Die Beteiligung linker, sozialistischer Parteien an einer Regierung war und ist seit der Auseinandersetzung um den Millerandismus1 Ende des 19. Jahrhunderts bis heute Gegenstand kontroverser Diskussionen in der sozialistischen Bewegung. Ein möglicher Wahlerfolg von ­SYRIZA in Griechenland unter schwierigen Rahmenbedingungen, die kommenden Landtagswahlen in Brandenburg und Thüringen, das Abrücken der SPD von ihrer bisherigen Verweigerungshaltung gegenüber einer Zusammenarbeit mit der LINKEN – so unterschiedlich die Entwicklungen im Detail sind: Sie werden dieser Debatte neue Nahrung geben und ihr politische Brisanz verleihen. 

 

»Im Staat geht’s wie in der Welt: Wer nicht schwimmen kann, der ersauft.« (Franz Grillparzer)

Die Diskussion über Regierungsbeteiligungen innerhalb der Partei die LINKE bleibt häufig an der Oberfläche. Bisherige Regierungsbeteiligungen in Mecklenburg-Vorpommern oder Berlin und die noch bestehende in Brandenburg wurden nicht gründlich ausgewertet.2 Eher dienen sie der innerparteilichen Polemik als Beleg für die eigene Position und dazu, die Kontrahenten entweder des »Opportunismus« oder des »fundamentalistischen Sektierertums« zu bezichtigen. Beide Positionen reproduzieren das immerwährende Dilemma linker Politik: die Gefahr der Integration in den bürgerlich-parlamentarischen Betrieb und den gesellschaftlichen Mainstream auf der einen und die notwendige Autonomie, gesellschaftsverändernder Bewegungen auf der anderen Seite. Gleichzeitig ist die Debatte oft subjektivistisch verkürzt:  Nämlich dann, wenn »Karrieregeilheit« der Akteure als wesentliche Ursache kritisierter Regierungspolitik unterstellt oder naiv behauptet wird, Landesverband X werde es künftig garantiert besser machen als Landesverband Y. Die eigentliche Frage, ob »die ›stumme Gewalt‹ der herrschenden politischen Formen und Institutionen« (Hirsch 1990, 176) nicht ausschlaggebender ist und »manch gute Absicht zunichte« macht, wird in der Regel nicht gestellt. Dieser »stummen Gewalt« soll im Folgenden näher nachgegangen werden.

