Guter Kapitalismus?

Eine erste Position sieht in der kapitalistischen Produktionsweise als solcher gar kein Problem. So halten Sebastian Dullien, Hansjörg Herr und Christian Kellermann (2010) einen »guten Kapitalismus« für möglich, wenn er durch keynesianische Politik reguliert wird (vgl. Luxemburg 2/2010). Auch für Rainer Land (2010) impliziert die Kapitalverwertung als solche keine bestimmte Entwicklungsrichtung der Gesellschaft, vielmehr ist er der Meinung, dass ein »Teilhabekapitalismus« die Entwicklungsmöglichkeiten aller Individuen vergrößern kann. Während Dullien u.a. »derzeit« einfach keine Alternative zum Kapitalismus sehen und »die« Planwirtschaft als solche mit dem »real existierenden Sozialismus« für gescheitert halten (2010, 19), hält Land »Profitabilität« für »eine unhintergehbare Voraussetzung für Innovationen« (87). Demnach sei der Sozialismus, der auf die freie Entwicklung aller Individuen ziele, auch »kein zur Kapitalverwertung alternatives Gesellschaftsmodell« (88). »Der Widerspruch zwischen Kapitalismus, dem Prinzip der Selbstreferenz moderner Wirtschaftsentwicklung, und Sozialismus, so man darunter das Prinzip der freien und universellen Entwicklung der Individuen versteht, ist unaufhebbar und muss immer wieder neu ausgefochten und austariert werden.« (89) – Ziel könne nur ein »sozialer Ökokapitalismus« (86) bzw. eine »gesellschaftlich eingebettete Kapitalverwertungswirtschaft« sein (88f). Der Fordismus erscheint bei Land wie bei Dullien u.a. als frühere Variante des »guten Kapitalismus« bzw. »Teilhabekapitalismus« – seine negativen Seiten werden dabei ausgeblendet (vgl. Demirovic 2010, 11). Auch werden die systemimmanenten Widersprüche, die zur Erschöpfung der fordistischen Entwicklungsweise geführt haben, heruntergespielt oder verdrängt. Das Ende des Fordismus erscheint im Wesentlichen als Resultat der »Kräfteverhältnisse« bzw. politischer Fehlentscheidungen. Sabine Nuss (2010) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise jede politisch durchgesetzte Beschränkung der Kapitalverwertung immer wieder zur Disposition stellt. Es geht also nicht nur um die erneute Regulierung eines deregulierten Kapitalismus. Ziel sozialistischer Politik müsste vielmehr sein, über die zwanghafte gesellschaftliche Pendelbewegung von Deregulierung und Regulierung, von Einbettung und »Entbettung«, die den Kapitalismus kennzeichnet, hinauszugelangen.

SOZIALISMUS ALS GEMISCHTE WIRTSCHAFT?

