Wir befinden uns in einer neuen historischen Phase. Die Jahre der westlichen Hegemonie neigen sich schnell dem Ende zu. Jahrelang zwang der Westen den Regierungen und Bevölkerungen im Süden seinen Willen auf: mittels Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank (WB), den regionalen Banken und der Agenturen von IWF/WB im Süden, der Welthandelsorganisation (WTO), und der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO).

Als herausragenden Erfolg dieser westlichen Offensive akzeptierten die meisten Regierenden des Südens, wie auch die Regierungskräfte nach 1989 in Russland, den »Triumph« der westlichen Ideologien und westlichen Methoden. Nun werden jedoch westliche Ideen und Ideologien nicht nur im Süden, sondern auch in den Ländern des Nordens in Frage gestellt. Die Frage für uns alle lautet: Was nun?

Blinde Flecken der Antworten des Westens auf seine drohende zivilisatorische Krise

Die Regierungen im Westen (und nun sitzen einige der Regierenden des Südens mit ihnen am runden Tisch bei den so genannten G20- Treffen) haben das Ausmaß der Krise und den Ernst der Lage noch nicht ausreichend zur Kenntnis genommen. Die Feuerwehrmaßnahmen der US- und EU-Regierungen wie etwa die Rettungskäufe von Banken, Staatsverschuldung und andere antizyklische Maßnahmen, kratzen kaum an der Oberfläche der Krise. Die gegenwärtige Krise ist weder ein konjunkturelles Phänomen, noch eine bloß vorübergehende »Rezession«, die in einigen Jahren »bewältigt« sein wird. Die Krise ist tief in der eigentlichen Grundstruktur der kapitalistischen Produktion und Verteilung verwurzelt. Es ist eine duale, sozialökonomische und ökologische Krise der westlichen Zivilisation als solcher: Überausbeutung, zunehmende Ungleichheiten, Hunger und Energiekrise, Zerstörung der Subsistenzwirtschaft, Krieg sowie globale Flüchtlingsbewegungen, die nicht an den Toren der westlichen Zivilisation halt machen werden, Produktion so genannter failed states und – der entscheidende Punkt – Zerstörung unserer Umwelt und damit der Lebensgrundlagen von Milliarden Menschen. All dies ist nicht neu, sondern ein mindestens 150 Jahre währender Prozess. Jene, die sich nun auf der Suche nach »Antworten« auf die gegenwärtige Krise an Keynes wenden (»Wir sind heute alle Keynesianer«), sollten nüchtern daran erinnert werden, dass der Keynesianismus eine Antwort auf das Empire in der Krise darstellte, und er erfüllte 50 Jahre lang seinen Zweck. Er ist jedoch am Ende seiner Mission angelangt. Jedenfalls vermag der Keynesianismus nur oberflächliche Aspekte einer Krise anzusprechen. Die Keynesianer sprechen davon, die Regulierungsfunktion des Staates wieder herzustellen, und vergessen angesichts der allzu weit verbreiteten Rede von der »Gier« der Konzernmanager, dass der kapitalistische Staat stets beteiligt war. Alle Antworten auf die vielfachen Krisen im Westen sind kurzsichtig und egoistisch, nationalistisch orientiert. Beispielsweise der Versuch, die Migration aus dem Süden aufzuhalten, eine Maßnahme, die auch in der westlichen Bevölkerung Unterstützung findet, insbesondere bei den Arbeiterklassen. Persönlich finde ich diese Reaktion seitens der westlichen Öffentlichkeit und Arbeiter nachvollziehbar – mit Ausnahme der brutalen und rassistischen Äußerungen. Die Angelegenheit muss jedoch ins rechte Licht gerückt werden. Die gesamte Menschheitsgeschichte kann als Geschichte der Migration von Menschen aus ressourcenärmeren zu ressourcenreicheren Ländern und von kriegerischen zu relativ friedlichen Umgebungen gelesen werden. Das ist nichts Neues. Neu an der gegenwärtigen Epoche ist, dass die Migration der Menschen von Norden nach Süden, wie auch zwischen Norden und Norden möglich ist, jedoch die Migration zwischen dem Süden und dem Norden (und auch von Süden nach Süden) wesentlich durch Grenzkontrollen, Stacheldraht, Polizeipatrouillen und abgeschottete Flüchtlingslager blockiert ist.

