Ein zentrales Paradigma von Entwicklungssouveränität ist Ernährungssouveränität. Sie umfasst zweierlei: zum einen den Widerstand gegen die Hegemonie westlich-kapitalistischer Entwicklungsstrategien, zum anderen Autonomie auf der Ebene der Communities. Dies umfasst die Verfügung über Land, Wasser und Energie, die Unabhängigkeit von genmanipuliertem Saatgut und Agrochemie und von industrieller Verarbeitung und Vermarktung. David gegen Goliath. Small is beautiful.
Von der weiblichen Landwirtschaft zur Ernährungssouveränität
Mit dem Konzept der Ernährungssouveränität sind vor Ort unterschiedliche Inhalte und Interessen verknüpft. Seine produktive Basis ist die kleinbäuerliche Landwirtschaft, die in der Agrarökonomie seit den 1970er Jahren mitunter auch »weibliche« Landwirtschaft genannt wird. Sie zielt primär auf regionale Selbstversorgung und nicht auf Export. Frauen sind hier zentral, sie agieren auf Feldern, in Küchengärten und auf lokalen Märkten, wenden traditionelle oder neue Methoden an. In diesem Modell genießen Frauen nicht nur Wertschätzung, weil sie das Essen auf den Tisch bringen. Sie verfügen über lebenswichtiges Wissen, verwalten und tauschen Saatgut, sammeln wildes Gemüse, können Lebensmittel konservieren. Sie leisten die alltägliche Reproduktionsarbeit für ihre Familien und lokalen Gemeinschaften.
Wo diese Produktionsweise durch monokulturellen, industriellen Cash-Crop-Anbau abgelöst wird, wo Mechanisierung und Agrochemikalien Einzug halten, bekommt die Landwirtschaft ein maskulines Profil. Ebenso, wenn Land zum Privateigentum wird. In der modernen Agrarwirtschaft gelten kapitalistisch dominierte Produktions-, Eigentums- und Marktformen als überlegen. Das bedeutet eine Abwertung von Arbeitsleistung und Wissen der Kleinbäuerinnen und geht mit der Enteignung von Saatgut, Biodiversität, Wasser und Land einher. Deshalb lehnen viele Frauen die Einbindung in Entwicklungsprojekte und transnationale Wertschöpfungsketten ab. Die Marktkräfte nehmen ihnen das Heft aus der Hand und liefern sie neuen, undurchschaubaren Abhängigkeiten aus.
Das Ziel der Ernährungssouveränität bietet eine Alternative zu diesem industriell-bio-ökonomischen Komplex. Es ist als Handlungsstrategie für Frauen attraktiv, weil es ihre Arbeit – bezahlte und unbezahlte – anerkennt und mehr Gerechtigkeit verspricht. Es ist ein agrarökonomisches und gleichzeitig ein basisdemokratisches und bewegungspolitisches Konzept, das lokale Praktiken und Kämpfe zusammenführt.
Ein gemeinsames »wir« gegen den patriarchal-kapitalistischen Komplex
Das Netzwerk La Via Campesina, indem Kleinbäuer*innen, Viehzüchtende, Fischer*innen, Pastoralist*innen und Landarbeiter*innen organisiert sind, tritt für Ernährungssouveränität ein und setzt auf grenzüberscheitende Solidarität. Da die agrar- und tiermastindustrielle Produktion hochgradig transnational organisiert ist, kooperiert auch La Via Campesina auf allen Kontinenten mit regionalen bäuerlichen Initiativen, Verbraucher*innen, Menschenrechts- und Biolandbauorganisationen sowie mit dem Informations- und Aktionsnetzwerk FIAN, das in 40 Ländern aktiv ist. Im Zentrum stehen diejenigen, die kleinbäuerliche Landwirtschaft betreiben und deren lokales Wissen von modernen Ernährungsregimen ignoriert wird, vor allem Frauen und Indigene. Weil die Bewegung für Ernährungssouveränität von Beginn an feministisch geprägt war, bezeichnen sich die Frauen von La Via Campesina 2013 in ihrem internationalen Manifest selbstbewusst als »Bäuerinnen dieser Welt«. Diese Identität als Kleinbäuerinnen ist fürdie Frauen politisch-analytisch und strategisch bedeutsam, um die Verwobenheit von patriarchaler und kapitalistischer Herrschaft in den Blick zu rücken. Genau hier liegt das Spezifikum des feministischen Ansatzes der Ernährungssouveränität.
