Am 11.März 2011, 14.46 Uhr japanischer Zeit (6.46 MEZ) ereignete sich etwa 80 Kilometer vor der japanischen Pazifikküste der Tôhoku-Region in zehn Kilometer Tiefe ein Erdbeben, dessen Stärke mit 9.0 angegeben wurde. Das ist die vielfache Stärke der Erdbebenkatastrophe (des »Kôbe-Erdbebens«) von 1995. Diese Wucht soll die Hauptinsel Honshû um mehr als zwei Meter gen Osten sowie die Erdachse um 16 cm verschoben haben. Seither werden ständig Nachbeben in dieser wie auch in der Kantô-Region (Tokio und die sechs umliegenden Präfekturen) verzeichnet.
Das Beben verursachte die zweite Katastrophe: den Tsunami. Zwar wurde vor diesen Flutwellen gewarnt, doch haben sie aufgrund ihrer Höhen von stellenweise über zehn Metern (Kyodo-News berichtet von bis zu 38 Metern1) zu verheerenden Zerstörungen geführt.
Staatliche Institutionen wie die National Policy Agency (NPA) oder das Bildungsministerium MEXT aktualisieren seither ständig die zu beklagenden Opfer. Am 25. April 2011 wurden sie folgendermaßen beziffert: 14358 Tote, 11889 Vermisste und 5 314 Verwundete. Der materielle Schaden beläuft sich auf über 90000 völlig oder teilweise zerstörte Gebäude (darunter fast 7200 Schulen, 1940 soziale und Kultureinrichtungen, 18 Forschungseinrichtungen), über 400 Kulturgüter (darunter vier Nationalschätze, 130 wichtige nationale Kulturgüter), über 3 700 zerstörte Straßen, 71 Brücken. Mit Matsushima ist eine der »drei schönsten Landschaften« Japans unweit von Sendai weitgehend zerstört. Noch immer sind laut NPA über 130904 Menschen, die fast alles verloren haben, in 2518 Notunterkünften untergebracht.
Beide Katastrophen gehören zu den schlimmsten der Geschichte dieses Landes und der pazifischen Region, und sie sind wohl auch am detailliertesten und am meisten in Bildern festgehalten und wieder und wieder in die Welt hinausgesandt worden. Das macht uns beinahe zu hilflosen Voyeuren. Dazu Tawada Yôko, die in Berlin lebt: »Foto- und Videoaufnahmen aus Katastrophengebieten bringen uns in eine unmittelbare Nähe zum Opfer. Gleichzeitig bleibt eine unüberwindbare Distanz zum Geschehen. Die Betrachter können dem Opfer nicht einmal ein Glas Wasser geben. Dadurch können die Bilder bei den Menschen, die eigentlich helfen wollen, das Gefühl der Hilflosigkeit verstärken. Was kann man machen, um sich der lähmenden Wirkung der Bilder zu entziehen?« (Christ&Welt, 24.März 2011)
Noch am gleichen Tag nahm die dritte Katastrophe ihren Lauf. Zwar erklärte der japanische Premierminister Kan Naoto am 11.März, die Lage in den AKW sei normal, die Anlagen seien automatisch heruntergefahren worden. Doch schon kurze Zeit später wurden schwere Störfälle vor allem in den Reaktoren des AKW Fukushima 1 gemeldet. Die schwerste Atomkatastrophe in Japan seit Hiroshima und Nagasaki ist längst in den Mittelpunkt der Medienberichterstattung gerückt und absorbiert enorme Kräfte und Mittel, die so dringend für die Hilfe für die genannten Opfer nötig wären. Diese Katastrophe wird zu weiteren Opfern führen – keiner weiß, wie viele. Daher ist auch weniger von einer »Naturkatastrophe« (tensai) als vielmehr von einer menschengemachten, einer sozialen Katastrophe (jinsai) zu sprechen; präziser noch – von einer Katastrophe, die der unheiligen Allianz dreier Faktoren geschuldet ist: der Profitgier von Unternehmen wie Tokyo Electrical Power Company (Tepco, einem der weltweit größten Energiekonzerne), einer konfusen politischen Führung und einer mit diesen beiden Akteuren verfilzten Bürokratie wie der japanischen Atomsicherheitsagentur (Nuclear and Industrial Safety Agency NISA; Genshiryoku anzen hoan-in). »Die Regierung müsse führen, Tepco handeln, die Nisa kontrollieren«, kritisiert nun ausgerechnet Kônô Tarô, der stellvertretende Generalsekretär der Liberaldemokratischen Partei (LDP) – also jener Partei, die in Japan in ihrer fast 50jährigen Alleinherrschaft dieses System mit geschaffen und getragen hat« (Zeit Online vom 31. März 2011).