Vorschläge für Antworten der progressiven Kräfte im Süden und Norden

Wie können die fortschrittlichen Kräfte im Süden und im Norden diesen Herausforderungen begegnen? Nachfolgend werden einige Ideen aufgeführt, die weiterer Diskussion und Überlegungen bedürfen. Seit der theoretischen Abhandlung von Marx haben wir hinsichtlich real existierender sozialistischer Experimente beträchtliches Wissen angehäuft. Die Erfahrungen in der Sowjetunion, China, Vietnam und Kuba sollten zusammengefasst werden, um aus ihren Schwächen und Stärken zu lernen. Es ist wichtig, Erfolge der Massen in den Kämpfen im Süden wie auch im Norden in den letzten 120 Jahren anzuerkennen. Diese Erfolge können nicht klein geredet werden. Die Kämpfe um Demokratie und für eine gerechte Verteilung des Wohlstands der Nationen, die Kämpfe für Menschenrechte einschließlich der Rechte von Frauen, Kindern und indigenas, die Kämpfe gegen Gewalt und Krieg – all diese müssen zur Kenntnis genommen werden als unschätzbare Beiträge auf dem Weg nach vorn. Wir müssen die außergewöhnliche und exponentielle Entwicklung der Produktivkräfte der letzten 120 Jahre durch die intellektuelle Arbeit der weltweiten wissenschaftlichen Gemeinschaft anerkennen. Die Anwendung dieses Wissens in der Produktion ist im Allgemeinen eine positive Kraft. Diese Zuwächse wurden jedoch von den Konzernen als »geistiges Eigentum« angeeignet, meist im Norden, aber auch zu einem kleinen Teil im Süden. Die Verteilung seiner Vorteile ist ungleich, innerhalb und zwischen den Ländern. Diese Ungleichheit muss beseitigt werden. Es muss anerkannt werden, dass ein gro- ßer Teil des Südens noch immer dabei ist, die Erfolge der Befreiungskämpfe zu konsolidieren. Die Verunglimpfung dieser Bemühungen als failed states oder »terroristische Staaten« ist fehlgeleitet und gefährlich. Wir dürfen nicht in diese Falle tappen. Hinsichtlich der Frage der Entwicklungszusammenarbeit lautet die vorherrschende Meinung im Norden, insbesondere unter den Linken, dass die entwickelten Länder eine Verpflichtung haben, den armen Ländern der Welt Entwicklungshilfe zukommen zu lassen. Dies ist nur aus einer bürgerlich-ethischen Sicht des Nordens zutreffend. Aus der Perspektive des Südens jedoch ist es zwingend erforderlich, dass wir Entwicklung als selbst definierten Prozess verstehen. »Hilfe« von außen ist oft ein Hindernis für wirkliche Entwicklung. Dies bedeutet nicht, dass es keine echte »solidarische Hilfe« geben kann – um gemeinsame Anliegen von Frieden und Gerechtigkeit voranzutreiben, sofern sie nicht an »Bedingungen« geknüpft ist wie etwa Good Governance sowie bestimmte vom Norden definierte makroökonomische Maßnahmen. Diese Art von »Hilfe« – an Bedingungen geknüpfte Entwicklungszusammenarbeit – ist abzulehnen. Die Länder des Südens müssen auf eigenen Füßen stehen und nicht nach Krücken aus dem Norden Ausschau halten. Dennoch könnten wir uns darauf verständigen, dass bestimmte Arten von »Unterstützung« (nicht »Entwicklungshilfe«) nützlich sind. Zum Beispiel

  • Nothilfe gegen die Auswirkungen von Naturkatastrophen.
  • Erleichterter Kauf oder Bereitstellung von Impfstoffen und Medikamenten, um weit verbreitete Krankheiten vorzubeugen und zu behandeln.
  • Aufbau der Fähigkeiten von schwächeren Ländern und Institutionen des Südens in den internationalen Gremien zu verhandeln, insbesondere der WTO (Welthandelsorganisation), WIPO (Weltorganisation für geistiges Eigentum), und den Vereinten Nationen und ähnlichen Agenturen wie der FAO (Welternährungsorganisation der UNO), ILO (Internationale Arbeitsorganisation), ITU (Internationale Fernmeldeunion), UNESCO (Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation), und den EPA-Verhandlungen (Wirtschaftspartnerschaftsabkommen) zwischen der EU und den AKP-Staaten (79 Länder in Afrika, Karibik und Pazifik).
  • Linderung von Strukturanpassungskosten, die armen Ländern auf dem Weg zur Handelsund Finanzliberalisierung auferlegt wurden.
  • Ausgleichskosten, falls eine solche erzwungene Liberalisierung zu Einkommensoder Beschäftigungsverlusten in den armen Ländern der Welt führt.
  • Ausgleichskosten, falls kleine Inselentwicklungsländer (SIDS) z.B. von den Folgen der Klimaveränderungen bedroht sind.
  • Unterstützung zur Erfüllung von Pflichten gemäß internationalen Abkommen oder Konventionen.