Michael Brie und Dieter Klein (2010) gehen einen Schritt weiter, indem sie konzedieren, dass die Dominanz von Verwertungsinteressen sich zwangsläufig »auch in der Lebenswelt« durchsetzt, wenn »die Wirtschaft in ihrer Gesamtheit vor allem als Kapitalverwertungswirtschaft verfasst ist« (91). »Deshalb kann eine Kapitalverwertungswirtschaft nicht sozialistisch ausgerichtet werden. Die gute Absicht zerbricht an der Realität. Die Gegenbewegungen modifizieren die Tendenz, sind aber nicht in der Lage, sie dauerhaft umzukehren […] Eine bloß veränderte Einbettung reicht nicht« (91, 95). Brie und Klein »plädieren deshalb für eine solidarische Mehrsektorenwirtschaft«, deren Schwerpunkte in der sozialen Reproduktion, der Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen und der kulturellen Entwicklung liegen (93). An anderer Stelle formuliert Klein (2010, 7), die »ökonomische Grundstruktur« des demokratischen Sozialismus könne »durch eine solidarische Mischwirtschaft bestimmt sein, die einen starken öffentlichen Sektor, private Wirtschaft unter strenger Wettbewerbskontrolle und Formen genossenschaftlicher und solidarischer Wirtschaft umfasst. Sie würde sich im Rahmen indikativer Planung, gestaltender Struktur-, Wirtschafts- und Forschungspolitik und wirtschaftsdemokratischer Formen des Einflusses von Belegschaften, Gewerkschaften, VerbraucherInnen, Kommunen und sozialen Bewegungen von der betrieblichen bis zur EU-Ebene entwickeln.« Brie und Klein sind der Ansicht, der Sozialismus könne »zwar Kapitalverwertung nutzen, aber diese darf nicht die Wirtschaft insgesamt prägen« (2010, 91). »In einer Gesellschaft des modernen Sozialismus könnten Unternehmen in vielen Bereichen auch Kapitalverwertungsgesellschaften bleiben, aber nicht mehr dominant« (92; Herv. im Orig.). Bei diesem Konzept der gemischten Wirtschaft bleiben zwei wesentliche Fragen offen: Erstens ist unklar, wie die Veränderung der Funktionslogik privater Unternehmen erreicht werden soll. Was bedeutet es, »den Gewinninteressen der ökonomischen Akteure […] genügenden Raum zu lassen«, aber zugleich die »Kapitalverwertungsziele unter breiter gefasste unternehmerische Ziele« unterzuordnen? Zweitens ist unklar, wie in einer »solidarischen Mehrsektorenwirtschaft« die unterschiedlichen Funktionslogiken der verschiedenen Sektoren so miteinander vereinbart werden sollen, dass die Kapitalverwertungslogik auf gesellschaftlicher Ebene untergeordnet wird bzw. bleibt. Im Grunde haben wir ja bereits eine gemischte Wirtschaft. Die juristische Eigentumsform der Unternehmen ist jedoch von untergeordneter Bedeutung, solange diese für einen Markt produzieren und Lohnarbeit anwenden. Staatliche Unternehmen oder Genossenschaften heben unter diesen Bedingungen das private Eigentum nur innerhalb der durch die kapitalistische Produktionsweise bestimmten Grenzen auf. Auch quantitative Verschiebungen zwischen den Sektoren ändern daran nicht notwendigerweise etwas. In Schweden lag die Staatsquote zeitweise bei über 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und damit nahezu doppelt so hoch wie in Japan, Australien oder der Schweiz. In Ländern wie Italien oder Frankreich waren in der fordistischen Ära weite Teile der Industrie und des Bankensystems verstaatlicht, in Frankreich existierte zudem eine indikative Planung. Doch stand dies keineswegs im Gegensatz zu den Anforderungen der Kapitalakkumulation, sondern war vielmehr funktional für sie. Die von Brie und Klein geforderte indikative Planung und gestaltende Struktur-, Wirtschafts- und Forschungspolitik sowie Ausdehnung des öffentlichen und genossenschaftlichen Eigentums ändern nicht notwendigerweise etwas an der Dominanz der kapitalistischen Produktionsweise, wie die historische Erfahrung lehrt. Es stellt sich also die Frage, ob die von Brie und Klein zu Recht an Land geübte Kritik nicht auch auf ihr eigenes Konzept des Sozialismus zurückfällt.

SOZIALISTISCHE MARKTWIRTSCHAFT?

