Am 31.12.2011 verkündete Jonathan Goodluck, Präsident Nigerias, die sofortige Aufhebung der staatlichen Subventionen für Treibstoff. Mit den Einnahmen solle die Korruption in der Ölindustrie – der größten und strukturell korruptesten Industrie des Landes – bekämpft werden . Was beschwichtigend gedacht war, brachte den Großteil der nigerianischen Bevölkerung nur noch mehr auf. Waren nicht schon Milliarden Dollar seit Jahrzehnten in die Taschen der transnationalen Konzerne, von Regierungsbeamten und nigerianischen kleinen Eliten geflossen, von denen doch bitte die Korruptionsbekämpfung bezahlt werden könne? Schon am nächsten Tag protestierten Zehntausende in allen Großstädten gegen das, was effektiv einer massiven Preiserhöhung von Transportkosten und damit von (Grund-)Lebensmitteln und Dienstleitungen aller Art entsprach und gleichzeitig als erneuter Versuch der Umverteilung von unten nach oben – in die Eliten Nigerias – verstanden wurde. Die städtischen Proteste – schnell benannt auch als “Occupy Nigeria” – wurden zu einer Machtprobe mit der Regierung, als die wichtigsten Gewerkschaften des Landes sich an den Massenprotesten beteiligten und zum Generalstreik aufriefen. Die Androhung, auch die Ölplattformen lahmzulegen – als eins der größten (Roh-)Öl exportierenden Länder Afrikas, ist Nigerias Elite vom Export des Öls vollständig abhängig – zwang die Regierung, zumindest einen Teil der Kürzung zurückzunehmen. Diese Auseinandersetzung ist nicht nur deswegen bemerkenswert, da das Ende der Benzinsubventionen just mit einem Westafrikabesuch von Christine Lagarde, der IWF Chefin einherging. Bemerkenswert ist das quantitative und qualitative Ausmaß der Proteste. Zivilgesellschaftliche Gruppen aus dem Bürger- und Menschenrechtsbereich, der Korruptionsbekämpfung wie auch aus den Organisationen, die gegen die Ausbeutung durch Ölkonzerne und lokale Eliten wie auch gegen die desaströsen ökologischen Folgen der fünfzigjährigen Ölwirtschaft ankämpfen, probten gemeinsam mit Gewerkschaften und städtischen Bevölkerungen den Aufstand. Mit dem Beitrag von Sokari Ekine, der im Moment des Konflikts – am Tag vier des Generalstreiks – geschrieben wurde, wollen wir ein Schlaglicht auf die Komplexität von “Energiekämpfen” werfen. Kämpfe, durch die sich Spaltungslinien ziehen und die doch gleichzeitig zu Knotenpunkten verschiedener gesellschaftlicher Auseinandersetzungen – um Demokratie, Produktionsweise und Verteilung – werden können, wenn die Spaltungen bearbeitet werden. “Auch wenn die kleinen Feuer gelöscht sind, es gibt noch viel Wut im Land”, so der nigerianische Dichter und Aktivist Nnimmo Bassey am Ende dieser Auseinandersetzung. Wir werden am Thema bleiben.

Corinna Genschel für die Redaktion

Die Nigerianische Revolution hat begonnen

12.01.2012. Es ist der neunte Tag des nigerianischen Aufstands, und die bloße Energie und das Tempo der Stimmen, die im Sekundenabstand zu Hunderten über den Bildschirm twittern, ist atemberaubend. Der Generalstreik ist immer noch voll im Gang, und bisher hat die Arbeiterbewegung zur allgemeinen Erleichterung, vielleicht auch zur allgemeinen Überraschung, nicht kapituliert, trotz aller Gerüchte über Angebote von hohen Bestechungssummen.

In einer der für mich ermutigendsten und bedeutsamsten Aktionen hat die Ölarbeitergewerkschaft PENGASSAN ihre Unterstützung für den unbegrenzten Streik erklärt und alle Förderplattformen angewiesen, sich auf eine völlige Einstellung des Betriebs vorzubereiten: »Alle Nigerianer sollten wissen, dass die Frage der Benzinsubventionen nur eine Spitze des Eisbergs in einer Unmenge von Problemen ist, die dringend gelöst werden müssen. Wir rufen auf diesem Wege alle Nigerianer dazu auf, nicht nachzulassen, sondern auf den gemeinsamen Willen des Volkes zu vertrauen, uns von dieser Misswirtschaft zu befreien.«

Die Benzinversorgung ist der Funke, der das Feuer entfachte, aber es ging nicht nur um die Benzinversorgung. Die Abschaffung der Subventionen ist eine schreckliche Belastung für die Nigerianer, für die große Mehrheit, die damit weder materiell noch emotional fertig wird.

