Müssen wir wieder von vorn anfangen? Ausgehend von den Impulsen der Arabellion (vgl. LuXemburg 2/2011) hatte 2011 mit den Platzbesetzungen ein Bewegungszyklus begonnen, der in der Krise eine neue Hoffnung auf Veränderung in die Welt brachte. Am deutlichsten wurde dies in den Demokratiebewegungen der Empörten des 15M in Spanien, auf dem Syntagma-Platz in Griechenland und bei Occupy Wall Street in den USA. Ist dieser Bewegungszyklus an sein Ende gekommen? Ich denke, nein. Es gibt keinen linearen Aufstieg solcher politischer Bewegungen, die Entwicklung erfolgt über Brüche, ist geprägt von Rückschlägen, Niederlagen, Reorganisierung und Neuanfang. Bestimmte Strategien erschöpfen sich, dann muss ein anderer Weg, müssen neue Organisationsformen gesucht werden. Das war nach der Räumung der Plätze so, ebenso nach der Niederlage in Griechenland. Wichtig ist, aus dem Bisherigen zu lernen, eine Kontinuität der strategischen Debatte zu gewährleisten. Sonst wird Vielversprechendes abgebrochen, wenn die ersten Probleme auftauchen, und das Rad neu erfunden.
Momentan zeigt sich, dass elektorale Prozesse – nicht nur die Wahlen selbst, sondern auch die vorhandenen Potenziale einer organisierenden Wahlkampagne – immer wieder überschätzt werden. Ihre Wirkung bleibt aber gering, solange sie nicht mit langfristiger und mühseliger Organisierungsarbeit in den Nachbarschaften verbunden sind. Erst wenn sich Organisierung den Alltagsproblemen zuwendet und über eine Präsenz im Alltag Glaubwürdigkeit erzeugt, kann sie Räume öffnen, in denen die Einzelnen selbst etwas tun können, die aber auch für diejenigen attraktiv wirken, die nicht politisch aktiv sein können oder wollen. In der einseitigen Konzentration auf Wahlen und Wahlprozesse treffen sich traditionelle Parlamentsorientierung und ein rein diskursiv konstruierter Populismus: Die punktuelle, aber konzentrierte Mobilisierung kann durchaus Erfolge zeitigen, sie ist aber immer prekär, wenn sie nicht mit einer Verankerung und nachhaltigen politischen Organisierung verbunden wird. Bei den nächsten Wahlen oder einer neuen, wirkungsvolleren populistischen Anrufung – »raus aus der EU«, »gegen die da oben«, »gegen Flüchtlinge und Arbeitsmigrant*innen« – zieht die Wähler*in weiter.
In Griechenland, Portugal und im spanischen Staat ist der Zyklus, der mit den Protesten und Platzbesetzungen begann und scheinbar bruchlos zu grandiosen Erfolgen bei den Wahlen führte, nicht vorüber, sondern er ist an eine gläserne Decke der Macht gestoßen, die so nicht zu durchbrechen war. Die Per­sp­ektive der Verdichtung und Übersetzung der gesellschaftlichen Mobilisierung in Regierungsmacht hat sich vorübergehend erschöpft (wenn nicht bei Teilen der Linken und der Bewegungen diskreditiert). Jetzt gilt es, wieder eigene Institutionen (aus)zubauen, die Basis zu erweitern und – wo es möglich ist – neue verbindende Praxen zwischen den unterschiedlichen Funktionen von Regierung, Partei, Bewegung und gesellschaftlicher Selbstorganisation zu entwickeln. Dann wären auch die sehr unterschiedlichen Regierungsprojekte – die Tolerierung einer Anti-Austeritätsregierung der PS in Portugal (vgl. Principe in LuXemburg 2/2016), die aus den verbindenden Plattformen hervorgegangenen rebellischen Regierungen in den spanischen Kommunen und die Syriza-Regierung in Griechenland (vgl. Griechenland-Special auf LuXemburg-Online) – nicht umsonst gewesen. Wie solche verbindenden Praxen nach dem Scheitern der Syriza-Partei in Griechenland aussehen könnten, ist allerdings offen (vgl. Candeias 2016; Giovanopoulos in LuXemburg 2/2016).