Die oben genannten Punkte sind nicht Teil der »Entwicklungszusammenarbeit«, sie werden am ehesten als humanitäre Hilfe bezeichnet oder solidarische Hilfe, Ausgleichsfinanzierung. Es besteht ein Bedarf an so genannten Global Public Goods (Globale Öffentliche Güter, GPGs). Nachfolgendes muss berücksichtigt werden, wenn es um die Modalitäten der Zusammenarbeit auf globaler Ebene geht:

  • Der Süden ist von Naturkatastrophen wie dem Tsunami stärker betroffen als der Norden, auch wenn der Anteil des Südens an der Destabilisierung der globalen Ökologie (zum Beispiel Klimaerwärmung) geringer ausfällt als derjenige des Nordens.
  • Viele Länder im Süden haben keine Kapazitäten oder Ressourcen, GPGs bereitzustellen.
  • Der Markt ist kein geeigneter Mechanismus, um GPGs bereitzustellen. Die Bereitstellung von National Public Goods (NPGs), im Unterschied zu den GPGs, muss den Entwicklungsländern selbst überlassen werden, sie sollten weder globalisiert noch privatisiert werden.

Vieles von dem, was auf globaler Ebene zutrifft, trifft auch auf das Süd-Süd-Verhältnis zu. Beispielsweise können die reicheren Länder im Süden den ärmeren Ländern im Süden humanitäre oder solidarische Hilfe zukommen lassen, solange sie sich nicht als »Geber« aufführen und keine Bedingungen daran geknüpft sind. Einige Bereiche, in denen stärkere Anstrengungen notwendig sind, sind z.B.:

  • Länder des Südens sollten dem Druck widerstehen, National Public Goods (NPGs) für globale Konzerne zugänglich zu machen, einschließlich der Konzerne des Südens. NPGs sind unter anderem die Bereitstellung von Wasser für Haushalte, Energie und Strom für nationale Firmen, Bildung auf allen Ebenen, indigenes Wissen und kulturelle Ausdrucksweisen.
  • Länder des Südens sollten dem Druck widerstehen, Land und Wälder für die Produktion von Exportpflanzen oder Agrartreibstoffen dem Nahrungsbedarf der Menschen zu entziehen. Dies geschieht aufgrund des Drucks, ein elitäres Konsummuster im Süden wie im Norden aufrecht zu erhalten, das nicht nachhaltig ist.
  • Instrumente bereit zu stellen, um echten Technologietransfer auf nichtkommerzieller Basis und außerhalb des Regimes von geistigem Eigentum zu ermöglichen.
  • Schaffung von Finanz- und Kreditinstitutionen des Südens (die Gründung der Bank des Südens ist beispielsweise ein Schritt in die richtige Richtung).
  • Dem System gegenseitiger Handelspräferenzen (GSTP) weiteren Auftrieb zu verleihen, das den Ländern des Südens ermöglicht, sich gegenseitig Vorzugsbehandlungen zu gewähren, ohne diese auf die Länder des Nordens erweitern zu müssen.
  • Entwicklung regionaler Märkte und Freihandelszonen außerhalb des Geltungsbereichs der nördlich dominierten Freihandelsabkommen (FTA), wie etwa dem Freihandelsabkommen amerikanischer Staaten und der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftlichen Zusammenarbeit (APEC).
  • Süd-Süd-Nachrichtenagenturen und Übertragungssysteme.
  • Süd-Süd-Austausch von Wissen und Fähigkeiten, um technologieintensive Produktionsanlagen aufzubauen.
  • Bewegungsfreiheit für die Menschen über Grenzen hinweg, einschließlich der Erleichterung von Visa-Bestimmungen.

