Essen ist politisch. Unter diesem Motto demonstrierten am 20. Januar 33 000 Menschen in Berlin gegen die Agrarindustrie und die Agrarpolitik der Bundesregierung. Es waren deutlich mehr als im Vorjahr, und es waren vor allem mehr junge Leute und Familien mit Kindern dabei. Seit acht Jahren finden die Demonstrationen alljährlich zur »Grünen Woche« im Januar statt, unter dem Motto »Wir haben Agrarindustrie satt«. Und das bei Wind und Wetter. Mit 160 Traktoren beteiligten sich dieses Jahr so viele Landwirte1 wie noch nie. Auch sie haben eine Agrarpolitik satt, die sie zu den Sündenböcken der Nation macht und ihnen immer häufiger die Existenzgrundlage nimmt.

Umweltschützer, Tierschützer, Bauern, Verbraucher – das sind keine natürlichen Verbündeten. Umweltschützer sehen Bauern gerne als Glyphosatspritzer und Wasserverschmutzer, Tierschützer halten sie für Tierquäler, Bauern wiederum betrachten die Umwelt- und Tierschützer oft als städtische Spinner und werfen den Verbrauchern vor, Umweltschutz und gutes Essen zum Geiz-ist-geil-Preis zu wollen. Solche Klischees und Vorurteile halten sich immer noch, aber sie lassen nach. Die Demos gegen die Agrarindustrie bringen seit vielen Jahren diese unterschiedlichen Milieus zusammen und das gegenseitige Verständnis wächst langsam, aber sicher. Denn allen ist klar: Allein erreichen wir nichts. Städtische Verbraucher und Umweltschützer erkennen: Bäuerliche Betriebe können die gewünschten Qualitätsanforderungen nur erfüllen, wenn sie nicht auf den Kosten sitzen bleiben – und immer mehr Landwirte haben den Glauben an die »Wachse-oder-weiche-Ideologie« verloren und wollen Klasse statt Masse produzieren, nicht zuletzt, weil man damit wieder mehr verdient.

Es ist durchaus nicht einfach, dieses Bündnis zusammenzuhalten, und es gibt genug Themen, die kontrovers sind. Schon allein die Frage, was man eigentlich genau unter Agrarindustrie oder Massentierhaltung versteht, ist schwierig zu beantworten. Durch die oft existenzbedrohende Marktlage und die vielen Skandale vor allem in der Tierhaltung liegen die Nerven vieler Bauern blank. Sie spüren zwar den wirtschaftlichen Druck einer verfehlten Agrarpolitik, die Regierung und Bauernverband weiter propagieren, aber es ist auch offensichtlich, dass nur eine Minderheit im »Wir haben es satt«–Bündnis Verbündete sieht. Auf viele wirken die Demos so, als seien sie gegen »die Bauern« gerichtet anstatt gegen die herrschende Agrarpolitik.

Dass Veganer gemeinsam mit Tierhaltern für eine andere Landwirtschaftspolitik demonstrieren, ist auch keine Selbstverständlichkeit. Dennoch ist dieses Bündnis stärker denn je, weil offensichtlich ist, dass es die richtigen Antworten auf die Krise der heutigen Land- und Ernährungswirtschaft hat. Wir spüren es: Aussitzen wird nicht mehr lange funktionieren, weder ökologisch noch ökonomisch. Wenn wir ehrlich sind, wissen wir alle: Früher oder später müssen unsere Forderungen gehört werden, spätestens wenn die Politik alles andere ausprobiert hat und nicht mehr anders kann. Denn der Grat, auf dem die Industrielandwirtschaft balanciert, wird zunehmend schmaler. Auf mehr als der Hälfte der Gensojafelder in den USA wachsen inzwischen Unkräuter, die gegen alle Pestizide, einschließlich Glyphosat, resistent sind und wie früher nur noch von Hand ausgerissen werden können. Auch der Ackerfuchsschwanz auf deutschen Äckern ist inzwischen auf dem besten Weg, gegen sämtliche gängige Pestizide resistent zu werden. Der Eiweißgehalt des brasilianischen Gensojas sinkt seit Jahren, weil die Knöllchenbakterien im Boden durch die massiven Pestizideinsätze geschädigt werden. Die afrikanische Schweinepest rückt in Richtung Deutschland vor. Wer Fleischmärkte globalisiert, globalisiert eben auch Schweinepest und Vogelgrippe. Gegen aggressive Nematodenwürmer ist in norddeutschen Kartoffelmonokulturen kaum noch ein Kraut gewachsen.

In Norddeutschland herrscht Güllenotstand, das Grundwasser ist so nitratverseucht, dass Deutschland bald Strafzahlungen an die EU wegen permanenter Vertragsverletzung leisten muss. Das Insekten- und Bienensterben zeigt, dass die Industrielandwirtschaft ganze Ökosysteme plattmacht. Der Strom solcher Hiobsbotschaften reißt nicht ab und macht immer mehr Menschen klar: So kann es nicht weitergehen. Solche Probleme wären schon eine enorme Herausforderung für eine wirtschaftlich gesunde Branche, aber das ist die heutige Landwirtschaft nicht. Der Preisdruck nimmt weiter zu, aus vielerlei Gründen: Überproduktion, extreme Marktmacht der Discounter, Marktöffnungen durch Freihandelsabkommen. Wenn vor diesem Hintergrund Bundesregierung und Agrarindustrie so weitermachen wollen wie bisher, wirkt das auf immer mehr Menschen nur noch anachronistisch – und zwar auf dem Land ebenso wie in der Stadt. Auf dem Land ist die Krise deutlicher zu spüren: Die Landflucht, die Perspektivlosigkeit vieler ländlicher Regionen ist eben auch eine Konsequenz aus einer Landwirtschaft, die immer weniger Arbeitsplätze schafft und immer stärker von globalisierten Marktkräften bestimmt wird. Auch das Lebensmittelhandwerk, ob Bäckerei, Fleischerei oder Einzelhandel, ist längst industriell durchrationalisiert und bietet allenfalls noch prekäre Arbeitsplätze. Aber die boomende Nachfrage nach regionalen Lebensmitteln zeigt, dass die auf politischen Druck hin globalisierte und industrialisierte Nahrungsmittelwirtschaft auch in den Städten auf immer mehr Misstrauen stößt.

