Verstaatlichung von Energiekonzernen, Energiepreisbremse, Übergewinnsteuer – auf einmal scheinen sich linke Forderungen zu realisieren, die bislang in weiter Ferne lagen. Mit dem „Doppelwumms“ und einem großen Maßnahmenpaket verschieben sich die wirtschaftspolitischen und ökonomischen Debatten. Die aktuelle Energie- und Inflationskrise könnte eine progressive Neuordnung der wirtschaftspolitischen Regulation ermöglichen. Doch bislang deutet sich eine defensive Restrukturierungspolitik an. Sie federt soziale Härten ab, zielt aber hauptsächlich darauf, den nationalen Verwertungsprozess vor der verschärften internationalen Konkurrenz zu schützen.
Krise der „alten“ wirtschaftspolitischen Instrumente
Die gegenwärtige Wirtschafts- und Energiekrise ist zur Krise der „alten“ wirtschaftspolitischen Instrumente geworden. Stagflation, also anhaltend hohe Inflationsraten bei gleichzeitiger Stagnation des Wirtschaftswachstums, lässt sich nicht mit Austerität, Arbeitsmarktflexibilisierung und Zentralbankzinserhöhungen bekämpfen – den Rezepten, die in den letzten Jahrzehnten die Dogmen der herrschenden Wirtschaftstheorie und -politik waren.
Andererseits ging auch der letzte Wirtschaftsnobelpreis wieder an monetaristische Ökonomen, die eine Ursachen-Umkehr der Finanzkrisen betreiben und behaupten, dass die Sparer für die Finanzkrise verantwortlich seien und nicht die Banken. Mit Bernanke wurde sogar einer derjenigen ausgezeichnet, die hauptverantwortlich dafür sind, dass die Kosten der Bankenrettung in der Vergangenheit auf die Bevölkerung abgewälzt wurden. Auch die derzeitige EZB-Zinspolitik mit ihrer schrittweisen Erhöhung der Leitzinsen deutet darauf hin, dass die Krise weiterhin mit Austerität bekämpft werden soll. Allmählich setzt sich jedoch in der politikberatenden Ökonomie die Erkenntnis durch, dass diese Strategie zum Scheitern verurteilt ist. Die sozialen Kosten erscheinen zunehmend untragbar und werden als Gefährdung für den Verwertungsprozess betrachtet. So fordert inzwischen selbst der mehrheitlich streng neoliberal orientierte Sachverständigenrat der Bundesregierung, die sogenannten Wirtschaftsweisen, die Steuern für Reiche zu erhöhen, um die Kosten der Krise gerechter zu verteilen. Dies gleicht wahrlich einer Zeitenwende in der Zunft der Ökonom*innen. Noch 2017 wurde dem ehemaligen Mitglied des Sachverständigenrates, Prof. Bofinger, als er in einem Sondergutachten ein stärkeres industriepolitisches Engagement des Staates einforderte, von seinen Kolleg*innen prompt mangelnde „Liebe zum Markt“ vorgeworfen und indirekt die Qualifikation abgesprochen. Heute ist die Notwendigkeit eines aktiveren Staates nahezu Konsens, auch über die üblichen Rufe nach Staatshilfe in Krisenzeiten hinaus. Bis weit in das Lager des Industriekapitals hinein hat sich die Position durchgesetzt, dem Staat eine handelnde Rolle zuzuschreiben und ihn nicht nur als Risikoabsicherung zu betrachten.
So ist es erstaunlich, dass es im Wirtschaftsausschuss des Bundestages inzwischen die FDP ist, die zuweilen am lautesten nach der Verstaatlichung, etwa des Gasversorgers Uniper, ruft, selbstverständlich ohne dass eine Vergesellschaftung im Sinne einer gemeinwohlorientierten Energieversorgung zur Debatte steht. So werden milliardenschwere Entlastungen beschlossen. Dazu zählen etwa die Gas- und Strompreisbremsen, die von der LINKEN zu Anfang der Krise gefordert wurden. Auch wenn ihre Ausgestaltung vom Modell der LINKEN in vielen Punkten abweicht: Allein durch ihren Sparanreiz und die Konditionalität für Unternehmen tragen die Instrumente gewisse Transformationsmomente in sich. Sie zielen jedoch nicht auf wirkliche Veränderungen, sondern in erster Linie auf den Erhalt des Industriestandortes Deutschland und seine Stellung in der neuen Weltordnung. Es fehlt an echten Instrumenten der Umverteilung und des Umbaus. Zudem wird die Schuldenbremse weiter verteidigt, die der staatlichen Wirtschaftspolitik enge Grenzen setzt. Das bedeutet: Linke (Teil-)Forderungen wie etwa Preiskontrollen setzen sich durch, werden in der Umsetzung aber ausgehöhlt bzw. in ihrer Wirkung beschnitten.