Brie und Klein teilen anscheinend die von Verfechtern marktsozialistischer Konzepte vertretene Auffassung, dass es keine sozialistische Alternative ohne den Markt jenseits der im »real existierenden Sozialismus« praktizierten Zentralverwaltungswirtschaft geben kann. Vertreter des Marktsozialismus gestehen durchaus zu, dass es Nachteile des Marktes gibt, doch seien diese aufgrund seiner Vorteile in Kauf zu nehmen. Joachim Bischoff hat diese marktsozialistische Variante des neoliberalen Postulats there is no alternative (Margaret Thatcher) so formuliert: »Der Mangel marktförmiger Allokation der gesellschaftlichen Ressourcen liegt darin, dass sich erst nach der Produktion entscheidet, ob das Produkt einen Gebrauchswert hat und gesellschaftlich durchschnittlichen Produktivitätsbedingungen entspricht. Mithin können sich die Arbeitsresultate ganzer Produktionszweige bei der Veränderung von Arbeitsprozessen und Bedürfnisstrukturen als unnütz erweisen. Dieser Mangel muss bewusst in Kauf genommen werden, will man nicht in autoritäre Formen der Diktatur über die Bedürfnisse verfallen.« (1991, 44) Der Markt soll also Entscheidungsfreiheit und die Verwirklichung der individuellen Bedürfnisse garantieren können – im Unterschied zur zentralen Planwirtschaft. Dagegen kann zum einen eingewendet werden, dass auf dem Markt nur die zahlungsfähige Nachfrage zur Geltung kommt. Zum anderen kann immer nur aus dem ausgewählt werden, was bereits produziert wurde. Die Masse der Konsumenten kann die Produktion selbst in keiner Weise beeinflussen, wie Bischoff ja selbst andeutet. Der Markt gilt den Befürwortern der sozialistischen Marktwirtschaft zudem als Garant für Innovationen und für effiziente Produktion. Damit erkennen die Marktsozialisten im Prinzip die Argumente von Ludwig von Mises (1920, 1922), Friedrich August von Hayek (2004) und anderen liberalen Kritikern des Sozialismus an. Demnach sei eine effiziente Allokation von Ressourcen in der Planwirtschaft nicht möglich, da es keine freie Preisbildung gebe; die zentralen Planbehörden maßten sich ein Wissen an, über das sie nicht verfügen könnten; der Wettbewerb sei ein notwendiges Entdeckungsverfahren für Tatsachen, die ansonsten unbekannt bleiben würden. Doch es ist ein Mythos, dass »der« Markt als solcher zu Innovationen und zu einer besonders effizienten Produktion führt. Märkte haben Jahrtausende in den Nischen und an den Rändern der antiken und der feudalen Gemeinwesen existiert, ohne dass sie zu einer besonderen Innovationsdynamik und Steigerung der Produktivkräfte geführt hätten. Es ist nicht »der Markt«, der Innovationen und eine effiziente Produktion garantiert, sondern es ist, wenn überhaupt, die Logik der Kapitalverwertung. Erst mit der Verallgemeinerung des Lohnverhältnisses wurde auch die Warenproduktion verallgemeinert und die besondere Dynamik der Produktivkraftentwicklung ausgelöst, die für den Kapitalismus charakteristisch ist. Es ist ein Irrtum, zu glauben, man könne zwischen dem Markt einerseits und dem Kapital andererseits trennen sowie die »positiven« Eigenschaften der kapitalistischen Produktionsweise dem Markt, die negativen aber dem Kapital zuschreiben (vgl. Marx, MEW 42, 916). Wenn aber der Markt nicht nur – wie vor dem Kapitalismus – in Nischen existieren soll, sondern als bedeutende Allokationsinstanz für die gesellschaftliche Arbeit fungieren soll, so ist er ohne das Kapital und die Lohnarbeit nicht zu haben. »Markt« heißt dann aber auch: Möglichkeit und Notwendigkeit von Krisen, Arbeitslosigkeit, Druck zur Verlängerung der Arbeitszeit und Senkung der Löhne, Quälerei und Vereinseitigung der Arbeit, Naturzerstörung und blinde, planlose Evolution.1 Zweifellos hat die kapitalistische Konkurrenz zu einer enormen Entwicklung der Produktivkräfte geführt, schon Marx hat dies als zivilisatorische Leistung der kapitalistischen Produktionsweise anerkannt. Gleichwohl sind die Kriterien für die Durchsetzung von Innovationen und für Ressourceneinsparungen unter kapitalistischen Bedingungen relativ eng: Innovationen werden nur dann eingeführt, wenn sie die (erwartete) Profitabilität des Kapitals steigern. So werden Maschinen nicht in jedem Fall eingeführt, obwohl sie Arbeit einsparen könnten, sondern nur dann, wenn die erwarteten Einsparungen an Löhnen die zusätzlichen Kosten für die Maschine übersteigen. Da der Sozialismus nicht zuletzt auf eine uneingeschränkte Ergonomie und auf die Steigerung der freien Zeit zielt, ergibt sich für Prozessinnovationen ein viel größeres Anwendungsfeld als unter den Bedingungen der Kapitalverwertung. Ähnliches gilt für Einsparungen an Produktionsmitteln: Vom Standpunkt der Kapitalverwertung geht es nicht darum, per se ressourcenschonend zu wirtschaften, sondern Ressourceneinsparungen sind nur dann relevant, wenn sie als Kostensenkungen zu Buche schlagen.

