Personalausgleich soll neben überlangen Arbeitszeiten der Beschäftigten auch der Arbeitslosigkeit entgegenwirken (vgl. Bontrup et al.). VerfechterInnen der zweiten Strategie hingegen gehen davon aus, dass eine Verkürzung der formellen Wochenarbeitszeit weder aktuell durchsetzbar ist, noch positiven Einfluss auf die reale Arbeitszeit hätte. Sie favorisieren deshalb innerbetriebliche Maßnahmen, mit denen die individuelle Zeitsouveränität und die Selbstbestimmung der Beschäftigten gestärkt werden soll (vgl. Schwitzer et al.). Beide Strategien greifen zu kurz, denn sie befassen sich nicht ausreichend mit den Hintergründen und Ursachen überlanger Arbeitszeiten. Und sie übersehen häufig die neuen Kampfbedingungen, die eine andere gewerkschaftliche Antwort als die der 1980er Jahre erfordern.
Indirekte Steuerung
Früher traten die ›Arbeitgeber‹ zwischen die Beschäftigten und den Markt. Sie steuerten direkt, indem sie den Beschäftigten sagten, was zu tun ist. Im Zweifel verliehen sie ihrem Anliegen durch Kontrolle und Zwangsmaßnahmen gewissen Nachdruck. Heutzutage steuern sie indirekt: Sie treten aus dieser Mittelstellung heraus und überlassen mehr und mehr den in Teams, Profitcentern und Business-Units organisierten Beschäftigten die Unternehmerfunktionen. Die Beschäftigten stehen zugeschnittenen, organisierten und segmentierten Märkten gegenüber. So bekämpfen sich z.B. Saturn und Mediamarkt bis auf das Messer, immer für dieselbe Tasche: den Metrokonzern. Die Zusammenarbeit der Beschäftigten wird als Konkurrenz organisiert. Im Management-Jargon wird dies »Coopetition« genannt (eine Verknüpfung von Cooperation und Competition). Die Unternehmensleitungen wenden sich heute also nicht mehr an das Bewusstsein der Beschäftigten, sondern versuchen im Gegenteil durch unbewusst bleibende Steuerungsprozesse die Profitabilität zu erhöhen.
Damit sich die Teams, die Business-Units wie von selbst für das entscheiden, was aus Sicht der Unternehmensführung am besten, d.h. am profitabelsten ist, wird hierfür eine entsprechende »Umwelt« geschaffen (Landy/Conte 2004). Das Management organisiert Anlässe, bei denen andere – KollegInnen, KundInnen oder LieferantInnen – die Beschäftigten in eine Situation bringen, für den gemeinsamen unternehmerischen Zweck etwas (mehr) zu tun. Denn was die Beschäftigten wollen, hängt von den Bedingungen ab, unter denen sie diese Entscheidung treffen. So kommen sie in eine Doppelrolle: Sie sind abhängig Beschäftigte und nehmen zugleich gemeinsam Unternehmerfunktionen wahr (Peters 2001, 18ff). Beide Rollen treten aber wieder auseinander: ›Wir‹ gemeinsam als Team, als Business-Unit, als Profitcenter haben die Unternehmerfunktion inne, aber ›ich‹, ›du‹, ›er‹, ›sie‹, ›es‹ – dieselben ›wir‹, nur als Einzelne – müssen umsetzen, was ›wir gemeinsam‹ beschlossen haben. Diese ›Ich-Wir‹-Struktur bleibt unbewusst und treibt uns dazu an, länger zu arbeiten als tariflich erforderlich. Schließlich möchten wir das Team nicht hängen lassen, denn umgekehrt fordern auch wir von den anderen ihren Beitrag zum Teamerfolg. Neben diese allgemeine Tendenz tritt bei der Arbeitszeit ein besonderes Problem hinzu: die Diskrepanz zwischen der Idealität der Unternehmerfunktion und der Materialität der wirklichen Arbeit. Diese äußert sich z.B. so: Wir versuchen einen Auftrag zu bekommen – der Liefertermin ist dabei entscheidend. Um in Konkurrenz mit anderen Anbietern zu bestehen, machen wir straffe Terminzusagen, die nur unter optimalen Bedingungen eingehalten werden können. Sie sind – wie alle unternehmerischen Vorgaben – ideelle Annahmen und erweisen sich in der Praxis oft als unrealistisch. Wir Beschäftigten wissen das unterschwellig und planen unsere Freizeit und die der KollegInnen mit ein. Und wir setzen dieses Verhalten – frei nach dem Motto »Das Wir entscheidet« – gegeneinander und gegen uns selbst durch. Der Unterschied zwischen den wirklichen Arbeitszeiten und den tariflich vereinbarten spiegelt also die Macht der – von der Unternehmensleitung organisierten und zur indirekten Steuerung genutzten – Gruppendynamik in den Teams. Überdies werden die Beschäftigten mit ›zufällig‹ erscheinenden Anforderungen aus der sogenannten ›Umwelt‹ konfrontiert, die schlecht abgelehnt werden können. Diese erscheinen uns deshalb als zufällig, weil sie nicht unmittelbar auf Aktionen des Managements zurückzuführen sind: Beispielsweise führt eine zu dünne Personaldecke immer wieder dazu, dass KollegInnen füreinander einspringen müssen. Besser ist es, da mitzumachen, weil man vielleicht selbst einmal vertreten werden muss. Oder: Das Unternehmen spart sich die Einarbeitung neuer MitarbeiterInnen und setzt darauf, dass KollegInnen mit Erfahrungswissen dies ›nebenbei‹ übernehmen. An Beispielen mangelt es nicht. Geschickte Führungskräfte wissen den Beschäftigten auf diese Weise erheblich mehr Arbeitszeit zu entlocken als vertraglich vereinbart – Arbeitszeit, die oft weder erfasst noch vergütet wird.