Die Kritik am hegemonialen Ernährungsregime zielt insbesondere auf genmanipuliertes Saatgut, auf Freihandelsabkommenund auf Land Grabbing. Hybrid- und genmanipuliertes Konzernsaatgut ist neben dem Einsatz von Agrargiften, neuen Gentechniken wie GMO 2.0 und molekularbiologischen Methoden ein Strukturelement der wachstums- und profitorientierten Agroindustrie, die das Reproduktive und die damit verbundene Anerkennung von Frauen in kleinbäuerlichen Agrarregimen aushebelt. Freihandelsabkommen mit Patentrechten (TRIPS) und Investitionsschutz stützen marktbeherrschende Giganten wie Bayer-Monsanto und ChemChina-Syngenta und enteignen lokale Produzent*innen. Großflächiges Land Grabbing, der Anbau von Agrarspritpflanzen und Ressourcenextraktivismus bedeuten nicht nur Landverlust und Vertreibung, sondern auch die Entwurzelung lokaler Ernährungsregime und die Schwächung der Kleinbäuer*innen – auch da, wo die Modernisierung mit dem Versprechen von Jobs, Infrastruktur und dem Empowerment von Frauen als Marktteilnehmerinnen daherkommt.
Der Abwehrkampf vieler Kleinbäuerinnen birgt auch Potenzial für Konflikte mit ihren Männern. Denen wird durch Agrarberaterder Regierung häufig kommerzielles Saatgut angeboten, verbunden mit dem Versprechen auf satte Verdienste, wenn sie Monokulturen von sogenannten Flex-Crops wie Zuckerrohr, Palmöl oder Soja, die kommerziell vielfältig nutzbar sind, anbauen. So pflanzten in Burkina Faso viele Bauern auf Wunsch der Regierung Baumwolle an und verkleinerten die Felder der Frauen für dieses vermeintlich lukrativere Vorhaben. Viele Frauen pflegten in den Küchengärten aber weiter einen Mischanbau, der letztendlich die Versorgung absicherte, als die Weltmarktpreise für Baumwolle in den Keller gingen. Eine ähnliche Erfahrung machten Kleinbäuerinnen in Tansania, die in einer subversiven Aktion Bananenstauden und Kohl zwischen Kaffeesträucher pflanzten, obwohl die Regierung den Mischanbau auf Exportfeldern verboten hatte. »Wir wollen uns nicht mehr vorschreiben lassen, was wir anzubauen haben.« Die kenianische Aktivistin Esther Bett fordert Anbausouveränität statt Unterwerfung unter die Handelsdiktate der sogenannten Economic Partnership Agreements (EPA) zwischen der EU und Afrika. Diese verdrängen kleine lokale Produzent*innen, verhindern den Aufbau einer afrikanischen Verarbeitungsindustrie und verursachen damit auch Migration.
»Food for the stomach and food for the soul«
Der von den Lateinamerikanerinnen in LaVia Campesina formulierte »feminismo campesino y popular« richtet sich gegen die Gewalt des Neoliberalismus ebenso wie gegen die Gewalt des Patriarchats. Ein Herzstück ihrer Identitätskonstruktion ist der spezifische Bezug aufs Land. Es ist für sie »mehr als ein Produktionsmittel [...] Es ist Lebensraum, Kultur, Identität, ein emotionales und spirituelles Umfeld [...] keine Ware, sondern fundamentaler Teil unseres Lebens«.2 Im Unterschied zu liberal-feministischen Ansätzen geht es hier meist nicht um individuelle Besitztitel für Frauen, sondern um kollektive Landrechte.
In indigenen Kulturen sind Land und Boden mit dem Topos der »Mutter Erde« verknüpft. Die guatemaltekischen Bäuerinnen, die in ihren Küchengärten ineinander gedrehte Spiralen von Mais und Süßkartoffeln anlegen, bindet eine Mischung aus pragmatischem Überlebenswillen, Ahnenkult und Naturphilosophie an das Land und die Biodiversität. Das Land gilt als jahrhundertealtes Erbe der Vorfahren, das man nicht durch Verkauf von sich abspalten darf, sondern als Garant des »guten Lebens« in der Gemeinschaft halten muss. Für WoMin, ein im südlichen Afrika aktives Frauennetzwerk »gegen zerstörerische Ressourcenextraktion«, ist die Umwandlung von gemeinschaftlich verwaltetem Land in Privateigentum ein historischer Sündenfall: »Wer uns das Land unserer Vorfahren nimmt, nimmt uns unsere Geschichte, unsere Kultur, unsere Würde.«3