Eine Politik der radikalen, emanzipatorischen Linken muss sich heute von der falschen Vorstellung befreien, dass sie zwischen der Entfaltung ihrer radikalen Visionen und einem Eingreifen in die Tagespolitik zu wählen hätte. In der Geschichte der Arbeiterbewegung ist einiges schief gegangen. Und einiges davon beruhte auf unter den Agierenden verbreiteten Irrtümern. Auch wer glaubt, emanzipatorische Bewegungen im 21. Jahrhundert könnten sich von der Arbeiterbewegung verabschieden, wird diese Irrtümer nicht vergessen können. Denn jede radikale, emanzipatorische Praxis, die sich nicht erinnert, läuft Gefahr, diese Irrtümer zu wiederholen. Ein strategisch zentraler Irrtum – der in enger Verbindung stand mit den politisch destruktiven Formen, die die Spaltung zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten angenommen hat – war die verbreitete Auffassung, es wäre eine Alternative, für konkrete Verbesserungen, für Reformprozesse oder aber für die Revolution, für einen großen Sprung in das ganz andere einzutreten. Von Lenins und Luxemburgs Plädoyers für eine radikale bzw. revolutionäre Realpolitik über die trotzkistischen Gedanken über Übergangsforderungen bis hin zu eurokommunistischen Postulaten eines »Bruchs als Prozess« (Rossana Rossanda) und dem daraus entwickelten Konzept »systemüberwindender Reformen« ist diesem verbreiteten Irrtum entgegen gearbeitet worden. Und doch drängt sich diese falsche Alternative in den politischen Debatten immer wieder auf.
Die gegenwärtige Debatte um einen Green New Deal leidet offensichtlich erneut unter diesem Irrtum. Anstatt die konkreten Vorschläge für ein Notprogramm zur Krisenbewältigung zu kritisieren, das – wie der historische New Deal in den USA – Massenelend und Massenerwerbslosigkeit durch eine Kombination von Wirtschaftsbelebungsmaßnahmen und Sozialpolitik bekämpfen und dabei zugleich die dringlichsten Erfordernisse einer Überwindung der ökologischen Krise praktisch angehen, also im sachlichen Sinne grün wirken soll, wird primär darüber diskutiert, ob das damit z.T. verknüpfte »Versprechen« einer »grünen Marktwirtschaft« – international wird etwas offener von einem green capitalism gesprochen – überhaupt einlösbar ist. Das verfehlt das eigentlich zu erörternde Thema – das wird hoffentlich nicht nur mir deutlich, der sich daran erinnert, dass die gegenwärtige Debatte keineswegs die erste ist, die über das Thema geführt wird (vgl. den Artikel »Grüner New Deal« von Willi Brüggen im Historisch Kritischen Wörterbuch des Marxismus). Denn die damalige Debatte – deren Ergebnisse vor 1989 von Politikern wie Oskar Lafontaine und Ludger Volmer vertreten worden sind – war noch davon geprägt, derartige ideologische Vorabfestlegungen zu vermeiden und in den dringlichen Sofortmaßnahmen zur Bewältigung der ökonomischen, sozialen und ökologischen Krise des Fordismus, wie sie als ein erster Schritt propagiert wurden, durchaus auch die Möglichkeiten zu einer weiter und tiefer gehenden gesellschaftsstrukturellen Umgestaltung mitzudenken. Die ÖkosozialistInnen, die an der damaligen Debatte mitwirkten, hatten die Konzepte der radikalen Realpolitik keineswegs vergessen.
Es ist nicht unwichtig, festzuhalten, dass die gegenwärtige Auseinandersetzung um den Green New Deal von Anfang an eine internationale Debatte gewesen ist, innerhalb derer die deutsche Auseinandersetzung um den entsprechend benannten Vorschlag der Grünen nur eine Episode darstellt. Es macht daher auch konzeptionell wenig Sinn, sich allein auf den konkreten parteipolitischen Vorschlag der deutschen Grünen zu beziehen – bereits die Europäischen Grünen haben eine sehr viel interessantere Konzeption vorgelegt (die auch gesellschaftspolitisch interessanteste Konzeption hat m.W. eine britische Intellektuellengruppe vorgelegt, die Green New Deal Group).
