzsystem zu stabilisieren. Die Logik der spekulativen Akkumulation wurde nicht in Zweifel gezogen – ein Glücksfall für den »neoliberalen Neo-Keynesianismus«. Ergänzend gab es Hilfen für Produktionsbereiche, die wichtig für die Beschäftigung sind, wie zum Beispiel die Automobilindustrie. Der massenhafte Verkauf von Autos mag dazu beigetragen haben, dass die rezessionsbedingten Effekte für den Arbeitsmarkt abgemildert wurden. Dessen Subventionierung geschah jedoch, ohne sich Gedanken über die negativen Folgen für die Umwelt, die Nahrungsmittelversorgung oder den Energieverbrauch zu machen. Analysiert man die in der Europäischen Union durchgeführten Maßnahmen, fällt auf, dass die Renten, die Einkommen der Angestellten im öffentlichen Dienst, die Sozialausgaben und die Investitionen in Infrastruktur gekürzt wurden. Demgegenüber wurden keinerlei Anstrengungen unternommen, die Verursacher der Krise zur Rechenschaft zu ziehen. Wieder einmal zahlen die Ärmsten, die Marginalisierten, die einfachen Menschen die Zeche für eine Krise, die sie nicht verursacht haben.
Es wäre auch eine ganz andere Reaktion möglich gewesen. Die Krise hätte eine Gelegenheit geboten, darüber nachzudenken, wie ein nachhaltiger Rückgang des Wachstums in Europa organisiert werden kann, ohne dass es zu einem Verlust an Lebensqualität kommt. Die Strukturanpassungsmaßnahmen müssten auf mehr zielen, als nur die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Sie müssten erste Schritte für eine wirkliche Transformation des die Umwelt ausplündernden und die soziale Spaltung vorantreibenden europäischen Wirtschaftssystems einleiten.
In Ecuador wird das Projekt einer gesellschaftlichen Transformation von sozialen Mobilisierungen und wachsenden Spannungen zwischen Rafael Correa und der indigenen Bewegung, zum Beispiel zum Thema Wasser, begleitet. Wie ist die aktuelle Situation?
Die Regierung ist dabei, ihren progressiven und revolutionären Charakter zu verlieren. Der Präsident hat den Prozess einer gemeinschaftlichen Entwicklung neuer Perspektiven unter Einbeziehung der sozialen Bewegungen abgebrochen. Ihnen wurde die Tür vor der Nase zugeschlagen. Dabei waren es die sozialen Bewegungen, die den Wahlsieg von Rafael Correa erst möglich machten. Ich will die vielen Verbesserungen nicht leugnen, die in den dreieinhalb Jahren der Regierung Correa erreicht wurden. Dennoch gibt es viele offene Fragen und mittlerweile sind auch einige Widersprüche zu den ursprünglichen Reformideen deutlich geworden. Es wurden keine Fortschritte bei der Neudefinition des Verhältnisses zu den Erdölgesellschaften erzielt. Die Banken machen weiterhin enorme Gewinne: 2008 mehr als 20 Prozent, 2009, im Jahr der Krise, waren es 13 Prozent. Die Agrarindustrie, die großen Nahrungsmittelketten und die Agrarchemieimporteure haben dank der Poltik der Regierung Gewinne eingefahren wie kaum zuvor in der Geschichte des Landes. Die sich selbst revolutionär nennende Regierung hat die Herrschaft der in den Händen weniger konzentrierten Kapitalakkumulation nicht angetastet. Im Bereich der Armutsreduktion sind die Fortschritte daher bescheiden, und auch andere Ungleichheitsindikatoren haben sich kaum verändert.
Die Regierung hatte zudem angekündigt, dass die ecuadorianische Gesellschaft den Weg zu einer nachhaltigen Wirtschaft mit Hilfe von Entwicklung in den Bereichen Wissen, Biotechnologie und Ökotourismus einschlagen wird. Bisher fehlt es jedoch an klaren Signalen, wie dies erreicht werden soll. Die extraktivistische Logik wird weiterverfolgt, man exportiert weiter Primärgüter und bleibt den Zwängen des Weltmarktes unterworfen. Zusätzlich öffnet die Regierung von Präsident Rafael Correa, der die durch die Erdölförderung verursachten Schäden im Amazonasgebiet genauestens kennt, der Förderung von Erzen, zumal im großflächigen Tagebau, Tür und Tor. Das ist eine Haltung, die ich persönlich nicht akzeptieren kann. Wenn wir dahin kommen wollen, eine post-extraktivistische, eine post-fossile Wirtschaft aufzubauen, wenn wir den Weg des Buen Vivir oder des Sumak Kawsay beschreiten wollen – mit so reizvoll revolutionären und bahnbrechenden Vorschlägen wie dem, das Rohöl im Nationalpark von Yasuní in der Erde zu lassen –, ist es ein historischer Fehler, einem solchen Extraktivismus »auf Leben und Tod« den Weg zu ebnen.
Sie waren eine der bedeutendsten Stimmen im Streit, den es innerhalb der Regierung zwischen Extraktivismus und Neo-Desarrollismo gab. Damals setzten Sie sich für die Yasuní- ITT-Initiative ein.1 Wie ist der Stand heute?
Die Unterschrift unter dem Treuhandvertrag, die notwendig war, um das Projekt auch wirklich umzusetzen, ist geleistet. Obwohl Rafael Correa nicht selbst unterschrieben hat, ist das ein historischer Schritt. Ich will meine Genugtuung darüber nicht verschweigen, muss aber auch feststellen, dass das Projekt an einem Punkt ist, an dem es von vielen Seiten bedroht ist. Die Zivilgesellschaft innerhalb und außerhalb von Ecuador muss die aktuellen Entwicklungen wachsam beobachten. Die Erdöl-Lobby, repräsentiert durch ihre Direktoren und Handlanger, wird nicht nachlassen, Druck auszuüben. Zuviel Geld steht auf dem Spiel. Wir erwarten von der Regierung über die Unterzeichnung des Treuhandvertrages hinaus klare Signale für eine Umsetzung. Der Präsident muss seine Unterstützung zeigen, etwa indem er sich förmlich dazu verpflichtet, während seiner Regierungszeit das Gebiet nicht anzutasten. Auch in den angrenzenden Gebieten darf keine Erdölförderung geduldet und die Lebensweise der ohne Außenkontakt lebenden Völker muss in allen Regionen des Amazonasgebietes uneingeschränkt respektiert werden.