Der Staat als Kristallisation von Kräfteverhältnissen

»Der Staat ist kein Fahrrad, auf das man sich einfach setzen und in beliebiger Richtung losradeln kann«, formulierte die ehemalige linke Grüne Verena Krieger (1991, 147), um deutlich zu machen, dass der bürgerliche Staat keine neutrale Institution ist, die für beliebige Zwecke eingesetzt werden kann. Er ist »Produkt und Ausdruck der kapitalistischen Vergesellschaftungsform und der mit ihr verbundenen materiellen Reproduktions- und Klassenverhältnisse. Er ist nicht als Subjekt zu verstehen, sondern als institutionalisierter Kristallisationspunkt komplexer, sowohl legitimatorischer wie repressiver Beziehungen zwischen allen Klassen und Klassenfraktionen, als Terrain sozialer Kämpfe und Konflikte« (Hirsch 1990, 44). Er ist damit nicht einfach Instrument in den Händen der herrschenden Klasse, aber auch nicht Raum eines herrschaftsfreien Diskurses unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte, sondern der Staat einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft. Erst im Kampf zwischen den unterschiedlichen Kapitalfraktionen, gesellschaftlichen Interessengruppen und den verschiedenen staatlichen Apparaten und Institutionen bildet sich ein gemeinsames politisches Klasseninteresse heraus. Über den Staat wird aber nicht nur ein »Kompromissgleichgewicht« (Gramsci) zwischen den verschiedenen Kapitalfraktionen hergestellt, sondern er ist immer auch »ein spezifischer Modus repressiv-ideologischer Massenintegration […] mittels eines Geflechts institutionalisierter Beziehungen zu den beherrschten Klassen (Polizei, Justiz, Sozialbürokratie, Medien, Gewerkschaften und Parteien)« (Hirsch 1990, 45). Dabei spielen in parlamentarischen Demokratien die Parteien eine entscheidende Rolle: »Das Parteiensystem verkörpert den Teil des regulativen Systems, in dem antagonistisch-plurale Interessen und Handlungen in der Weise produziert, artikuliert, gerichtet, geformt, gefiltert und miteinander verbunden werden, dass ein relativ kohärentes, die gesamtgesellschaftliche Reproduktion gewährleistendes staatliches Handeln sowohl ermöglicht als auch legitimiert wird.« (ebd., 62) Die besondere Rolle der Parteien und des Parteiensystems ergibt sich aus ihren vielfältigen Verbindungen und Verflechtungen mit Verbänden und Interessengruppen, Unternehmen, Kirchen, Medien und anderen. Als parlamentarische Parteien »reduzieren sie tendenziell Politik und politischen Konflikt auf das im Rahmen der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse ›Machbare‹ und zwingen sie in ›Spielregeln‹, die deren Fortdauer gewährleisten« (ebd., 170). Gesellschaftliche Interessen werden so nach der Logik des Staates geordnet, »die Zwänge weltmarktbestimmter kapitalistischer Reproduktion in das institutionelle Regulationsgeflecht bis in seine kleinsten Verästelungen und die einzelnen Individuen hinein vermittelt. Dies geschieht freilich um den Preis permanenter Konflikte innerhalb und zwischen den Parteien, zwischen Partei- und Staatsapparaten, zwischen Parteien und Interessenorganisationen und gegebenenfalls auch zwischen Partei und ›Volk‹« (ebd., 68).

(Linke) Parteien und die Staatsmacht

Schon mit der Bildung einer Partei, die sich am parlamentarischen System beteiligt, begibt man sich in diese institutionellen Zwänge, parlamentarischen Rituale und Spielregeln. Sie reichen von der parlamentarischen Geschäftsordnung über die Notwendigkeit der Einhaltung von (bürgerlichem) Recht und Gesetz bis zu durch die Verfassung gezogenen Grenzen des politischen Handels. Hinzu kommt der nicht zu unterschätzende Druck, der von Medien und veröffentlichter Meinung ausgeht, diese Spielregeln anzuerkennen. Parteien – auch linke Parteien – sind »ein integraler Bestandteil der kapitalistischen Gesellschaft und ihres Staates, aus dem wir gerade herausfinden wollen« (Jäger 2006, o.S.), aber: »Parteien links oder rechts liegen zu lassen, wäre keine Lösung, gerade weil sie zur Staatsmacht wesentlich gehören. Wenn man die Staatsmacht nicht von innen angreifen könnte, das heißt auch auf der Parteiebene, könnte man sie gar nicht angreifen«. (ebd.) Dieser Widerspruch potenziert sich mit dem Eintritt in eine Koalitions-Regierung. »Die ›stumme Gewalt‹ der herrschenden politischen Formen und Institutionen« (ebd.) erhält hier eine neue Qualität.

Zwar ist auch die parlamentarische Oppositionspartei institutionellen und rechtlichen Zwängen ausgesetzt, sie hat aber eine (relative) Freiheit in der Artikulation der heterogenen Interessen von ihr repräsentierter gesellschaftlicher Gruppen und deren politischen Positionen. Als Bestandteil einer Regierung erhalten die institutionellen Zwänge eine neue Qualität. Eine regierende Partei ist durch die Entwicklung eines Regierungsprogramms und durch ihre Regierungspolitik unmittelbarer daran beteiligt, die oftmals gegensätzlichen Interessen nicht nur zu artikulieren, sondern so zu filtern und zu formieren, dass »ein relativ kohärentes, die gesamtgesellschaftliche Reproduktion gewährleistendes staatliches Handeln sowohl ermöglicht als auch legitimiert wird« (Hirsch 1990, 62).