Initiativen für eine andere Landwirtschaft und Esskultur schießen deshalb wie Pilze aus dem Boden. Regionale Labels boomen, die Biobranche feiert Umsatzrekorde. »Solidarische Landwirtschaft« bringt Bauern und Verbraucher direkt zusammen. Unternehmen und Betriebe steigen öffentlichkeitswirksam aus Glyphosat aus. Auch politisch passiert an der Basis viel. Selbst in einem agrarpolitischen Notstandsgebiet wie Brandenburg bekamein Volksbegehren gegen die Massentierhaltung locker die notwendigen Unterschriften zusammen. Versuche des Umsteuerns zu einer zukunftsfähigen bäuerlichen Agri-Kultur befinden sich aber im Wettlauf mit den sich stetig verschlechternden politischen Rahmenbedingungen. Wenn die Politik endlich umsteuert, muss es auch noch Landwirte geben, die die Agrarindustrie wieder ersetzen.

Wir brauchen eine Landwirtschaft in der Region für die Region. Weltmärkte für Smartphones mögen sinnvoll sein, Weltmärkte für Milch sind Schwachsinn. Deshalb müssen wir die Globalisierung der Agrarmärkte wieder zurückdrehen, die Preisbildungsmechanismen von den Weltmärkten auf regionale Märkte zurückverlagern. Solchen Ansichten stimmen heute breite Mehrheiten der Bevölkerung zu. Dennoch verhandelt die EU-Kommission über 20 weitere Freihandelsabkommen, die alle eines vorsehen: die weitere Öffnung und Globalisierung der Agrarmärkte. Erklärtes Ziel ist die weitere Senkung der Erzeugerpreise, und das heißt im Klartext die weitere Industrialisierung der Landwirtschaft, denn mit diesem Preisdruck können bäuerliche Erzeuger überall auf der Welt nicht mithalten. All dies geschieht mit einstimmiger Rückendeckung aller EU-Mitgliedstaaten, egal welche Parteien in den Ländern regieren, alle wollen sie mehr Fleischimporte aus Südamerika und Australien, mehr Exporte von Milch und verarbeiteten Lebensmitteln aus der EU in alle Welt. Ein regelrechter Preiskrieg, ein Roulette Spiel mit der Zukunft der Landwirtschaft, anachronistisch, aber politisch gewollt. All dies ist eine Kampfansage an die bäuerliche und regionale Landwirtschaft, nicht nur in den betroffenen »Partnerländern«, sondern auch in Europa. Wer hat eigentlich etwas davon, wenn das geplante EU-Japan-Abkommen die kleinbäuerliche Landwirtschaft in Japan plattmacht, die bisher noch in der Region für die Region produziert? Wer hat etwas davon, dass industrielle EU-Exporte die bäuerliche Landwirtschaft afrikanischer Länder zerstören und Migrationsursachen schaffen? Wer hat etwas davon, dass südamerikanische Agrarbarone künftig in großem Stil Rindfleisch in die EU exportieren dürfen und den heimischen Erzeugern den Markt kaputtmachen?

Die tiefe Kluft zwischen politischer Klasse und Gesellschaft in allen westlichen Ländern zeigt sich in der Landwirtschaftspolitik besonders deutlich. Der Widerstand gegen TTIP fing bekanntlich auch mit dem Essen an. Wie der Kapitän eines untergehenden Schiffes winkte Noch-Landwirtschaftsminister Christian Schmidt die Verlängerung der Glyphosat-Zulassung in Brüssel durch. Beifall bekommt er dafür selbst von seiner eigenen Klientel nicht mehr. Die Menschen wollen weniger Gift, weniger tote Bienen, weniger Hochleistungskühe und Massentierhaltung, aber dafür gesundes und gutes Essen aus der Region zu einem fairen Preis. Für politisch wirksame Mehrheiten muss dies verbunden werden mit einer Bewegung für neue wirtschaftliche Perspektiven des ländlichen Raums. Wir brauchen eine grundlegende Umorientierung unserer Handels- und Außenwirtschaftspolitik. Der globale Konkurrenzkampf aller gegen alle ist ein Irrweg. Die Verwerfungen sehen wir überall. Wir müssen unsere Exportrekorde nicht erhöhen, sondern runterfahren, Arbeitsplätze durch mehr regionale Wirtschaftsstrukturen schaffen. Das heißt auch, wir müssen einige Märkte wieder regionalisieren, Globalisierung zurückfahren, per Freihandelsabkommen erzwungene Marktöffnungen zurücknehmen, statt immer mehr Existenzen zu zerstören. Die Landwirtschaft wird der erste Sektor sein, in dem die heutige Überglobalisierung auf ein vernünftiges Maß zurückgedrängt wird. Denn auf Dauer kann man in einer Demokratie nicht das Gegenteil von dem machen, was die Menschen wollen.

1 Auf ausdrücklichen Wunsch des Autors wird in diesem Artikel auf die übliche gendergerechte Schreibweise verzichtet.

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