Dass der Bewegungszyklus noch nicht vorüber ist, zeigt sich auch an den fortbestehenden »transnationalen Resonanzen« (Candeias 2013). Am offensichtlichsten wird der Impuls der Demokratiebewegungen bei Nuit Debout in Frankreich, mit allen seinen Stärken und Schwächen. Doch auch dort waren die stabilen Institutionen der Herrschaft weder durch Platzbesetzungen noch durch militante Streiks zu erreichen. Darüber hinaus weder die gewerkschaftlichen Aktionen und die Versammlungen auf den Plätzen weder von der ehemaligen Arbeiterklasse in den deindustrialisierten Gebieten noch von der abstiegsbedrohten (unteren) Mittelschicht im ländlichen Raum als ihr Ausdruck betrachtet (vgl. Syrovatka 2016 auf LuXemburg-Online). Die undemokratische Umsetzung des Loi El Khomri ohne Abstimmung in der Nationalversammlung ist vielmehr Wasser auf die Mühlen des Front National, der die Arbeitsrechtsreform als ein »Diktat aus Brüssel« darstellt und Frankreich durch den »bürokratischen Superstaat EU« in seiner Souveränität bedroht sieht. Erneut stellt sich die Frage, ob es nach den großen Mobilisierungen gelingt, den Impuls aufzunehmen und in eine Form der Organisierung zu übersetzen (vgl. Candeias/Völpel 2014), sei es in neue zivilgesellschaftliche Organisationen (vergleichbar der PAH in Spanien oder den Solidaritätsstrukturen in Griechenland) oder in parteipolitische Formen. Geschieht dies nicht, verpufft der Impuls.
Verbindende Praxen entwickeln sich nicht automatisch. Frankreich ist das jüngste Beispiel: »Wir erleben eine ›Konvergenz der Kämpfe‹ in Frankreich […] aber es ist nicht selbstverständlich, dass sich diese Kämpfe und die existierenden politischen Organisationen verbinden lassen. Die alte Arbeitsteilung zwischen Partei, Bewegung und Gewerkschaft ist Geschichte. Alle müssen sich verändern und über ihre alten Praxen hinausgehen«, konstatiert Maurilio Pirone von der Coalizione dei centri sociali auf der Europäischen Strategiekonferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Juni 2016.
Der Kommunistischen Partei (KP), der Parti de Gauche, aber auch der 2009 gegründeten Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) gelingt es bisher weder, die neu entstandene gesellschaftliche Strömung aufzunehmen, noch die alten länger zu repräsentieren. Sowohl die parteipolitische Linke in Frankreich als auch die radikale Linke und die »Linke« innerhalb der Grünen und der Sozialistischen Partei befinden sich in einem desolaten Zustand. Angesichts dessen ist es fraglich, ob dieser »Dritte Pol« bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen ausreichend sichtbar werden kann, um nicht zwischen neoliberaler Elite auf der einen und dem Front National auf der anderen Seite zerrieben zu werden und schon im ersten Wahlgang auszuscheiden. Die wahrscheinliche Folge: eine Präsidentin Le Pen und das mögliche Ende der Europäischen Union.

Sozialdemokratie als Grenze progressiver Transformation?

Auch vor der Sozialdemokratie macht die Dynamik des Bewegungszyklus nicht halt. Zugleich markiert diese zurzeit die Grenze einer progressiven Transformation in Europa. Sie hat drei Optionen, von denen auch die Zukunft aller anderen, weiter links stehenden Projekte abhängt.
Die Sozialdemokratie kann mit einer Art Populismus aus der Regierung heraus versuchen, die autoritäre neoliberale Krisenpolitik fortzuführen und (schwindende) Mehrheiten gegen die Rechtspopulist*innen zu sichern, indem sie sich der Denunzierung »korrupter«, mindestens »verkrusteter« politischer Institutionen bedient und fehlende Erfolge auf die Verwaltungen, Parteibürokratien und »Partikularinteressen« der Gewerkschaften schiebt (vgl. Revelli und Caccia in diesem Heft). Dieser Regierungspopulismus, wie ihn etwa Matteo Renzi verkörpert hat, zielt auf die Marginalisierung und Unterordnung – nicht die Ausschaltung – aller vermittelnden Institutionen der repräsentativen Demokratie unter die Regierung. Und er zielt auf die Zerstörung oppositioneller, vor allem linker Kräfte, innerhalb und außerhalb der Demokratischen Partei. Unabhängig davon, ob diese Strategie erfolgreich ist oder nicht, arbeitet sie einem autoritären Projekt in Europa und einer Faschisierung zu.