Koalitionsregierungen: institutionalisierter Einigungszwang

Eine Regierungskoalition ist die denkbar engste Form der Zusammenarbeit zweier Parteien, die unterschiedliche Interessen, gesellschaftliche Gruppen und Ziele vertreten. Angesichts divergierender Interessenlagen lässt sich ein gemeinsames Regierungsprogramm nur über Kompromissbildungen in Koalitionsverhandlungen und im Koalitionsvertrag formulieren. Der Eintritt in eine Koalitionsregierung bedeutet damit Übernahme von Gesamtverantwortung für die Regierungspolitik – auch für Entscheidungen, die man im Rahmen der Kompromissbildung ›schlucken‹ musste, aber eigentlich für ungenügend oder gar falsch hält. Das unterscheidet eine Koalitionsregierung von der Unterstützung einer Minderheitsregierung. Anders als in einer Koalitionsregierung könnte eine linke, sozialistische Partei hier ihre Unabhängigkeit von der Regierung und die Freiheit der Kritik bewahren. Ohne Verpflichtung auf eine Koalitionsdisziplin könnte sie politisch von Fall zu Fall entscheiden, welchen Gesetzen und Anträgen der Regierungspartei(en) sie ihre Unterstützung gibt und welchen nicht. Während im Falle einer Minderheitsregierung wechselnde parlamentarische Mehrheiten möglich sind, sind sie im Falle einer Koalition explizit ausgeschlossen. Jede Koalitionsvereinbarung enthält ›Regeln der Zusammenarbeit‹, die ein getrenntes Abstimmungsverhalten der Koalitionsparteien ausschließen und einen permanenten Einigungszwang institutionalisieren. So heißt es in der Koalitionsvereinbarung zwischen der Berliner SPD und PDS aus dem Jahr 2006: »Die Koalitionspartner stimmen darüber überein, dass im Abgeordnetenhaus nicht mit wechselnden Mehrheiten abgestimmt wird. […] Die Koalitionspartner sind sich einig, dass Entscheidungen in Fragen von grundsätzlicher Bedeutung, die nicht ausdrücklich Gegenstand der Koalitionsvereinbarung sind, nicht gegen den Willen eines Partners getroffen werden. Parlamentarische Initiativen bedürfen der Absprache beider Fraktionen über Inhalte und Vorgehen.«

Die Formulierung eines Regierungsprogramms ist aber mehr als die einfache Kompromissfindung mit dem Koalitionspartner. Auch wenn die eigentlichen Verhandlungen hinter verschlossenen Türen stattfinden, findet die Kompromissbildung nicht nur zwischen den Parteien statt. Eine Vielzahl von gesellschaftlichen Interessengruppen – Unternehmerverbände, Gewerkschaften, Universitäten und Hochschulen, Kirchen, die Agentur für Arbeit, Wohlfahrtsverbände, Bürgerinitiativen und viele andere – versucht Einfluss auf die Formulierung künftiger Regierungspolitik zu nehmen. Auch die Medien sind aktive Mitspieler. Die verhandelnden Parteien versuchen die Öffentlichkeit zu nutzen, um bestimmte Positionen zu platzieren und ihre Verhandlungsmacht zu stärken, so wie die unterschiedlichen Medien selbst versuchen – je nach ihrer politischen Tendenz – Einfluss auf die Verhandlungen auszuüben und öffentliche Meinung zu ›machen‹. Mit am Tisch sitzt außerdem der staatliche Verwaltungsapparat, die Ministerialbürokratie, deren ›Expertenwissen‹ abgefragt wird, zum Beispiel in Fragen der Finanzierbarkeit bestimmter Vorhaben, der rechtlichen Machbarkeit und der Umsetzungsmöglichkeiten. Dieses Expertenwissen ist aber nicht neutral, sondern politisch geformt – beispielsweise durch eine lange Tradition der Bürokratie oder durch spezifische Interessen, die von einzelnen Staatsapparaten und Institutionen vertreten werden3. Diese sind ein wesentlicher Machtfaktor im Verhandlungspoker zwischen den Parteien – insbesondere wenn nur eine der verhandelnden Parteien bisher an der Regierung beteiligt war und deshalb weitgehend exklusiven Zugriff auf die Ministerialbürokratie hat. Damit entsteht ein Ungleichgewicht der Waffen zwischen den Verhandlungspartnern, politische Forderungen können aus ›fachlicher Sicht‹ als nicht realisierbar dargestellt oder umgebogen und kleingearbeitet werden.4