Politik- und sozialwissenschaftlich geschulte Japanologen merken hier vermutlich auf. Die geschilderte Trinität kann als Ausdruck dessen gesehen werden, was in der Nachkriegsgeschichte Japans als »Eisernes Dreieck« bezeichnet wird: die schier unlösbare Verflochtenheit von großen Unternehmen, Politik und Staat/ Bürokratie als Ursache für eine ganze Reihe von Korruptionsskandalen. Vielleicht haben diese in Japan eine spezifische Ausprägung, sind aber nichts spezifisch Japanisches. Doch sind die Folgen dieses Geflechts jetzt besonders dramatisch und tiefgreifend. Es kann von einer Zäsur nicht nur für Japan, sondern für die ganze Welt gesprochen werden, was – in Anlehnung an den 11.September 2001 – sprachlich bereits seinen Ausdruck in der Formel »3/11« gefunden hat. Im Folgenden möchte ich aus einer eher kulturwissenschaftlichen Perspektive einige Gedanken formulieren, die mich – angesichts der medialen Repräsentation der Dreifachkatastrophe im deutschen wie im japanischen Kontext – bewegen.
Japan-Bilder
Betrachtet man verschiedene Printmedien, die »Japan« in den letzten Wochen Schwerpunkte widmeten, wird klar, dass Schwarz-Weiß-Malereien zu kurz greifen. Einerseits ruft der Stern (Nr. 13 vom 24.März 2011) bereits auf seiner Titelseite wohl alle Klischees und Stereotype in Sachen »Japan-Bilder« oder »Japan/erTheorien« (nihon/jin-ron) auf, die zumindest in den ersten Wochen nach dem 11. März immer wieder bemüht wurden – und die andererseits von Japanspezialisten in Die Zeit, Frankfurter Rundschau oder FAZ zumindest in Frage gestellt wurden. Der Künstler Christoph Niemann entwarf ein Cover für den New Yorker (28.März 2011), »Dark Spring«, auf dem die symbolträchtige Kirschblüte in einer Weise stilisiert wurde, die einen schmunzeln und zugleich das Blut in den Adern gefrieren lässt: Die drei rosafarbenen Blätter jeder der insgesamt elf Blüten (auf schwarzem Grund) erinnern an Radioaktivitätszeichen.
Das Stern-Cover dagegen ist eine Collage aus dem Kopf einer Geisha, Hokusais berühmter »Welle«, einem Samurai in prächtigem Gewand (und gezücktem Kurzschwert) und einem Rettungsteam der Tokioter Feuerwehr – das Ganze untertitelt mit dem Text »Stolz, diszipliniert, leidensfähig, selbstlos. Das unglaubliche Volk. Wie Kultur und Katastrophen die Mentalität der Japaner prägen«. Geisha und Hokusai stehen wohl für Schönheit und Harmonie mit der Natur; und wenn letztere sich wild und grausam gebärdet, nehmen es »die Japaner« eben hin: shikata ga nai, da kann man nichts machen! Was ist daran spezifisch »japanisch«? Der japanische Philosoph Mishima Kenichi hat in der FR Online vom 21.März gefragt, ob die vor einigen Jahren vom Hochwasser betroffenen Bürger Sachsens nicht ebenso diszipliniert und hilfsbereit gewesen seien. »Teutonische Organisation« oder »germanisches Durchhaltevermögen« habe er für ebenso töricht gehalten wie allgemein die »Langlebigkeit der aus dem schrecklichen 19.Jahrhundert stammenden Selbst- und Fremdzuschreibungen«. Was bezwecken die ethnischen Zuschreibungen? Auch in Japan stößt die Leidensfähigkeit an Grenzen, wie das Beispiel eines Gemüsebauers aus der Präfektur Fukushima zeigt. Er hat sich am 24. März das Leben genommen, nachdem die Regierung eine Einschränkung der Belieferung von vermutlich verstrahlten Produkten etwa an Schulen verordnet hatte, was den 64-Jährigen existenziell traf (Asahi shinbun am 29. März).
Beispiel zwei handelt von jenen Arbeitern, die – zumeist am Ende der AKW-Hierarchien stehend – in die Fukushima1 Atomhölle geschickt werden. Alsbald tauchte in verschiedenen Medien das Kamikaze-Gleichnis auf, auch der Stern bezieht sich auf diese angeblichen Helden: Unter dem Titel »Ein Volk mit Haltung« wird eine Geschichte erzählt, die von den »göttlichen Winden« (kamikaze bzw. shinpû) im 13.Jahrhundert über die Kamikaze-Flieger im ZweitenWeltkrieg bis zu den Feuerwehr-Leuten als »Rettern der Nation« reicht (44–54). Gegen diese Imaginationen regt sich zwar Unmut unter manchen Japankennern, doch treffen sie dann einen realen Kern, wenn der in vielen Erinnerungen, pop-kulturellen und geschichtsrevisionistischen Erzählungen reproduzierte Kamikaze-Mythos entzaubert und die Ergebnisse der Geschichtswissenschaft zur Kenntnis genommen werden. Diese Männer sind in den allermeisten Fällen keine Freiwilligen gewesen, sondern in einer vom Kriegsverlauf her gesehen aussichtslosen Situation in den Tod geschickt worden. Strukturell (!) gibt es manche Ähnlichkeit zu den AKW-Arbeitern. Einer von ihnen sagte: »Wenn ich den Einsatz ablehne, würde ich in eine schlechte Lage geraten«; ganz abgesehen von den Drohungen seitens des Wirtschafts- und Industrieministers Kaieda Banri gegenüber Feuerwehrleuten: Wer den Anweisungen nicht Folge leiste, würde bestraft.2