Tatsache ist, dass Nigeria Millionen Dollar mit dem Verkauf von Rohöl verdient. Das Öl wird exportiert, und weil unsere Raffinerien ständig kaputt sind, müssen wir dann Benzin importieren. Eine Clique privater Händler hat dafür die Lizenzen bekommen. Sie lügen, sie betrügen, sie stehlen und sie werden dafür subventioniert, und wir alle müssen dafür bezahlen. Hinzu kommen die Milliarden Dollar, die von Politikern und Regierungsbeamten verschwendet und unterschlagen wurden, von Leuten, die ein Land regieren, das seit fünfzig Jahren nicht dazu in der Lage ist, sein eigenes Öl zu verarbeiten. Zu dieser Verschwendung gehören auch die schamlosen Personalausgaben von Politikern, die sich, wie wir erfahren, nicht einmal ihre Lebensmittel kaufen müssen.

Ich bin keine Revolutionshistorikerin, aber ich möchte hier zusammenfassen, was bisher geschehen ist, und anhand einiger Fakten und Analysen Fragen aufwerfen.

Einheit

Eines der Hauptnarrative des Protests ist »Einheit«. Nigerianer aller Religionen und Ethnizitäten versammeln sich. Abuja und Lagos waren zwar die Epizentren, aber die Demonstrationen fanden im gesamten Südwesten und in einigen Großstädten des Nordens statt, in weit geringerem Maße auch in einzelnen Teilen des Nigerdeltas.

Nigeria ist ein Militärstaat und war dies auch während der größten Zeit seines Bestehens gewesen. Militarisierung erzeugt eine Kultur der Gewalt, die vom Staat wie auch von den Bürgern zur Lösung der Probleme eingesetzt wird. Wenn die Regierung ihre militaristische Reaktion des »Schießbefehls« praktiziert und manche Bundesstaaten Ausgangssperren verhängen, kann Gewalt zu einem Dauerzustand werden. Als nächstes wird die Regierung im ganzen Land den Ausnahmezustand verhängen, um gegen das nigerianische Volk die Armee einsetzen zu können.

Von der Polizei wurden bisher 25 Menschen getötet und Hunderte verletzt, unter anderem bei blutigen Polizeiübergriffen in Kano, wo Christen und Muslime gemeinsam demonstriert hatten. In Minna im Bundesstaat Niger steckten randalierende Demonstranten den Amtssitz des Gouverneurs und andere Gebäude in Brand; ein Polizeibeamter wurde getötet. Es kursieren Geschichten, dass manche Demonstranten dafür bezahlt werden, die Regierung zu unterstützen, während andere von regierungsfeindlichen Eliten oder früheren Politikern dafür bezahlt werden, gegen die Regierung zu demonstrieren.

Vor dem Hintergrund der Demonstrationen und der ethnisch-religiösen Einheit gab es eine Reihe weiterer schlimmer und gewaltträchtiger Ereignisse. Dazu gehört das immer dreistere Auftreten der Boko-Haram-Sekte, die nach den abscheulichen Bombenanschlägen auf Kirchen am Weihnachtstag weiter ungestraft tötet und Blut vergießt. Man hat sich immer gefragt, wer die Boko-Haram-Leute eigentlich sind und ob sie nicht von Eliten aus dem Norden unterstützt werden. Wenn man der Erklärung von Goodluck Jonathan glaubt, wäre es durchaus möglich, dass es letztlich darum geht, ihn als Präsidenten zu stürzen. Also ein verkappter Staatsstreich.

Wir dürfen aber nicht übersehen, dass Jonathan diese Enthüllung während eines Aufstands publik gemacht hat. Will er damit Sympathien gewinnen oder uns warnen, dass es noch schlimmer kommen könnte? Wir wissen, dass Leute aus dem Norden den Südosten verlassen und dass gleichzeitig Leute aus dem Süden den Norden verlassen. Man kann nicht umhin, die Parallelen zu den Jahren 1966/67 zu bemerken und zu den Ereignissen, die damals zum Bürgerkrieg führten.