Geldpolitik am Limit
Der ökonomische Mainstream bricht also auf, der hinter den unterschiedlichen „Schulen“ stehende Interessensgegensatz von Kapital und Arbeit bleibt jedoch ungelöst. Am deutlichsten wird der Widerspruch an der derzeit vieldiskutierten Zinspolitik der EZB. Die Europäische Zentralbank befindet sich in einem grundlegenden Dilemma, das sich schwer auflösen lässt. Einerseits soll sie die Unternehmen in der Krise mit günstigen Krediten versorgen, andererseits soll sie die Inflation mit steigenden Leitzinsen bekämpfen, was zu einem wirtschaftlichen Abschwung und zu Arbeitslosigkeit führen würde. Die in mehreren Stufen erfolgte „Zinswende“ auf aktuell zwei Prozent und die Ankündigung weiterer Leitzinserhöhungen zeigt, in welche Richtung es geht: Die Inflation soll durch Wohlstandsverlust und auch mit Arbeitslosigkeit bekämpft werden, indem das Wachstum und die Nachfrage gedrosselt werden. Damit setzen sich die fiskalischen Hardliner durch. Der Geldwert soll stabilisiert und die Entwertung von Vermögens- und Kapitalwerten verhindert werden – auf Kosten eines Großteils der Bevölkerung.[1]
Diese Strategie ist jedoch schlicht unwirksam. Nicht eine zu hohe Nachfrage und eine boomende Wirtschaft verursachen die derzeitige Inflation, sondern im Gegenteil schwächelt die Nachfrage und wird voraussichtlich weiter abnehmen. Laut Handelsblatt sind selbst die Online-Umsätze zum Black Friday in diesem Jahr gegenüber dem Vorjahr um 12 Prozent eingebrochen. Die Inflation rührt vielmehr von einem mangelnden Angebot, insbesondere den kriegs- und krisenbedingten Engpässen bei Nahrungsmitteln und Energie – es handelt sich gewissermaßen um eine importierte Inflation. Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung IMK errechnete etwa, dass die Inflation im Monat September zu zwei Dritteln auf Nahrung, Kraftstoffe und Haushaltsenergie zurückging.
Die falsche Analyse einer „überhitzten“ Wirtschaft führt zu einem geldpolitischen Schlingerkurs, der die derzeitige Machtlosigkeit der EZB zum Ausdruck bringt – die Geldpolitik ist am Limit. Die EZB-Direktorin Isabel Schnabel räumte dies in einem Interview offen ein: „Ein großer Teil der Inflation geht auf Faktoren zurück, die wir nicht direkt beeinflussen können.“ Das Problem: Zinserhöhungen werden nicht zu einem größeren Angebot an Nahrungsmitteln, Erdgas, Öl und Photovoltaik-Anlagen führen und damit auch nicht zu niedrigeren Preisen (Grunert 2022). Im Gegenteil ist der Zinspreis vor allem für die kapitalintensiven erneuerbaren Energien und die Gebäudesanierung ein bedeutender Kostenfaktor. Zinserhöhungen wirken hier schädlich.
Unterdessen sammeln sich die fiskalischen „Falken“, Arbeitgeberverbände und neoliberale Befürworter*innen einer strikten Austeritätspolitik. Der Verteilungskampf in diesem Winter wird härter. So forderte etwa der konservative britische Minister Nadhim Zahawi jüngst die Pflegekräfte des NHS zu Lohnverzicht auf, um „eine klare Botschaft an Putin zu senden“. In Deutschland fordern die Arbeitgeber, das Renteneintrittsalter um weitere drei Jahre auf 70 zu erhöhen. Die Gewerkschaften werden Mühe haben, die bereits verlorene Kaufkraft wieder auszugleichen. Bei einer sich aktuell einpendelnden Inflationsrate von zehn Prozent hängt es nicht nur von der Höhe der Lohnabschlüsse, sondern auch von der Laufzeit der Tarifverträge ab, ob ein Lohnausgleich erreicht wird oder nicht.
All das zeigt: Die EZB handelt nicht im luftleeren Raum und das monetaristische Leitbild einer möglichst unabhängigen Zentralbank bröckelt.