Einer Sozialdemokratie, die über Jahrzehnte programmatisch wie personell eng mit dem Neoliberalismus verwoben war, deren Führung aber noch an den Schaltstellen der Regierungs- und Verwaltungsmacht sitzt, fehlt das Potenzial zur Erneuerung. Sie verpasst den geschichtlichen Moment, an dem der »Zwiespalt zwischen Repräsentierten und Repräsentanten« zu groß wird: »An einem bestimmten Punkt ihres geschichtlichen Lebens lösen sich die gesellschaftlichen Gruppen von ihren traditionellen Parteien, das heißt, die traditionellen Parteien in dieser gegebenen Organisationsform, mit diesen bestimmten Männern, die sie bilden, sie vertreten oder führen, werden von ihrer Klasse oder Klassenfraktion nicht mehr als ihr Ausdruck anerkannt.« (Gramsci, Gef.7: 1577f.). Hier droht die Gefahr eines Abdriftens in die politische Bedeutungslosigkeit. Dies musste die PASOK in Griechenland erleben.
Der Sozialistischen Partei Frankreichs und der Sozialistischen Arbeiterpartei Spaniens (PSOE) droht ein ähnliches Schicksal. Trotz massenhafter Proteste und niederschmetternder Umfragewerte (14 Prozent im September 2016) hält die Regierung unter François Hollande und Manuel Valls autoritär an der Durchsetzung einschneidender neoliberaler Maßnahmen fest, was in der Partei nur verhaltenen Protest hervorruft (vgl. Syrovatka in diesem Heft). Die spanische PSOE hat starke Verluste erlitten. Sie errang bei den letzten Wahlen 22 Prozent der Stimmen – eine Halbierung innerhalb der letzten zehn Jahre. Sie hatte die historische Entscheidung zu treffen, ob sie mit dem linken Wahlbündnis Unid@s Podemos eine »Regierung des Wandels« wagen sollte, oder ob sie dem Verfassungsregime von 1978 treu bleibt und die Fortsetzung des Alten ermöglicht – eine weitere Minderheitsregierung des rechtskonservativen Partido Popular (PP). In dem Moment, als der Parteivorsitzende Pedro Sánchez überlegte, eine Mitte-Links-Regierung zu bilden, wagte der Flügel um Felipe González den Putsch. Die Entscheidung fiel zugunsten einer »Regierung der nationalen Einheit«, oder wie es die innerparteiliche Konkurrentin des Parteivorsitzenden, Susana Díaz, ausdrückte: »Erst kommt die Nation, dann die Partei.« Für dieses Ziel wird die Zerstörung der eigenen Partei in Kauf genommen. Bezeichnend ist, dass es kaum Widerstand von den verbliebenen Linken in der Partei oder der Basis gab (vgl. Andrade in diesem Heft).
Die mangelnde Erneuerungsfähigkeit der Sozialdemokratie erweist sich als entscheidende Blockade für einen Richtungswechsel. Ohne sie geraten alle linken Projekte, einschließlich der Bewegungsprojekte wie in Frankreich oder Spanien an eine Grenze. Aber auch in Griechenland scheiterte ein Neuanfang nicht zuletzt aufgrund der mangelnden Unterstützung durch die europäische Sozialdemokratie, mit Martin Schulz an der Spitze.
Dies gilt auch für die deutsche SPD, deren Umfragewerte sich mittlerweile nahe der 20-Prozent-Marke bewegen und sich gegenüber der Wahl von 1998 (40,9 Prozent) ebenfalls fast halbiert haben. Sie hält an einer Regierung fest, die mit Macht das autoritäre neoliberale Krisenregime in ganz Europa durchsetzte und unerbittlich die Vernichtung jeder Alternative betreibt.
Eine echte Erneuerung ist gegenwärtig ausgeschlossen. Keinesfalls sollte jedoch eine (mehr oder weniger opportunistische) Wende ausgeschlossen werden – schon zur Selbsterhaltung, angesichts der Beispiele ihrer nahezu vernichteten Schwesterparteien.
Fraglich ist nur, ob die SPD bis dahin nicht jeden Rest an Glaubwürdigkeit verspielt hat. Auch mangelt es an entsprechendem Personal. Große Teile des linkssozialdemokratischen Spektrums haben die SPD verlassen, sind über die WASG zur Partei die LINKE gewechselt oder haben sich von Parteipolitik abgewendet. Diese Möglichkeit muss in Betracht gezogen, darf aber nicht überschätzt werden. Doch Opportunismus reicht nur zu Modifikationen der Politik. Ein wirklicher Richtungswechsel gemeinsam mit der SPD ist vorläufig unrealistisch. Linke Politik muss deshalb auch darauf gerichtet sein, den Druck für eine linke Erneuerung der SPD zu erhöhen. Diese Option wird aber nicht nach dem Modell Sanders oder Corbyn zu realisieren sein.