Ambivalente Unterstützung im Nigerdelta

Die Frage bleibt auch, warum es relativ wenige Streiks und Demonstrationen im Nigerdelta und in den dortigen Igbo-Staaten gab. Es ist ja nicht so, dass die Abschaffung der Benzinsubventionen im Nigerdelta populärer war als anderswo. Aber: »Labour wurde gekauft«, erklärt der Umweltaktivist Fidelis Allen in Bezug auf den Nigerian Labour Congress (den Nigerianischen Gewerkschaftsbund) und zitiert die Worte eines Ogoni-Landsmanns: »Sie sind eingeknickt. Wir haben im Bundesstaat Rivers als Zivilgesellschaft geglaubt, wir könnten mit Labour zusammenarbeiten, aber sie sind in Rivers eingeknickt. Aufgrund der Abschaffung der Ölsubventionen machen sich schon zunehmende Risse im Verhältnis zwischen der Zivilgesellschaft, dem Nigerian Labour Congress und dem Trade Union Congress bemerkbar, was die Kampfstrategien betrifft. In Lagos, Kaduna, Abuja und anderen Städten gab es riesige Demonstrationen, aber nicht in Port Harcourt in Rivers, wo NLC und TUC jetzt beschuldigt werden, sie hätten sich kaufen lassen.«

Noch komplizierter wird die Lage im Nigerdelta dadurch, dass der mächtige und inzwischen etablierte Ijaw Youth Council, der seine Hochburg im Bundesstaat Bayelsa hat, bisher keine offizielle Erklärung zur Abschaffung der Benzinsubventionen oder zu den landesweiten Streiks abgab. Der IYC wurde 1998 in der Stadt Kaiama gegründet, in einer Periode starker Militarisierung der Kernstaaten der Deltaregion – mit der Zerstörung der Stadt Odi durch die nigerianische Armee, der Ausplünderung von Kaiama und anderen Angriffen auf Zivilisten.

Das Agieren des IYC steht jedenfalls im Widerspruch zu Erklärungen anderer Jugendorganisationen der Deltaregion, zum Beispiel der Niger Delta Youth Coalition, die nicht nur die Streiks unterstützt, sondern auch damit gedroht hat, die Ölförderung zu sabotieren. »Wir sagen Nein zur Abschaffung der Benzinsubventionen, weil die Nigerianer nicht an dieser Entscheidung beteiligt waren. Die wirtschaftliche Lage ist schlecht. Wir haben bisher tausend Naira [knapp 5 Euro] für die Fahrt von Warri in unsere Dörfer in der Bucht bezahlt, aber jetzt zahlen wir zehntausend. Man kann nicht sagen, dass die Abschaffung der Benzinsubventionen den Armen hilft, die Armen haben darunter zu leiden. […] Wir geben Präsident Jonathan 24 Stunden Zeit, den Benzinpreis wieder auf 65 Naira [ca. 30 Cent] zu senken, und wenn er das nicht tut, gehen wir wieder in unsere Gemeinschaften zurück, und wenn wir in unsere Gemeinschaften zurückgehen, werden wir dafür sorgen, dass alle Ölförderanlagen in der Bucht nicht mehr funktionieren.«

Interessanterweise hat eines der Gründungsmitglieder des IYC, Isaac Osukoa, Direktor von Social Action Nigeria, zum Ausdruck gebracht, wie enttäuscht und abgestoßen die Bewohner des Nigerdeltas nach seiner Meinung vom jetzigen Präsidenten sind. Viele Nigerianer hätten anfangs geglaubt, dass Goodluck Jonathan »einen erfrischenden Wandel gegenüber der Vergangenheit darstellt«, aber dann festgestellt, »dass er nicht der Wandel ist, den das Land braucht. Jonathan ist eigentlich der schlechteste Präsident, den die herrschende Klasse je in Nigeria eingesetzt hat.«

Eine weitere Gruppe, die sich bisher nicht einordnen lässt, sind die früheren Aktivisten aus den verschiedenen Zweigen der »Bewegung für die Emanzipation des Nigerdeltas« (MEND) und der »Freiwilligenarmee der Nigerdelta-Bevölkerung« (NDPVF), die vielfach enge Gefolgsleute Jonathans, der Bundesstaats-Gouverneure und einflussreicher Ölhändler sind. Die Führungshierarchie unter den Aktivisten befindet sich selbst wieder in einem Konflikt mit der Basis, die sich vielfach betrogen und im Stich gelassen fühlt. Da sie nicht in ihre Heimat zurückgehen können, wo sie man sie entweder fürchtet oder verstoßen hat, und weil sie trotz der Ausbildung, die sie erhalten haben, keine Arbeit finden, bleiben sie desillusionierte junge Männer und Frauen.