Aus der Krise durch europäischen Staatsinterventionismus?
In der Wirtschaftspolitik ist ein Paradigmenwechsel zu erkennen. In Reaktion auf die sozialen Verwerfungen, die der harten Austeritätspolitik der EU in der Eurokrise folgten, wurde in den letzten Jahren eine sanfte Kurskorrektur vollzogen: weg vom knallharten Neoliberalismus hin zu einem gemäßigteren keynesianischen Interventionismus, auch aufgrund der Zentrifugalkräfte, deren Desintegrationswirkung im Brexit kulminierte. Im Zuge der Covid 19-Pandemie verdichtete sich diese „staatsinterventionistische Wende“ (Abels/Bieling 2022) mit einer Aufwertung der Industrie- und Infrastrukturpolitik. So wurden enorme Summen auf europäischer und bundesdeutscher Ebene mobilisiert, um soziale Härten und einen Kollaps des Gesundheitssystems zu verhindern.
Doch die industriepolitische Renaissance wird vor allem durch geoökonomische, aber auch geopolitische Kalküle angetrieben. Die sich verstärkende Triade-Konfrontation zwischen den USA, China und der EU sind der zentrale Bezugspunkt für industriepolitische Strategien. Dabei verschiebt sich das Verständnis von Wettbewerbsfähigkeit vom Bild eines marktliberalen „level playing field“ hin zum Ziel „technologischer und ökonomischer Souveränität“ (ebd.). Die europäische und bundesdeutsche Wirtschafts- und Energiepolitik findet also zunehmend unter Prämissen geopolitischer Konfrontation und geoökonomischer Konflikte statt, die zu einem „Kampf der Kapitalismen“ (Milanović) kumuliert sind. Unterschiedliche Formen der Marktwirtschaftsregulation und unterschiedliche Verwertungsmodelle stehen global in verschärfter Konkurrenz. Die Marktführerschaft bei zentralen Technologien und in der Hochtechnologieproduktion ist ein Schlüssel dieses Systemwettbewerbs. Auch der Inflation Reduction Act (IRA) der USA, ein gewaltiges Subventions- und Klimaschutzprogramm, ist Teil dieser Dynamik. Laut dem makro-ökonomischen Think Tank Dezernat Zukunft (2022) leitet das Maßnahmenpaket „ein neues Zeitalter aggressiver Industriepolitik mit geopolitischen Ambitionen“ ein.
Die wirtschaftlichen Schocks der Pandemie, die durch den Kriegsausbruch in Osteuropa noch verstärkt wurden, machen deutlich, dass die globalen Liefer- und Produktionsketten neu strukturiert werden müssen. Doch diese Tendenzen gab bereits vor den Schocks: Die Produktion wurde zunehmend rückverlagert, die Wertschöpfungstiefe hat sich wieder erhöht und Konsummuster veränderten sich im Sinne einer zunehmenden Regionalisierung (Butollo/Staritz 2022). Da sich Handelskonflikte verstärken, geopolitische Spannungen steigen und Transportkosten, aber auch umwelt- und klimapolitische Kosten und Krisen zunehmen, könnten das sogenannte Re- oder Friendshoring[2] – also eine Rückabwicklung und Neuverteilung der immer weiteren Auslagerung der Produktion – in Zukunft mehr Bedeutung gewinnen (ebd.).
Eine Deglobalisierung, die sich nicht an imperialer Blockkonfrontation orientieren würde, sondern politisch gelenkt und eng mit einer neuen Form der Kreislaufwirtschaft verbunden wäre, hätte tatsächlich das Potenzial, ökologische und soziale Ziele durchzusetzen und Marktmechanismen zurückzudrängen (Berlepsch 2022). Doch welche Möglichkeitsfenster lässt der postpandemische Staatsinterventionismus für eine progressive Krisenbearbeitung offen, die einen solchen Prozess antreiben könnte? Und wie wären diese von links zu nutzen?
Linke Antworten auf die Inflations- und Energiekrise
Um die Inflation wirksam zu bekämpfen, braucht es keine weiteren Leitzinserhöhungen durch die EZB. Deren inflationsdämpfende Wirkung ist mehr als fraglich. Um die Inflation zu bremsen und die Lebenshaltungskosten der Menschen erträglich zu halten, braucht es neben kräftigen Lohnerhöhungen eine wirtschaftspolitische Flankierung, die vor allem die angebots- und profitgetriebenen Komponenten der Inflation adressiert.