DIE MARXSCHE ALTERNATIVE

Marx und Engels haben zwar nicht viel über die zukünftige Alternative zur kapitalistischen Produktionsweise geschrieben, aber die notwendigen Grundzüge jener ergeben sich aus der Kritik an dieser. Die Überwindung von kapitalistischer Ausbeutung und Klassenherrschaft setzt voraus, dass deren Grundlage, das Privateigentum an Produktionsmitteln, abgeschafft wird und dass sich die gesellschaftlichen Individuen die Gesamtheit der Produktionsmittel aneignen (vgl. MEW 3, 67f). In Das Kapital fordert Marx die Leser an einer Stelle auf, sich einen »Verein freier Menschen« vorzustellen, »die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewusst als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben« (MEW 23, 92). Die »gesellschaftlich planmäßige Verteilung« der Arbeitszeit würde dann »die richtige Proportion der verschiednen Arbeitsfunktionen zu den verschiednen Bedürfnissen« regeln (93). Wie kann man sich die »Selbstregierung der Produzenten« (MEW 17, 339) konkret vorstellen? Die Ansatzpunkte für eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die die kapitalistische Produktionsweise überwindet, wurden historisch zum einen in der Verstaatlichung der Produktionsmittel und zum anderen in der Herausbildung von Produktionsgenossenschaften gesehen. Die Verstaatlichung ist nicht identisch mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, sie kann lediglich deren Voraussetzungen schaffen. Entscheidend ist der Klassencharakter des Staates, der formell zum Eigentümer der Produktionsmittel wird. Die Verstaatlichung der wesentlichen Produktionsmittel kann in Verbindung mit der Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse zumindest eine planmäßige Produktion im gesellschaftlichen Maßstab ermöglichen. Wie die »reelle Subsumtion« des Arbeiters unter die Arbeitsmittel, die hierarchische Arbeitsorganisation aufgebrochen werden kann, bleibt dabei offen. Friedrich Engels hielt die hierarchische Organisation sogar für eine unvermeidliche und unaufhebbare Folge der Großindustrie (vgl. MEW 18, 306f). Marx dagegen glaubte, dass die Disziplin »überflüssig wird in einem Gesellschaftszustand, wo die Arbeiter für ihre eigne Rechnung arbeiten« (MEW 25, 93). Die mit der kapitalistischen Arbeitsorganisation verbundene Hierarchie erweist sich bereits heute zunehmend als Hemmschuh der weiteren Entwicklung der Produktivkräfte. Moderne Managementmethoden setzen alles daran, die Kreativität der »Mitarbeiter« freizusetzen, Hierarchien flach zu halten – und verstricken sich dabei doch notwendig in Widersprüche, weil sie zugleich kapitalistische Kontrolle sicherstellen wollen. Die Vergesellschaftung auf dem Boden des Kapitalismus hat – in Gestalt der Aktiengesellschaften – bereits eine Trennung zwischen dem formellen Kapitaleigentum und der tatsächlichen Verfügungsgewalt herbeigeführt. »Es ist daher nutzlos geworden, dass diese Arbeit der Oberleitung vom Kapitalisten ausgeübt werde [...]. Die Kooperativfabriken liefern den Beweis, dass der Kapitalist als Funktionär der Produktion ebenso überflüssig geworden, wie er selbst, in seiner höchsten Ausbildung, den Großgrundbesitzer überflüssig findet.« (MEW 25, 400) Dementsprechend geht es bei der sozialistisch-kommunistischen Vergesellschaftung nicht nur um einen Kampf gegen das formelle Privateigentum an Produktionsmitteln, sondern um die reale Aneignung der Produktionsmittel durch die Arbeiter, den Kampf gegen ihre Unterordnung im Arbeitsprozess. Marx sah die Bedeutung der ersten Produktionsgenossenschaften darin, dass sie beweisen, »dass Produktion auf großer Stufenleiter und im Einklang mit dem Fortschritt moderner Wissenschaft vorgehen kann ohne die Existenz einer Klasse von Meistern (masters), die eine Klasse von ›Händen‹ anwendet« (MEW 16, 11). Die Form der Genossenschaft oder Kooperative alleine kann jedoch die Produzenten nicht auf gesellschaftlicher Ebene zusammenschließen. Die Genossenschaften bleiben dem Markt und der Konkurrenz unterworfen, darin finden auch die aktuellen Ansätze »solidarischer Ökonomie« ihre Grenze. Der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ist innerhalb der Genossenschaften nur in der Form aufgehoben, »dass die Arbeiter als Assoziation ihr eigner Kapitalist sind, d.h. die Produktionsmittel zur Verwertung ihrer eignen Arbeit verwenden« (MEW 25, 456). Während die Verstaatlichung also keine Antwort auf das Problem der Unterordnung der Arbeiter im Arbeitsprozess gibt, reproduziert die Genossenschaft die Lohnarbeit und die Mehrwertproduktion, da sie auf einer verstreuten Aneignung der Produktionsmittel beruht und die Produzenten durch den Markt voneinander trennt. Die jeweiligen Mängel von Verstaatlichung und Genossenschaftswesen sollten nach Ansicht von Marx und Engels durch deren Kombination in Verbindung mit der Übernahme der politischen Macht durch die Arbeiter aufgehoben werden. In Der Bürgerkrieg in Frankreich definiert Marx den Kommunismus als verallgemeinerte »genossenschaftliche Produktion«, wobei »die Gesamtheit der Genossenschaften die nationale Produktion nach einem gemeinsamen Plan regeln« (MEW 17, 343). Das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln sollte gewährleisten, dass »die Sonderinteressen der Genossenschaft, gegenüber der Gesellschaft im ganzen, sich nicht festsetzen können« (MEW 36, 426). Andererseits sollte die Verwandlung des Staates in einen absterbenden Staat, d.h. die Selbstverwaltung der Produzenten auf gesellschaftlicher Ebene, die Radikalisierung der Demokratie, verhindern, dass sich Sonderinteressen des Staates bzw. der Staatsdiener gegenüber der Gesellschaft festsetzen können. Die gemeinschaftliche Planung der Produktion gemäß den Bedürfnissen der assoziierten Produzenten und Konsumenten ermöglicht es, die Produkte unmittelbar an die Konsumenten zu verteilen. Die Produzenten produzieren nicht für den Markt. »Innerhalb der genossenschaftlichen, auf Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründeten Gesellschaft tauschen die Produzenten ihre Produkte nicht aus; ebenso wenig erscheint hier die auf Produkte verwandte Arbeit als Wert dieser Produkte, als eine von ihnen besessene sachliche Eigenschaft, da jetzt, im Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft, die individuellen Arbeiten nicht mehr auf einem Umweg, sondern unmittelbar als Bestandteile der Gesamtarbeit existieren.« (MEW 19, 19f) Es gibt also in dieser Produktionsweise keine Preise, kein Geld, keinen Markt, keinen Austausch. Leider gab es historisch nur wenige Bemühungen, diese Überlegungen von Marx weiter zu konkretisieren, die von Marx und anderen formulierten Probleme der Übergangsgesellschaft anzugehen (vgl. MEW 19, 18ff). Zu erinnern ist aber z.B. an die Konzepte zur Sozialisierung der Produktion, die im Kontext der Novemberrevolution und der Rätebewegung in Deutschland entstanden, so das »reine Rätesystem« der Linkssozialisten Richard Müller und Ernst Däumig (vgl. Arnold 1985, 184ff; Hoffrogge 2008, 108ff, oder die Schriften zur Sozialisierung von Karl Korsch 1919 und Otto Neurath 1919, 1920, 1925 sowie Neurath/ Schumann 1919). Auch in jüngerer Zeit gab es Versuche, an Konzepte der Rätedemokratie und der demokratischen Planwirtschaft anzuknüpfen (Albert 2006; Demirovic 2009).

