Die Auseinandersetzung um Horst Seehofers radikalen Abschottungskurs war ein Beispiel dafür, wie die Migrationsdebatte nicht geführt werden sollte. Für die meisten Außenstehenden waren verschiedene Punkte überdeutlich: nämlich, dass dieser Unions-interne Streit zur Lösung der realen Probleme nahezu nichts beiträgt; es in erster Linie um eine machtpolitische Auseinandersetzung geht, bei der die Migrationsfrage bestenfalls als Vehikel dient; die Debatte weitgehend taktisch motiviert ist, es also vor allem um Signale an unterschiedliche Zielgruppen geht, denen man gefallen will; dabei außerdem unverantwortlich mit der Frage umgegangen wird, was diese Signale insgesamt in der Gesellschaft bewirken; und man schließlich nicht weiß, für welche Perspektive die Union die Menschen eigentlich gewinnen möchte. Aus all den genannten Gründen hat diese Auseinandersetzung die CDU/CSU politisch geschwächt. Unglücklicher Weise trifft ein Teil der genannten Beschreibungen auch auf die LINKE zu, was einer der Gründe sein mag, warum das derzeitige politische Vakuum links von der CDU eher von den Grünen gefüllt wird. Ihnen traut man – bei aller Kritik an einzelnen Positionen – mehr Sachbezug und Kompetenz in Sachen Migration zu. Die Auseinandersetzungen um den Entwurf eines linken Einwanderungsgesetzes (vgl. Kreck/Schindler in LuXemburg 1/2017) zeigen, wie schwer sich die LINKE damit tut, Gestaltungsvorschläge für das derzeit zentrale Politikfeld der Einwanderungsgesellschaft zu machen. Die Schwierigkeiten der Partei, diese Debatte sinnvoll zu führen, sind jedoch nicht partei-spezifisch, sondern durchaus symptomatisch für die gesellschaftliche Linke. Ergebnisse und Kontroversen der Migrationsforschung spielen kaum eine Rolle, stattdessen gibt es jede Menge Projektionen. Gerne wird mit einer Überzeichnung der Gegenpositionen gearbeitet, der Pinsel ist relativ grob. Vor allem aber wird die eigentliche Frage, die dringend gesellschaftlich geklärt werden muss, gar nicht diskutiert: Ist die Transformation zu einer modernen, offenen Einwanderungsgesellschaft notwendig und erstrebenswert? Und wenn ja, was muss dafür getan werden? Die Massenflucht aus dem syrischen Bürgerkrieg ist nur der Anlass für die aktuelle gesellschaftliche Diskussion. Tatsächlich geht es darum, wie die europäischen Gesellschaften sich zur langfristigen Zuwanderung vor allem aus afrikanischen Ländern verhalten. Diese Klärung lässt sich aber nicht in den alten Kategorien des Asylrechts finden, sie geht weit darüber hinaus. Wie so oft, gewinnt man viel, wenn man sich zunächst auf die Tatsachen einlässt – und darauf, was es über globale Migration, über Probleme und Chancen von Einwanderungsgesellschaften zu wissen gibt, einschließlich der unklaren Aspekte und der kontroversen Einschätzungen. Im Folgenden sollen daher zunächst einige dieser Tatsachen rekapituliert werden, die eine linke Migrationspolitik zur Kenntnis nehmen muss.