Was sollte mit den institutionellen Hinterlassenschaften der Bretton-Woods-Institutionen geschehen – der Weltbank, dem IWF? Die illegitime und nicht repräsentative Gruppe der so genannten G20 Staaten (die im Grunde genommen die alte G7/8 plus einige ausgewählte Länder des Südens sind) versucht, diese Institutionen zu retten, indem sie Wege des Überlebens in der gegenwärtigen Krise sucht. Die fortschrittlichen Kräfte des Nordens sollten Druck auf die Entscheidungsträger in ihren Ländern ausüben, diese Institutionen nicht zu retten – das wäre wie eine Einladung an den Fuchs, ins Hühnerhaus zurückzukehren. Der Süden und alle fortschrittlichen Kräfte des Nordens müssen versuchen, alternative Finanzstrukturen zu schaffen, zunächst auf den nationalen und regionalen Ebenen. Es gibt ein horrendes Defizit der Global Governance der weltweiten Gesundheit und der Umwelt. Die unmittelbare Priorität liegt darauf, Wege und Mittel zu finden, die Ziele der UNFCCC (Konferenzen der UNOKlimarahmenkonvention) von Kyoto und Bali umzusetzen, in Vorbereitung auf die Klimakonferenz in Kopenhagen. Dies muss auf der Grundlage der folgenden Prinzipien geschehen:

  • Anerkennung des Klimas als globales öffentliches Gut;
  • gemeinsame, aber unterschiedliche Verantwortung und Fähigkeiten hinsichtlich des Klimawandels;
  • Einbezug der historischen Verantwortung der industrialisierten Länder für die Klimaerwärmung in alle Verhandlungen;
  • Primat der Vereinten Nationen, sowie
  • die Verpflichtung gegenüber den erweiterten Menschenrechten und Entwicklungszielen.

Die Gerechtigkeit verlangt, dass sich die Welt langfristig hin zu gleichen Pro-Kopf-Emissionen auf ökologisch nachhaltigem Niveau hin bewegt. Der Realismus erfordert, dass wir alle unsere Lebensstile ändern. Wenn alle Menschen den »westlichen Lebensstil« nachahmen würden, bräuchten wir viele weitere Planeten. Das Yasuni-Projekt in Ecuador, bei dem das Öl im Boden bleibt, ist eine ausgezeichnete Initiative. Die internationale Gemeinschaft sollte die Hälfte der Kosten an die Menschen in Ecuador bezahlen, damit sie das Öl nicht fördern. Es ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, wenn man bedenkt, dass der maßlose Ölverbrauch eine der wichtigsten Ursachen für die Klimaerwärmung ist.

Schlussfolgerung

Die Menschen sind die treibenden Kräfte der Veränderung: Menschen in Dörfern und Vorstädten, in denen die Mehrheit in den Ländern des Südens leben, und das heißt die Mehrzahl der Menschheit; soziale Bewegungen und Leiter von fortschrittlichen und basisorientierten Nichtregierungsorganisationen; akademische und soziale Aktivisten, die eine gerechtere und menschlichere Gesellschaft schaffen wollen. Viele von ihnen sind bereits engagiert, überlegen und erarbeiten alternative Wege zu menschlicher Entwicklung orientiert an Gerechtigkeit, Mitmenschlichkeit und Frieden. Ein Beispiel hierfür ist das ANSA-Projekt: ANSA steht für Alternativen zum Neoliberalismus im Südlichen Afrika, eine breite Bewegung, die von Gewerkschaftsgliederungen und fortschrittlichen Intellektuellen in der Region geleitet wird, eine Bewegung, die erst am Anfang steht, und unter anderem von der Rosa-Luxemburg-Stiftung auf der Grundlage von Prinzipien der Solidarität unterstützt wird. Wir müssen uns wieder das Recht nehmen, zu denken und zu planen. Über 30 Jahre haben wir das jenen Menschen und Institutionen überlassen, die die zivilisatorische Krise verursacht haben, die uns jetzt mit verschiedenen Gesichtern und Facetten anstarrt. Wir müssen uns das Verlorene zurück erkämpfen. Der Beitrag beruht auf einer Rede anlässlich der internationalen Konferenz »Linke Auswege aus der Krise – ökonomische und soziale Perspektiven«, ausgerichtet von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Fraktion Die Linke im Bundestag, am 20. März 2008 in Berlin.