Koalitionsverhandlungen sind also ein wesentlicher Mechanismus des Parteiensystems. Unterschiedliche gesellschaftliche Interessen werden in ihrem Verlauf zu einem Regierungsprogramm als einem Ausdruck gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse verdichtet, und so ein die gesamtgesellschaftliche Reproduktion gewährleistendes staatliches Handeln ermöglicht.

Linke Minderheitenposition und gesellschaftliche Kräfteverhältnisse

In Mitte-Links-Regierungen (Rot-Rot oder Rot-Rot-Grün) repräsentiert die LINKE mit der Gesamtheit ihrer politischen Positionen eine gesellschaftliche Minderheit, auch wenn einzelne ihrer Forderungen (wie z.B. der Mindestlohn) gesellschaftlich mehrheitsfähig sein können. Damit dürfte klar sein, dass die Kompromissbildung in Koalitionsverhandlungen nur punktuell zugunsten linker Positionen ausfallen kann – in der Regel da, wo es breite, über das enge linke Spektrum hinausgehende gesellschaftliche Unterstützung und Mobilisierung gibt. Und selbst da, wo es gesellschaftliche Mehrheiten in Einzelfragen gibt, heißt dies nicht, dass sie sich in eine Unterstützung der LINKEN niederschlagen müssen. Denn auch wenn Oskar Lafontaine immer wieder betont, dass bis auf die LINKE alle Parteien »Politik gegen die Mehrheit des Volkes machen«, wählt die Mehrheit des Volkes diese Parteien noch immer.5 Diese Überlagerung der Zustimmung zu einzelnen linken Positionen durch parteipolitische Bindungen zum Beispiel an die SPD ermöglicht es deren Parteispitze teilweise sogar, gegen die in der eigenen Anhängerschaft mehrheitlich vertretene Position oder gar eigene Parteitagsbeschlüsse zu handeln oder sie auf symbolische Gesten zu reduzieren.

Der permanente Einigungszwang mit dem Koalitionspartner resultiert aber nicht nur aus dem Koalitionsvertrag. Auch von der Wählerschaft der LINKEN geht Druck zur Einigung aus. Denn diese – alle Umfragen zeigen es – will mit großer Mehrheit eine Regierungsbeteiligung der LINKEN und erhoffen sich gleichzeitig die Durchsetzung wesentlicher linker Positionen in der Koalition. Dieser Widerspruch findet sich nicht nur bei Wählerinnen und Wählern der LINKEN, sondern auch bei Gewerkschaften, Verbänden und Bürgerinitiativen. Er wird aber in der Regel nicht durch die Forderung nach Koalitionsbruch aufgelöst, weil man das ›größere Übel‹ einer konservativen und/oder liberalen Regierungsbeteiligung nicht in Kauf nehmen will. So fordern Gewerkschaftsfunktionäre mit sozialdemokratischem Parteibuch die LINKE gern auf, Druck auf die SPD auszuüben, um dieses oder jenes »endlich durchzusetzen« und einen Kampf zu führen, den sie in der eigenen Partei längst verloren oder nie geführt haben. Die Konsequenz aus dieser Einsicht ist aber meist nicht der Bruch mit der SPD – im Zweifelsfall obsiegt die Parteiloyalität.