Migration gab es immer
Migration war zu allen Zeiten ein wichtiges Element der Weltgesellschaft. Alle Menschen sind Migranten, es ist nur unterschiedlich lange her. Ohne Migration säßen wir immer noch in Olduvai in Ostafrika, wie vor 100 000 Jahren. Migration beginnt nicht mit dem Kapitalismus, und sie wird nicht mit ihm enden. Globale Migration hat in den letzten Jahrzehnten nicht zugenommen. Sie ist relativ stabil. Gut ein Promille der Weltbevölkerung, etwa 7 Millionen Menschen, verlässt jedes Jahr den Staat der eigenen Geburt. Etwa drei Prozent der Weltbevölkerung, ca. 215 Millionen Menschen, wohnen in einem anderen Staat als dem, in dem sie geboren wurden. Verändert haben sich die Wege: Globale Migration verteilt sich heute auf eine größere Zahl von Herkunftsländern und konzentriert sich auf weniger Zielländer als beispielsweise 1960. Auch hat der Anteil an Migration zwischen Kontinenten zugenommen, ist aber immer noch deutlich kleiner als der innerhalb der Kontinente. Etwa ein Prozent der Weltbevölkerung, ca. 68 Millionen, ist derzeit auf der Flucht oder wurde vertrieben, teilweise schon seit Langem. Die meisten von ihnen, ca. 40 Millionen, sind Binnenflüchtlinge innerhalb ihres Heimatlandes. 25 Millionen befinden sich außerhalb ihres Herkunftslandes. 3 Millionen sind Asylsuchende. Die Zahl der Menschen auf der Flucht nimmt zwar absolut zu, aber nicht unbedingt in Relation zur wachsenden Weltbevölkerung. Nach den Weltkriegen oder in früheren historischen Phasen waren relativ gesehen ähnlich viele Menschen auf der Flucht wie heute. Der größte Teil der globalen Mobilität ist jedoch nicht der unmittelbaren Flucht vor Krieg, Bürgerkrieg, Hungersnöten und politischer Verfolgung geschuldet. Die meisten fliehen nicht vor unmittelbarer Gefahr, sondern machen sich auf den Weg, weil sie zu Hause keine hinreichende Perspektive für sich oder für ihre Kinder und Enkel sehen. Diese „Perspektivmigration“ ist gerichtet, sie findet zwischen abgebenden und aufnehmenden Regionen und Staaten statt. Das liegt daran, dass es keine ökonomisch und sozial homogene Weltgesellschaft gibt – das wird allerdings auch im Sozialismus nicht der Fall sein. Entwicklung ist immer ungleichzeitig. Auch bei der Perspektivmigration erfolgt der größte Teil als Binnenmigration, also innerhalb eines Staates, meistens in Form einer Land-Stadt-Wanderung. Dazu gibt es keine globalen Zahlen. Die grenzüberschreitende Perspektivmigration ist der kleinere Teil, aber dennoch deutlich größer als die Fluchtzuwanderung. Insgesamt betrug im Zeitraum zwischen 2000 und 2010 die jährliche Nettozuwanderung nach Europa (also Einwanderung minus Auswanderung) ca. 1,7 Millionen Menschen. Zwischen 2010 und 2015 war sie auf 800 000 Menschen jährlich gefallen. Die meisten Menschen migrieren möglichst in nahe gelegene Staaten, und in solche, die ökonomisch eine Stufe über der Entwicklung ihres Heimatstaats liegen. Das ist rational, denn hier gibt es mehr ökonomische Möglichkeiten, ohne dass die mitgebrachten Qualifikationen vollständig entwertet sind. Ein erheblicher Teil kehrt jedoch wieder zurück ins Heimatland, weil eine erfolgreiche Migration ökonomisches und Bildungskapital anhäuft, das sich zu Hause effektiver einsetzen lässt; oder weil man es nicht schafft Fuß zu fassen; oder weil es nicht so war wie erhofft. Transnationale Netzwerke, die sich im Rahmen dieser zirkulären Migration bilden, tragen positiv dazu bei, dass Migrant*innen sich gegenseitig unterstützen, Erfahrungen austauschen, Konflikte besser bewältigen und realistische Erwartungen entwickeln.