Schlussfolgerungen

Deutlich wird, dass die Occupy-Nigeria-Bewegung so, wie sie ist, über keine wirklich sozioökonomische oder geschlechterpolitische Analyse verfügt (kein Wunder in diesen Männerzirkeln). Es gab keine Diskussion über die Folgen der massiven Preissteigerungen für Frauen und Kinder; bei den Demonstrationen selbst, bei dem, was außerhalb der Versammlungen und Plakate passiert, gibt es Probleme wie Sexismus, Homophobie und Hexenjagden auf Frauen und Mädchen. Es ist unklar, ob überhaupt Frauenorganisationen offiziell an den Demonstrationen beteiligt oder in den Gewerkschaften vertreten sind, auch wenn sich ein paar prominente Frauen den Demonstrationen angeschlossen oder sie durch Erklärungen unterstützt haben. Aber es gab kaum eine Bewegung von Frauen.

Wir sollten uns daran erinnern, dass Nigeria eine reiche Geschichte sozialer Proteste hat. Sie wurde zum großen Teil auch von Frauen geschrieben, und wir können aus dieser Geschichte viel lernen, um Bildung, Erziehung und sozialen Protest zusammenzubringen.

Es gab auch keine Diskussion über die massiven Ungleichheiten von arm und reich. Bei der Organisation der Occupy-Bewegung standen junge, aufstrebende Upper-Class-Unternehmer, NGO-Funktionäre, Prominente und Künstler im Vordergrund, die arbeitenden und beschäftigungslosen Massen schlossen sich an. In Lagos treten jetzt schon Spannungen zwischen den dortigen Area Boys, den Einheimischen und »ihren« Musikern einerseits und den vielfach aus wohlhabenderen Stadtteilen kommenden Occupy-Demonstranten andererseits auf. Werden die Eliten der Bewegung die Kontrolle über sie behalten? Was passiert, wenn die Subventionsentscheidung zurückgenommen wird? Werden sie dann eine kohärentere Diskussion entwickeln, die Fragen wie Korruption, Governance, soziale und ökonomische Gerechtigkeit mit einbezieht? Und wird soziales Medien-Engagement dafür ausreichend sein?

Die Frage der Einheit ist vielschichtig. Ich glaube, dass die Mehrheit des Landes nicht nur hinter den Streiks, sondern auch hinter der Occupy-Bewegung steht, die den Status quo ernsthaft in Frage stellt und mit der Herrschaft der Kleptokratie ein für allemal Schluss machen will. Es gibt aber noch andere, kleine, aber äußerst mächtige Interessengruppen, die für oder gegen die Regierung arbeiten: Boko Haram und wer auch immer dahintersteht, Jonathan und vielleicht manche der früheren Nigerdelta-Aktivisten, Senatoren und Gouverneure, die um ihre Macht und um ihren Reichtum fürchten, die Gewerkschaftsbewegung und insbesondere die Ölarbeiter – wie sehr kann man auf sie zählen? – oder die Ölhandelsmafia. Und es gibt natürlich den religiösen Faktor, die Kumpanei zwischen einem allmächtigen Staat und einer Reihe äußerst einflussreicher religiöser Institutionen.

In Nigeria geht es um Öl und nichts anderes als Öl. Vergessen wir nicht, dass die multinationalen Ölkonzerne schon jetzt gewaltige Verluste erwarten und dass es zu einer völligen Stillegung des gesamten Sektors kommen kann. Und was ist am Ende dieser Ölspur mit den USA und anderen Importeuren von nigerianischem Rohöl?

Gekürzte und redaktionell bearbeitete Fassung des Beitrags ” See, the Nigerian revolution has begun”, erschienen bei pambazouka.org, 565; pambazuka.org/en/category/features/79007 . Aus dem Englischen von Thomas Laugstien