Mit einem Koalitionsbruch zu drohen, kann also nur dann sinnvoll sein, wenn der Gegenstand des Konflikts für die eigene Wählerschaft und nach Möglichkeit darüber hinaus von so großer Bedeutung ist, dass er den Bruch der Koalition auch in deren Augen rechtfertigt. Nur so besteht die Chance, dass das Ende der Koalition nicht in einer Stärkung der SPD und/oder des konservativen Blocks zulasten der LINKEN resultiert und das gesellschaftliche Kräfteverhältnis nicht nach rechts verschoben wird. Eine Ausnahme bilden allerdings Grundsatzfragen wie Krieg und Frieden, bei denen eine Koalition auch ohne ausreichende gesellschaftliche Unterstützung beendet werden müsste.

Das Argument, dass der Einigungs- und Kompromisszwang ja nicht per se den Sozialdemokraten nutzen müsse, sondern auch von der LINKEN für Ihre Interessen genutzt werden könne, hört sich im ersten Moment plausibel an. Allerdings verkennt es einen wesentlichen Punkt: Solange linke, sozialistische Positionen gesellschaftlich minoritär sind, wird der Kompromisszwang in der Regel eher zugunsten des gesellschaftlichen Mainstream wirken. Die Vorstellung, eine linke Partei könne unter diesen Bedingungen einen sozialdemokratischen Koalitionspartner zu linker Politik zwingen, ist naiv. Was nicht durch Mobilisierung, durch den Versuch, Kräfteverhältnisse zu verschieben und eine gesellschaftliche Mehrheit für linke Positionen zu gewinnen, gelungen ist, lässt sich nicht durch Gerangel am Kabinettstisch oder eine besonders raffinierte Verhandlungsstrategie wettmachen. Denn: »Das Zählen der Stimmen ist die abschließende Zeremonie eines langen Prozesses« (Gramsci, zitiert nach Hirsch 1990, 175).

Koalitionsgerangel

Die strukturelle Dominanz sozialdemokratischer Positionen in Mitte-Links-Koalitionen und die Notwendigkeit, in der Regierungspolitik unterschiedliche Interessen zu integrieren, führt unter den gegebenen Kräfteverhältnissen zu Widersprüchen und Konflikten zwischen der »Partei im Staatsapparat« (den Regierungsmitgliedern und der Fraktion) und der »Partei außerhalb des Staatsapparates« (der Wählerschaft, die mehr linke Politik will, dies aber in und mit der Regierung) sowie gesellschaftlichen Initiativen, die ihre Interessen nur unzureichend oder gar nicht repräsentiert sehen. Die Vorstellung, diesem Dilemma durch eine Politik der permanenten Koalitionskonflikte zu entgehen, ist illusorisch. Eine linke Partei kann damit zwar die eigene Position im Gegensatz zur SPD deutlich machen, das Ergebnis wird aber zwangsläufig in einem mal besseren, mal schlechteren Kompromiss bestehen, oder – im schlimmsten Fall – in einer völligen Niederlage der LINKEN. Eine Partei, die regelmäßig eine Koalitionskrise ausruft, diese aber nicht zu ihren Gunsten entscheiden kann, gilt nicht nur in der eigenen Wählerschaft als durchsetzungsschwach und erfolglos. Die ›Koch-oder-Kellner-Frage‹ ist damit für die Öffentlichkeit entschieden.
Es greift aber noch ein anderer Mechanismus der Parteienkonkurrenz: Die demonstrative öffentliche Inszenierung eines Konflikts kann es sogar erschweren, die eigenen Positionen durchzusetzen, es sei denn es gibt eine breite gesellschaftliche Unterstützung der jeweiligen Forderungen. Der Koalitionspartner wird in einer zugespitzten Situation alles dafür tun, dass der Ausgang des Konflikts nicht als Sieg der anderen Seite wahrgenommen wird. Gelingt es der LINKEN im Einzelfall doch, eine von den Sozialdemokraten geforderte politische Entscheidung zu verhindern, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass dem bald ein ›Revanchefoul‹ folgt und Forderungen der LINKEN blockiert werden, um intern wie in der Öffentlichkeit wieder klarzumachen, wer die Richtlinien der Regierungspolitik bestimmt und den Hut aufhat. Es gibt also ein schwieriges Spannungsverhältnis zwischen Eigenprofilierung und Durchsetzungsfähigkeit in einer Koalition – zu viel Eigenprofilierung auf Kosten des Koalitionspartners kann die eigene Durchsetzungsfähigkeit schwächen, zu wenig Eigenprofilierung macht den Eigenanteil an gefundenen Kompromissen kaum mehr erkennbar. Gegen eine Koalition als permanentes ›Konfliktbündnis‹ spricht auch, dass eine Regierung, die von einer Koalitionskrise in die andere taumelt, in den Augen der öffentlichen Meinung als nicht regierungsfähig erscheint.6 Als Regierungspartei immer nur zu blockieren, wird bald zum Scheitern einer Regierungszusammenarbeit führen. Auch deshalb besteht immer der Einigungs- und Kompromisszwang.