Durch den so gesteigerten Arbeitsdruck sind tariflich vereinbarte Arbeitszeiten zunehmend nicht mehr durchsetzbar. Schon in den 1990er Jahren berichtete der Betriebsrat von IBM, dass KollegInnen ausgestempelt haben, um dann weiterzuarbeiten (vgl. Peters et al. 1999, 100). Diese Tendenz hat sich teils fortgesetzt, teils durch Vertrauensarbeitszeit erübrigt. Die Verantwortung dafür scheint nicht mehr beim Unternehmen zu liegen, sondern bei den Einzelnen. Nicht die Arbeitsorganisation scheint das Problem zu sein, sondern die individuelle Unfähigkeit, der eigenen Arbeit Grenzen zu setzen.
Gesellschaftlicher Fortschritt?
Bisher haben wir die Übernahme der Unternehmerfunktion vor allem als eine äußere Anforderung an die Beschäftigten betrachtet, durch die Unternehmen versuchen, den Profit zu steigern. Auch wenn es so scheinen mag, als beherrschten die Unternehmen den Prozess der indirekten Steuerung, trifft dies nicht zu. Die Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit ist gestiegen. Beschäftigte arbeiten heute produktiver und profitabler, weil – und wenn – sie sich mit dem Sinn ihrer Arbeit in der Arbeit auseinandersetzen. Um diese Produktivität zu nutzen, passen sich die Unternehmen daran an: Sie überlassen den Beschäftigten mehr und mehr die Unternehmerfunktion. Im Kapitalismus gibt es ein Kriterium für den Sinn gesellschaftlicher Arbeit: den Profit. Die Beschäftigten fangen an, sich vor ihrem ›Arbeitgeber‹ für die Profitabilität ihrer Arbeit zu rechtfertigen. Indem sie die Unternehmerfunktionen an sich ziehen, lernen sie ihre Zusammenarbeit selbst zu organisieren – und zwar im globalen Maßstab. Da sie aber keine Kapitalisten sind, müssen sie sich mit dem Unterschied zwischen dem, was im eigentlichen Sinne gesellschaftlich produktiv ist, und dem, was im beschränkten Sinne eines kapitalistischen Unternehmens produktiv – d.h. profitabel – ist, auseinandersetzen. Sie lernen, die sozialen Kosten in die Betrachtung einzubeziehen, v.a. die am eigenen Leibe erfahrenen gesundheitlichen Kosten, die Zerstörung der natürlichen Lebensbedingungen sowie die sozialen Verwerfungen. Indirekte Steuerung setzt die Unbewusstheit der eigenen Fähigkeiten voraus, nur so lassen wir uns ›indirekt‹ steuern. Machen wir uns diese Fähigkeiten jedoch bewusst, können wir gemeinsam lernen, uns der Steuerung zu entziehen und die gesellschaftliche Produktion so zu organisieren, dass sie für uns Beschäftigte gut ist. Der Prozess der Auseinandersetzung mit dem Sinn der Arbeit in der Arbeit ist in diesem Sinne ein gesellschaftlicher Fortschritt, der durch die kapitalistischen Bedingungen jedoch stark beschränkt wird und mangels Bewusstheit als bloß negativ erscheint.
Gemeinsam die Arbeitszeit beherrschen lernen
Unter den Bedingungen indirekter Steuerung ist also eine formelle Verkürzung der Arbeitszeit keine Lösung. Um wirklich weniger lang zu arbeiten, müssen wir verschiedene Lernprozesse durchlaufen: Wir müssen lernen, mit der Unternehmerfunktion so umzugehen, dass sie sich nicht gegen uns wendet. Wir müssen die Mechanismen der indirekten Steuerung besser verstehen und sie uns in unserer konkreten Arbeitssituation immer wieder bewusst machen. Bezogen auf die Arbeitszeit müssen wir eine realistische Einschätzung zu der Zeit gewinnen, die wir wirklich brauchen für bestimmte Tätigkeiten. Das würde uns ermöglichen, bei Projekten Verhandlungen zu führen, bei denen wir uns nicht durch völlig unrealistische Zeitvorgaben unter Druck setzen (lassen). All diese Lernprozesse können nicht individuell gemacht werden. Sie bedürfen der kollektiven Aktion der KollegInnen.