Zum einen ist zu betonen, dass die Debatte um einen Green New Deal international selber im Kontext einer Debatte um einen so genannten »New New Deal« (Paul Krugman) steht, der die heraufziehende große Wirtschaftskrise eindämmen und bekämpfen soll. Zum anderen muss auch in Deutschland begriffen werden, dass die Forderung nach einer grünen Akzentuierung eines derartigen New Deal keine parteipolitische Festlegung bedeutet: Die ökologische, sprich grüne Sache ist kein Monopol der grünen Parteien.
Hier liegt eine raffinierte politische Abseitsfalle: Wer jeden New Deal ablehnt, weil er lieber eine Revolution haben möchte, verabschiedet sich zumindest aus der Tagespolitik – ich denke, überhaupt aus den Auseinandersetzungen, in denen sich politische Subjekte und gesellschaftspolitische Bündnisse erst herausbilden können. Wer speziell eine grüne Ausrichtung eines New Deals ablehnt, der wird zum Komplizen derjenigen unter den herrschenden Eliten, die die Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit der sich zuspitzenden ökologischen Krise leugnen. Die Tatsache dieser Abseitsfalle kann trefflich denunziert werden. Eine Denunziation trägt aber nun einmal nichts zum weiteren Spielverlauf bei.
Daher gibt es m.E. keine andere Möglichkeit, als sowohl an der Debatte über einen New New Deal, als auch über dessen notwendig grüne Ausrichtung kritisch-konstruktiv teilzunehmen. Nur so kann der Spielverlauf überhaupt noch beeinflusst werden. Vielleicht kann auf diese Weise die Möglichkeit gewonnen werden, in der nächsten Runde unter günstigeren Voraussetzungen mitspielen zu können. Was gibt es dagegen für Argumente, sich überhaupt nicht an der Debatte über einen New New Deal zu beteiligen? Ich sehe hier zwei Gruppen: erstens theoretische Argumente gegen die politische Verstärkung von ›reformistischen Illusionen‹ und zweitens historische Argumente gegen den Rooseveltschen New Deal als ein mögliches Modell für eine gegenwärtige Politik.
Zunächst einmal gibt es gewiss eine Ebene, auf der diese Argumente schlicht wahr sind. Leider sind sie auf dieser Ebene aber auch ganz trivial und für praktische Orientierungen untauglich: Es wäre eine reformistische Illusion, zu glauben, die in unseren Gesellschaften herrschende kapitalistische Produktionsweise könnte sich durch geeignete politisch-institutionelle Reformen ihrer inneren Widersprüche entledigen. Und es wäre ein offensichtlicher Unfug, zu glauben, die Politik Franklin Delanoe Roosevelts aus den USA der 1930er Jahre ließe sich über 70 Jahre später global, europäisch oder in Deutschland wiederholen.
Darum geht es in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen gar nicht: Die Vertreter eines New New Deal versprechen nicht, einen widerspruchs- und krisenfreien Kapitalismus zu schaffen (und unterscheiden sich insofern im Bewusstseinsstand ganz erheblich von den Theoretikern der New Economy der End1990er), sondern nur eine relative Restabilisierung von Wirtschafts- und Sozialentwicklung aufgrund von Umverteilung und Betonung der Binnenwirtschaft. Sie wollen auch nicht einfach die blueprints der Rooseveltschen Technokratie erneut anwenden, sondern verweisen auf den komplexen historischen Prozess, geprägt von Regierungshandeln und sozialen Kämpfen, der die längerfristigen Auswirkungen des historischen New Deals in den USA hervorgebracht hat und plädieren dafür, dass heute vergleichbare Ergebnisse zu erzielen wären.