Für die dritte Option, die Erneuerung einer linken Sozialdemokratie, stehen jene Prozesse, die mit den Namen Jeremy Corbyn und Bernie Sanders verbunden sind. Auch diese sind durchaus als spezifische Resonanzen des Bewegungszyklus von 2011 zu verstehen. Bei Sanders, dem linken Präsidentschaftskandidaten der demokratischen Partei in den USA, liegt dies auf der Hand: Vielfältige Community-Organizing-Initiativen und Bewegungen wie Occupy hatten den Boden für dessen ›politische Revolution‹ bereitet. Die elektorale Mobilisierung ist an ihr Ende gekommen. Die Bewegung sucht jetzt eine neue Form, um den Impuls zu erhalten und einem »Dritten Pol« jenseits von Donald Trump und Hillary Clinton Sichtbarkeit zu verleihen und zugleich Partei und Fraktion der Demokrat*innen zurückzuerobern.
Auch in Großbritannien gab es immer wieder Mobilisierungserfolge von Student*innen, Gewerkschaften und linken Anti-Austeritätsbewegungen. Doch auch sie konnten keine Form der Organisierung finden – die zersplitterte und teils sektiererische Linke schien keine erfolgversprechende Alternative. Labour galt wie die US-Demo­krat*innen als Ausdruck einer offensiven neoliberalen Sozialdemokratie, kaum anders als ihre rechtskonservativen Konkurrenten – sie repräsentierten das politische Establishment. In diesem Moment konnten Personen, die zwar nie dazugehörten, aber immer irgendwie da waren, zur Personifikation des Wunsches nach glaubwürdigen politischen Repräsentanten werden und eine Revolution gegen diese vermeintlich linken Partei-Eliten anstoßen.
Obwohl sich Old New Labour um alles in der Welt bemühte, Corbyn wieder loszuwerden, wurde die Unterstützung für den neuen Parteichef mit jedem Angriff größer und die Zahl der Parteimitglieder explodierte. Hunderttausende traten ein oder ließen sich als Unterstützer*innen registrieren. Trotz juristischer Winkelzüge, die 183 000 neu Dazugekommene von der jüngsten Wahl ausschlossen, wurde Corbyn wiedergewählt. Der innerparteiliche Coup der »Blairistas« gegen ihren legitimen Parteivorsitzenden ist gescheitert. Nach diesem offenen Machtkampf zwischen Revolution und Konterrevolution bei Labour ist nun offen, ob es ein gemeinsames Projekt geben kann oder die Partei sich spaltet.
Beide Beispiele der Erneuerung einer linken Sozialdemokratie ereigneten sich in Ländern, in denen unter den Parteien keine ernst zu nehmende Kraft links von der Sozialdemokratie existiert. Es ist fraglich, ob eine solche Erneuerung in Ländern möglich wäre, in denen der Platz einer linken Sozialdemokratie von anderen streitig gemacht wird.
Darüber hinaus gibt es bisher nur zwei Beispiele in Europa, wo es gelang, links der Sozialdemokratie eine machtvolle parteipolitische Alternative zu konstruieren: In Griechenland wurde diese Alternative durch die europäischen Institutionen zerstört, nun wird versucht, die schlimmsten Folgen abzufedern. Im spanischen Staat gelang es mit Podemos, dann Unid@s Podemos, eine solche Alternative aufzubauen. Doch auch sie stößt an Grenzen.
Den Weg einer vorsichtigen Erneuerung ohne Bruch versucht die portugiesische PS zu gehen: eine sanfte Aufweichung des Austeritätskurses ohne wirklichen Richtungswechsel. Hier sollten wir genauer hinschauen: In Portugal gab es im europäischen Vergleich die größten Krisenproteste, aber keine Verdichtung in neue Organisationsformen. Der Impuls der Bewegung drohte zu verpuffen. Die Bewegung fand in der Wahl radikaler linker Parteien einen vorübergehenden Ausdruck. Vor diesem Hintergrund bot im Oktober 2015 die Tolerierung einer gegen die Austerität positionierten Minderheitsregierung der Sozialistischen Partei durch Kommunist*innen und Linksblock eine Perspektive. Dies wäre durchaus ein möglicher Weg für die Bundesrepublik Deutschland und eine Alternative zur ungeliebten rot-rot-grünen Koalition: eine Minderheitsregierung (vgl. Candeias/Brie auf LuXemburg-Online).
Für einen Richtungswechsel in Europa ist also entscheidend, ob eine Erneuerung der Sozialdemokratie möglich ist. Aber selbst wenn es dazu käme, braucht es eine starke radikale Linke, die in einem gemeinsamen Projekt als Transformationslinke wirken kann, um über den vorgegebenen Rahmen hinaus zu gehen.