Geschwächte Partei

Als funktionierende und erfolgreiche Koalition wird nur eine Konstellation wahrgenommen, in der beide Partner den Koalitionskompromiss als (gemeinsamen) politischen Erfolg kommunizieren können. Koalition bedeutet eben auch, dass ein politisches Gesamtkonzept gemeinsam vertreten wird, wie es unter anderem im Koalitionsvertrag vereinbart wurde. Es geht also auch darum, Koalitionskompromisse gegenüber der eigenen Parteimitgliedschaft und Wählerschaft als gut zu kommunizieren (auch wenn man sich mehr hätte vorstellen können). Daraus resultiert die Gefahr einer legitimatorischen Überhöhung von eigentlich ungenügenden oder schlechten Kompromissen zu politischen Erfolgen. Die Möglichkeit, mit dem Koalitionspartner gefundene politische Einigungen als unzureichend darzustellen, sind aber begrenzt, denn es wirkt wenig glaubwürdig, wenn das Regierungspersonal permanent die eigene Regierung kritisiert. Diese Logik von Regierungsbeteiligungen führt auch dazu, dass das am Regierungshandeln unmittelbar beteiligte Personal immer wieder versucht, die Parteiorganisation und die mit ihnen kooperierenden außerparlamentarischen Gruppen auf den (mit der Sozialdemokratie) gefunden Kompromiss einzuschwören und sie auf das ›tagespolitisch Machbare‹ zu reduzieren. Dieser Widerspruch zwischen der »Partei im Staatsapparat« und der »Partei außerhalb des Staatsapparats« wird noch dadurch akzentuiert, dass Koalitionskompromisse von einer kleinen Personengruppe ausgehandelt werden – sei es unmittelbar im Kabinett, im Koalitionsausschuss oder zwischen den Fraktionsvorsitzenden und parlamentarischen Geschäftsführern. Die Partei kann zwar in der einen oder anderen Frage Verhandlungsaufträge formulieren – im eigentlichen Verhandlungsprozess bleibt sie aber außen vor. In Verhandlungen müssen beide Verhandlungspartner davon ausgehen können, dass der jeweils andere in der Lage ist, ein in schwierigen Gesprächen gefundenes Ergebnis auch in den eigenen Reihen durchzusetzen – mit anderen Worten: dass der verhandelte Kompromiss Bestand hat. Unter dem Gesichtspunkt eines effektiven Koalitionsmanagements und Regierungshandelns erscheint folglich das von Partei und außerparlamentarischen Initiativen geforderte ›Mehr‹ über den gefundenen (und erreichbaren) Kompromiss hinaus als störend oder gar kontraproduktiv. Dies ist mit der Logik der Regierungsbeteiligung unvermeidlich verbunden und zieht die Gefahr nach sich, dass die Parteiorganisation in Passivität und eine mürrische Duldung der Regierungsarbeit verfällt. Die Fähigkeit zur gesellschaftlichen Mobilisierung im außerparlamentarischen Raum wird geschwächt.