DER »REAL EXISTIERENDE SOZIALISMUS«: EINE PLANLOSE WIRTSCHAFT

Im »real existierenden Sozialismus« setzte sich eine Praxis durch, die mit den Marxschen Vorstellungen relativ wenig zu tun hatte. Die zentralistische Planung erfolgte vollkommen undemokratisch über die Köpfe der Produzenten und Konsumenten hinweg. Im Grunde war der »real existierende Sozialismus« gleichwohl eine »planlose Wirtschaft« (vgl. Ticktin et al. 1981; Hoessli 1989), denn die zentralistische Koordination ökonomischer Prozesse an der Oberfläche verdeckte und reproduzierte die untergründige Atomisierung der Produzenten. Versuche, den »real existierenden Sozialismus« zu reformieren, zielten meist darauf, mehr Marktelemente in das System der Zentralverwaltungswirtschaft zu integrieren, anstatt das System zu demokratisieren und den Rätegedanken wieder aufzugreifen. Diese Versuche sind bekanntlich gescheitert. Zweifellos wird jeder neue Versuch des Übergangs zum Sozialismus in einer mehr oder minder langen Übergangsphase von der Koexistenz verschiedener Produktionsformen geprägt sein. Gleichwohl kann die gemischte Wirtschaft oder die sozialistische Marktwirtschaft aufgrund ihrer immanenten Widersprüche nicht das letzte Ziel einer sozialistischen Transformation sein. Ein weiter reichendes Ziel wäre eine weitgehende Sozialisierung der Produktion auf der Basis einer rätedemokratisch organisierten Planung. Dies schließt im Übrigen nicht aus, dass sozialistische Politik zwischen kurz-, mittel- und langfristigen Zielen zu unterscheiden hat und dass kurzfristig konkrete Reformprojekte im Kontext der laufenden Klassenkämpfe formuliert werden müssen, um die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in eine progressive Richtung zu verschieben.2  