Vielen Linken fällt es immer noch schwer, den historischen Stellenwert des Rooseveltschen New Deal in der Nacht des 20. Jahrhunderts zur Kenntnis zu nehmen – der zunächst innerhalb der USA, wie etwa Mario Tronti herausgearbeitet hat, einen immer tiefer greifenden Umgestaltungsprozess mit gesellschaftspolitisch offenem Ausgang eingeleitet hatte, um sich dann – unter Schließung der radikaleren gesellschaftspolitischen Optionen im Inneren – gegen die historisch existieren den Alternativen des deutschen Faschismus und des sowjetischen Stalinismus als weltweit hegemoniale Kraft durchzusetzen und die Entwicklung des Fordismus entscheidend zu prägen. Jedenfalls enthält dieser historische Prozess die Lektion, dass wir es in den modernen Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, nicht mit einer schlichten linearen Entwicklung des Systems, sondern mit dramatischen historischen Entscheidungen zu tun haben, die sich auf real entstehende Entwicklungsalternativen (»Bifurkationen«) beziehen. Die Bifurkation der letzten großen Krise kehrt gewiss nicht wieder. Darauf aber, dass in der gegenwärtig heraufziehenden Krise erneut mit derartigen Entwicklungsalternativen zu rechnen ist und der New Deal sich in der letzten großen Krise als das historische Erfolgsprojekt durchsetzte, beruht die heute verbreitete Faszination durch New-Deal-Konzepte. Eine mögliche Politik eines New New Deal kann keine Wiederholung der alten sein. An dieser Stelle konkret die Debatte darüber zu führen, worin dessen Neuheit bestehen muss, heißt unvermeidlich auch, die Diskussion über das grüne Moment eines möglichen New Deals aufzunehmen – darüber hinaus aber auch das Moment der Geschlechter- und Nord-Süd-Verhältnisse. Denn es kann erstens durchaus triftig gegen die meisten Konzepte eines New New Deal eingewandt werden, dass sie es versäumen, schon in ihren aller ersten Schritten die Dringlichkeiten der ökologischen Krise zu berücksichtigen (und insbesondere auf eine unhaltbar gewordene Wachstumsideologie abfahren). Und es muss zweitens die historische Erfahrung reflektiert werden, dass die unbestreitbaren historischen Erfolge des Rooseveltschen New Deals in einem unbestreitbaren Zusammenhang stehen mit einer repressiven Erneuerung der patriarchalischen Kleinfamilie als Gehäuse des Massenkonsums, sowie mit der neokolonialen Intensivierung der Ausbeutung des globalen Südens vor allem durch In-Wert-Setzung seiner Naturressourcen.
Die Sofortmaßnahmen, wie sie in den unterschiedlichen Konzeptionen für einen Green New Deal gebündelt werden, müssen selbstverständlich bei der gegenwärtig herrschenden historischen Lage ansetzen. Das kann ihnen nur zum Vorwurf machen, wer einen übergangslosen Sprung aus dieser Lage heraus für möglich hält – wer also den Anspruch aufgegeben hat, eine hier und heute wirksame Politik zu machen.
In diesem Sinne ist etwa die Auseinandersetzung um den Rückgriff auf die so genannten ›marktförmigen Instrumente‹ einer ökologischen Umgestaltung zu führen. Wer ihnen einfach nur ihre Marktförmigkeit vorwirft, hat nicht verstanden, worum es geht. Etwa die emission trading systems (ETS) sind nicht allein deswegen zu kritisieren, weil in ihnen überhaupt ein Handel stattfindet, sondern weil dieser Handel unter Voraussetzungen stattfindet (keine Mindestpreise, keine eingebaute planmäßige Mengenreduktion), die ihre ökologische Wirksamkeit (im Sinne einer planmäßigen und raschen Reduktion der Emissionsmengen) mehr als zweifelhaft macht und aufgrund derer keine gleichzeitige Verbesserung der Macht- und Kräfteverhältnisse zugunsten der Diskriminierten und Abhängigen erwartet werden kann – obwohl es durchaus Gegenvorschläge gibt, derartige marktförmige Instrumente wirksamer und zugleich demokratisierungsförderlicher auszugestalten. Eine derartige Herangehensweise nimmt der Kritik etwa an der ETS-Politik der EU nichts von ihrer Schärfe – sie macht sie aber auch für diejenigen nachvollziehbar, die nicht schon von vornherein die Prämisse teilen, dass Warenförmigkeit schlecht und daher zu überwinden ist.