Minderheitenregierung als Ausweg?

Was aber folgt daraus? Dem Widerspruch, als Partei und erst Recht als Regierungspartei Teil des bürgerlichen Staates zu sein und gleichzeitig über die bürgerliche Gesellschaft hinaus zu wollen, entkommt man nicht. Die Formulierung sogenannter roter Haltelinien – sei es Sozialabbau oder Kriegseinsätze – greift zu kurz, geht am eigentlichen Problem vorbei. So wichtig rote Haltelinien auch sein mögen – zu benennen, was nicht sein darf, ist noch keine Strategie in Regierungsfragen. Die Wählerinnen und Wähler erwarten mehr als die Formulierung von Prinzipien und Bekenntnissen, sie erwarten reale Veränderungen. Sie wollen eine Partei, die einerseits ihren Grundüberzeugungen treu bleibt, andererseits konkrete Verbesserungen und Reformschritte voranbringt. Für den (wahrscheinlichen) Fall, dass die SPD nicht bereit ist, alle roten Haltelinien zu akzeptieren, aber sehr wohl konkrete Verbesserungen in Einzelfragen umzusetzen, steht die LINKE vor dem Dilemma, entweder die Haltlinien aufzugeben oder Reformen zu blockieren, die auch von der eigenen Wählerschaft gewünscht werden.

Eine Minderheitsregierung bietet die Chance, eine Bewegungsform für diesen Widerspruch zu finden. Sie ermöglicht eine Politik wechselnder Mehrheiten und unterwirft die LINKE nicht der Disziplin und dem unbedingten Einigungszwang einer Koalitionsregierung. Die LINKE behielte ihre Freiheit der Kritik und die Möglichkeit, zusammen mit außerparlamentarischen Bewegungen Druck auf die Regierung auszuüben und so die Kräfteverhältnisse zu verschieben. Konkrete Reformen würden unterstützt, kritikwürdige Maßnahmen erhielten jedoch keine parlamentarische Unterstützung (vgl. hierzu ausführlicher Wolf 2013a und 2013b).