LITERATUR

Albert, Michael, 2006: Parecon. Leben nach dem Kapitalismus, Frankfurt/M Arnold, Volker, 1985: Rätebewegung und Rätetheorien in der Novemberrevolution, Hamburg Bischoff, Joachim, 1991: Moderner Kapitalismus und Reformpolitik, in: Frank Deppe u.a., Eckpunkte moderner Kapitalismuskritik, Hamburg Brie, Michael, und Dieter Klein, 2010: Sozialistische Kapitalverwertungsmaschine? Das Konzept des »modernen Sozialismus« neu betrachtet, in: Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 2/2010, 90–5 Creydt, Meinhard, 2001: Zur Kritik des »Marktsozialismus«, in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung 46, 96–107 Götsch, Katharina, 2009: Marktsozialismus – Die Linke auf der Suche nach einer neuen Theorie, in: Prokla 155, 2, 229–47 Demirovic, Alex, 2009: Rätedemokratie oder das Ende der Politik, in: Prokla 155, 181–206 Ders.: Jenseits von Gut und Böse, in: Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 2/2010, 6–17 Dullien, Sebastian, Hansjörg Herr, und Christian Kellermann, 2010: Guter Kapitalismus? in: Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 2/2010, 18–27 Hayek, Friedrich August von, 2004: Wissenschaft und Sozialismus, in: Manfred E. Streit (Hg.), Aufsätze zur Sozialismuskritik, Tübingen Hoessli, Andreas, 1989: Planlose Wirtschaft. Krisenzyklus und Reformmodelle in Polen, Hamburg Hoffrogge, Ralf, 2008: Richard Müller – der Mann hinter der Novemberrevolution, Berlin Klein, Dieter, 2010: Eine zweite große Transformation und die Linke. Kontrovers. Beiträge zur politischen Bildung 01/2010, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin Korsch, Karl, 1919: Was ist Sozialisierung? Ein Programm des praktischen Sozialismus, in: ders., Rätebewegung und Klassenkampf. Schriften zur Praxis der Arbeiterbewegung 1919–1923, Gesamtausgabe, Bd. 2, Frankfurt/M 1980, 97–133 Land, Rainer, 2010: Moderner Sozialismus als Evolutionstheorie, in: Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 2/2010, 82–9 Mises, Ludwig, 1920: Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 47, 86–121 Ders., 1922: Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus, Jena Neurath, Otto, 1919: Durch die Kriegswirtschaft zur Naturalwirtschaft, München Ders., 1920: Betriebsräte, Fachräte, Kontrollrat und die Vorbereitung der Vollsozialisierung, Berlin Ders., 1925: Wirtschaftsplan und Naturalrechnung. Von der sozialistischen Lebensordnung und vom kommenden Menschen, Berlin Ders., und Wolfgang Schumann, 1919: Können wir heute sozialisieren? Leipzig Nuss, Sabine, 2010: Gebrauchsanleitungs-Kapitalismus, in: Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 2/2010, 28–33 Ticktin, Hillel, u.a.: Planlose Wirtschaft. Zum Charakter der sowjetischen Gesellschaft, Hamburg 1981

Anmerkungen

1 Die von Marx ausgeführte Kritik der Warenproduktion kann hier nicht weiter dargestellt werden. Für eine konzise Kritik des Marktsozialismus vgl. Creydt 2001 sowie Götsch 2009. # 2 Eine Reihe von sinnvollen Vorschlägen für »Einstiegsprojekte« einer sozialistischen Transformation findet sich bei Klein (2010, 28f).