Aus dieser Analyse ergeben sich erste Schritte und weiter reichende Perspektiven, wie wir Kontrolle über die eigene Arbeitszeit gewinnen können:
1 | Bislang diente die Zeiterfassung als Kontrollinstrument, einerseits des Unternehmens über die erbrachte Arbeitsleistung, andererseits als eines der Gewerkschaften und Betriebsräte über die angeeignete Arbeitszeit. Unter den Bedingungen indirekter Steuerung brauchen wir darüber hinaus eine Zeiterfassung, die es den Beschäftigten selbst ermöglicht, die Kontrolle über ihre realen Arbeitszeiten zu gewinnen. Das gilt sowohl für ›umweltbedingte‹ Nebentätigkeiten als auch für ›nebenbei‹ erledigte E-Mails. Ziel muss es sein, die Differenz zwischen tatsächlicher und tariflicher Arbeitszeit zu erfassen und ihre Ursachen zu durchdringen. Die Konsequenzen daraus dürfen sich nicht auf eine moralische Verurteilung der ›Zeitsünder‹ reduzieren, sondern müssen eine gemeinsame Auseinandersetzung darüber in den Teams beinhalten. Hier wird das eigentliche Problem sichtbar: Wie verhält sich die Solidarität im Team bei der gemeinsamen Wahrnehmung der Unternehmerfunktion zur gewerkschaftlichen Solidarität der KollegInnen bei der Erkämpfung von realen Arbeitszeiten, die den tariflichen Vereinbarungen entsprechen?
2 | Um zunehmenden psychischen Belastungen, überlangen Arbeitszeiten und Arbeitsdruck entgegenzuwirken, müssen sich die Beschäftigten gemeinsam für eine stärkere Personaldecke einsetzen. Sie dürfen sich dabei nicht gegen andere Teams und Unternehmenseinheiten ausspielen lassen. Letztlich muss die Frage beantwortet werden, wie hoch der Gewinn sein kann, der einer Unternehmenseinheit entnommen werden kann. Die Unternehmen setzen heutzutage die Gewinnerwartungen fest, die dann herunter gebrochen werden. Hier müssen die gegebenen Ressourcen und der reale Zeitaufwand einberechnet und die Gewinnerwartungen entsprechend nach unten korrigiert werden. Dies durchzusetzen, ist eine gemeinsame Aufgabe der Belegschaft. Und zwar so lange, bis reale und tarifliche Arbeitszeiten einander entsprechen.
3 | Diese Strategie geht notwendig zu Lasten des eigenen Unternehmens, wenn nicht die Konkurrenz zwischen den Beschäftigten durch die Organisation in den Gewerkschaften ausgeschaltet wird. Es bedarf daher einer breiten gewerkschaftlichen Initiative, die der Arbeitszeitfrage einen allgemeinen Charakter verleiht. Wir brauchen eine Arbeitszeitdiskussion, die durchaus mit der Kampagne für die Durchsetzung der 35-Stunden-Woche vergleichbar ist, sich aber nicht auf neue Regelungen beschränkt, sondern auf die Instrumente zielt, mit denen diesen Regelungen Wirksamkeit verschafft werden kann.
4 | Gelingt es durch eine solche gewerkschaftliche Organisation, sich mit der Verselbständigung der Teamprozesse auseinanderzusetzen und diese unter die eigene Kontrolle zu bringen, so verwandelt sich diese Form der Arbeitsorganisation dahin, die individuelle Arbeitskraft mit der gesamtgesellschaftlichen Arbeitskraft in der wirklichen Zusammenarbeit zu vermitteln. Perspektivisch entsteht die Fähigkeit, die Planung der gesellschaftlichen Produktion mit der individuellen Freiheit zu vereinen und damit ein Problem zu lösen, an dem der real existierende Sozialismus gescheitert ist. Diese Fähigkeit könnte uns ermöglichen, den Kapitalismus zu überwinden und an seine Stelle eine sozialistische Produktion auf Grundlage der freien, selbsttätigen Vermittlung der eigenen Arbeitstätigkeit mit der gesellschaftlichen Arbeitstätigkeit zu setzen.
Literatur
Bontrup, Heinz J. und Mohssen Massarrat (Hg.), 2013: Arbeitszeitverkürzung jetzt! 30-Stunden-Woche fordern!, Bergkamen
Landy, Frank J. und Jeffrey M. Conte, 2004: Work in the 21st Century – An Introduction to Industrial and Organizational Psychology, Boston
Peters, Klaus, 2001: Die neue Autonomie in der Arbeit, in: ders./Wilfried Glissmann (Hg.), Mehr Druck durch mehr Freiheit. Die neue Autonomie in der Arbeit und ihre paradoxen Folgen, Hamburg, 18–40
Ders., Stephan Siemens und Wilfried Glißmann, 1999: Meine Zeit ist mein Leben. Neue betriebspolitische Erfahrungen zur Arbeitszeit. Denkanstöße – IG Metaller in der IBM. Sonderheft, Frankfurt
Schwitzer, Helga, Kai Ohl, Richard Rohnert und Hilde Wagner (Hg.), 2010: Zeit, dass wir was drehen! Perspektiven der Arbeits- und Leistungspolitik, Hamburg