Aber die Bildung einer Minderheitsregierung hängt nicht allein vom Willen der LINKEN ab, sondern auch von der Bereitschaft der SPD, sich in eine solche Konstellation zu begeben. So kann es passieren, dass die LINKE rasch wieder vor der Koalitionsfrage steht, der sie nicht einfach ausweichen kann. Sie wird derartige Herausforderungen nur dann bestehen können, wenn sie im Vorfeld konkrete Reformvorhaben formuliert, die über den Rahmen sozialdemokratischer Politik hinausgehen und auf eine andere gesellschaftliche Logik verweisen. Auch muss sie gemeinsam mit außerparlamentarischen Initiativen für gesellschaftliche Mehrheiten werben, mit dem Ziel, Kräfteverhältnisse zu verschieben. An der gesellschaftlichen Unterstützung für solche Reformprojekte wird sich entscheiden, ob eine Koalitionsbildung möglich ist und ob die LINKE über den entsprechenden Rückhalt in der Gesellschaft verfügt, der es ihr erlaubt, auf der Umsetzung dieser Reformprojekte als Voraussetzung für einen Regierungseintritt zu bestehen. Ein wesentliches Element solcher Strategie müssten auch Maßnahmen zur Demokratisierung der Staatsapparate sein – wie die Stärkung plebiszitärer Formen, die Weiterentwicklung der Konzeption der Bürgerhaushalte, »Open Data« statt des überkommenen Prinzips der Amtsverschwiegenheit, die Etablierung von gesellschaftlichen Beiräten und ihre Ausstattung mit Kompetenzen, um Blockaden der Ministerialapparate zumindest partiell durchbrechen zu können. Notwendig ist auch die Entwicklung einer bewussten und klug kalkulierten Arbeitsteilung zwischen der »Partei im Staatsapparat« und der »Partei außerhalb des Staatsapparats«. Die Fähigkeit der Partei, gesellschaftliche Mobilisierungen voranzutreiben, die über den aktuellen Regierungskompromiss hinausgehen, muss erhalten bleiben, ohne in offenen Widerspruch zur »Partei im Staatsapparat« zu geraten. Eine solche Arbeitsteilung verlangt ein hohes Bewusstsein über die damit verbundenen Widersprüche und Probleme sowie die Fähigkeit, die jeweils unterschiedlichen Rollen der Partei innerhalb und außerhalb des Staatsapparats zu verstehen und wechselseitig zu akzeptieren. Erschwerend kommt hinzu, dass eine Regierungsbeteiligung einen Großteil des Führungspersonals absorbiert.
Bei allen Schwierigkeiten, es bleibt dabei: Die notwendige Veränderung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse kann nicht durch noch so kluge Verhandlungstaktik und Entscheidungen am Kabinettstisch ersetzt werden. Der linke Königsweg in der Regierungsfrage ist noch nicht gefunden – der erste Schritt zu einer rationalen Diskussion ist es aber, sich bewusst mit den Gefahren und Problemen möglicher Strategien auseinanderzusetzen.

1    Der französische Sozialist Millerand trat 1899 in eine bürgerliche Koalitionsregierung ein. Dies führte in der internationalen Sozialdemokratie zu einer hefitigen Debatte über den sogenannten Millerandismus.
2    Rolf Reissig, Mitregieren in Berlin. Die PDS auf dem Prüfstand, Berlin 2005 und Thomas Koch, Die Mitte-Links-Koalition in Mecklenburg-Vorpommern, Berlin 2001 sind Ausnahmen, die die Regel bestätigen.
3    Die einzelnen Ministerialapparate sehen sich durchaus als Interessenvertreter. So erklärten mir leitende Beamte der Wirtschaftsverwaltung, man verstehe sich als »Dienstleister der Wirtschaft« und müsse die Interessen der Unternehmen vertreten – was ich allerdings anders sah.
4    Dass etwas aus ›fachlicher Sicht‹ – im Gegensatz zur ›politischen Sicht‹ – nicht empfehlenswert sei, ist eine gern gebrauchte Redeweise der Staatsbürokratie. Der Apparat arbeite rein sachorientiert, verkörpere die Rationalität, während Politik von sachfremden Erwägungen geleitet, ›fachlich‹ nicht gebotene Entscheidungen treffe – so die Suggestion.
5    So wählt beispielsweise die gesellschaftliche Mehrheit, die die Rente mit 67 ablehnt, noch immer mehrheitlich Parteien, die diese Rentenkürzungspolitik vertreten.
6    Das in der Bundesrepublik bislang extremste Beispiel einer solchen Koalition als Konfliktbündnis war die rot-grüne Senatskoalition in Berlin 1989/90. Mit illusionär-überhöhten Erwartungen in die Möglichkeiten einer Koalition mit der SPD ging die Alternative Liste in die Regierung. Als diese hohen Erwartungen auf die harte Realität sozialdemokratischer Politik stieß, kam es zu permanenten Koalitionskrisen. Das endgültige Scheitern der Koalition im November 1990 führte zu einer dramatischen Wahlniederlage sowohl für die SPD als für auch die Alternative Liste (vgl. Heinrich 1993).

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