Eine Politik der radikalen, emanzipatorischen Linken muss sich heute von der falschen Vorstellung befreien, dass sie zwischen der Entfaltung ihrer radikalen Visionen und einem Eingreifen in die Tagespolitik zu wählen hätte. An die Stelle dieses schlechten Entweder-Oder muss sie ein entschlossenes Sowohl-als-auch setzen – indem sie sowohl ihre radikalen Zukunftsvisionen – klassenlose, herrschaftsfreie Gesellschaft, ökologische Versöhnung der Menschheit mit der Biosphäre, befreite Geschlechterverhältnisse, solidarisches Zusammenleben der Völker in einer friedlichen Menschheit – als solche mutig entfaltet, als auch konkret und genau darüber mitdiskutiert, wie heute sinnvolle erste Schritte zur Überwindung der gegenwärtigen Krisenkonstellation gegangen werden können.
In der gegenwärtigen Debattenkonstellation kann es daher für eine emanzipatorische Linke nicht darum gehen, sich dem Gedanken eines New New Deal als solchem entgegenzustellen (wohl aber den damit immer wieder verbundenen Illusionen). Vorschläge für einen Green New Deal sind daher nicht als solche zu verwerfen und zu bekämpfen, sondern konkret im Einzelnen daraufhin zu prüfen, ob die in ihnen vorgeschlagenen Sofortmaßnahmen das leisten können, was sie versprechen (oder vielleicht auch gänzlich ungeeignet sind) – und ob es nicht noch bessere Vorschläge gibt, wie sie sich in anderen Konzeptionen eines Green New Deal finden lassen oder auch aus bereits laufenden Debatten in den wirklichen sozialen Kämpfen entwickeln lassen. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei darauf zu richten sein, dass die Auswirkungen einer Durchsetzung derartiger Maßnahmen auf die Macht- und Kräfteverhältnisse zwischen den Geschlechtskategorien, zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden sowie zwischen den gesellschaftlichen Klassen ernsthaft reflektiert und praktisch berücksichtigt werden.
Das heißt nicht, dass der Green New Deal, so wie er international breit diskutiert wird, als solcher bereits mit ökosozialistischen Übergangsforderungen zu verwechseln oder als eine Art von uneingestandenem Übergangsprogramm zu begreifen wäre. Aber wer es ernst meint mit der Forderung nach einem ökologischen, feministischen und anti-imperialen Transformationsprozess, der aus der gegenwärtigen Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise herausführt, muss hier ansetzen.
Mao dze Dong hat einmal eine alte chinesische Bauernregel in die Strategiedebatte der historischen kommunistischen Bewegung eingebracht: »Eine Reise von 1 000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt.« Das bleibt auch nach dem Ende dieser historischen Bewegung nach beiden Seiten hilfreich: Zum einen wird derjenige, der gar nicht weiß, wohin er reisen will, gar keine ersten Schritte machen können, sondern nur orientierungslos vor sich hin tapern. Zum andern aber werden alle, die zu wissen behaupten, wohin die lange Reise gehen soll, aber nicht angeben können (oder wollen), was der erste Schritt auf dieser Reise ist, sich die Frage gefallen lassen müssen, ob sie dies denn wirklich wissen und ob es ihnen mit diesem Wissen ernst ist – oder ob sie sich bloß angenehmen Träumen hingeben und aus lauter Angst vor den sicherlich schwer zu vermeidenden Irrtümern jede wirkliche politische Praxis vermeiden. Welcher erste Schritt getan werden soll (und kann), darum muss allerdings gestritten werden.