Das umgekehrte U
Fast alle heutigen Industrie- und Schwellenländer weltweit haben in ihrer Vergangenheit ein universales Migrationsmuster durchlaufen: das „umgekehrte U“. Beim Übergang von der agrarischen zur industriellen Gesellschaft nimmt die Zahl derer, die auswandern mit steigendem Einkommen zu. Ab einem bestimmten Punkt fällt die Migrationsrate wieder. Dieser „Mobilitäts-Übergang“ ist empirisch belegt und weitgehend anerkannt. Eine wesentliche Ursache ist der ebenfalls belegte demografische Übergang in allen Entwicklungsgesellschaften. Zunächst fällt die Todesrate, die Geburtenrate folgt verzögert nach. Dadurch entsteht eine Phase, in der die Bevölkerung stark wächst, schneller als der Arbeitsmarkt. Das war auch in Europa so, wo im späten 19. Jahrhundert große Teile der Bevölkerung nach Übersee auswanderten. Tendenziell erfolgt der demografische Übergang heute erheblich schneller als im 19. Jahrhundert. Dagegen befinden sich alle hochentwickelten Industriestaaten heute in einem Stadium, in dem die Geburtenrate niedriger ist als die Todesrate, sodass die Bevölkerung ohne Zuwanderung stark schrumpfen würde. Ob dies ein erneuter demografischer Übergang ist, der irgendwann durch eine umfassende Vereinbarkeit von Familie und Arbeitsmarkt ebenfalls ausgeglichen wird, ist bislang noch nicht empirisch fassbar. Tatsache ist: Für beide Ländergruppen, die schnell wachsenden Entwicklungsgesellschaften und die schrumpfenden Industrieländer, wären die Probleme in der Übergangsphase ohne Migration kaum zu lösen. Freie Migration ist keine Utopie, sie hat historisch immer wieder stattgefunden. Auch hier zeigt sich ein Muster. In konkreten historischen Fällen (relativ) freier Migration zwischen Entwicklungsländern und Industriestaaten – zwischen Mexiko und den USA in den 1940ern, im britischen Commonwealth bis in die 1960er Jahre oder seit 1986 zwischen den USA und den mikronesischen Staaten („Compact of Free Association“) – gingen die Migrationszahlen nach der Liberalisierung des Einwanderungsrechts hoch, stabilisierten sich aber auf einem bestimmten Niveau. Für die linke Debatte ergeben sich daraus einige wichtige Folgerungen. „Fluchtursachen bekämpfen“ ist eine richtige Forderung, aber kein Mittel gegen Migration. Positive ökonomische Entwicklung und verbesserter Lebensstandard in Entwicklungsländern führen auf längere Zeit nicht zu weniger, sondern zu mehr Migration. Diese nimmt erst ab, wenn die betreffenden Entwicklungsländer keine mehr sind, was ein Prozess von einigen Jahrzehnten ist. Ebenso gilt: Ein Europa mit freier Einwanderungsmöglichkeit hätte deutlich mehr Zuwanderung als heute – aber keine unbegrenzte Zuwanderung. Selbst in Syrien, wo praktisch kein Stein mehr auf dem anderen steht, haben drei Viertel der Syrer ihr Land nicht verlassen. In Entwicklungsgesellschaften, denen freie Perspektivmigration möglich war, verließen über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten höchstens fünf Prozent der Bevölkerung ihr Land, in Ausnahmefällen ein Zehntel, meistens sehr viel weniger. Es kommen nie „alle“, aber es kommen bei durchlässigen Grenzen durchaus mehr.
Die Rückständigkeit des Migrationsrechts
Das internationale Recht in Sachen Asyl, Flucht und Migration enthält viele positive Elemente, ist insgesamt jedoch ein unfertiges und widersprüchliches Konstrukt. Bereits die französische Verfassung von 1793 kannte das moderne Asylrecht; das Recht, in einem anderen Land Schutz vor politischer Verfolgung im Heimatland zu suchen. In der Bundesrepublik wurde das Recht auf Asyl 1949 im Grundgesetz verankert (im selben Jahr auch in der Verfassung der DDR). Im Entwurf sollte es nur für Deutsche gelten; durch fraktionsübergreifende Initiative wurde diese Einschränkung aber gekippt. Die Bundesrepublik setzte damit die internationale Erklärung der Menschenrechte von 1948 um, die jedem das Recht zuspricht, in einem anderen Staat „vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen“ und das Recht, seinen eigenen Staat zu verlassen, wie auch auf eigenen Wunsch dorthin zurückzukehren. Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 verbietet grundsätzlich die Ausweisung von Flüchtlingen sowie deren Diskriminierung im Aufnahmeland. Der „Schutz vor Verfolgung“ bezog sich zunächst nur auf die politische Verfolgung aufgrund persönlicher Aktivitäten. Seit 1967 erstreckt sich der Flüchtlingsstatus auch auf die Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe, Religion, Nationalität oder sozialen Gruppe. Sexuelle Orientierung und sexuelle Gewalt („sexual and gender-based violence“) wurden nach und nach ebenfalls als Fluchtgründe anerkannt. Diese Ausweitungen wurden auch in Deutschland und der EU nachvollzogen. Die Konvention gilt als bindend, es gibt aber keine Sanktionen gegen Staaten, die sie nicht einhalten. Vor allem aber regelt die Konvention nur die Rechte von Flüchtlingen, die sich bereits im Aufnahmeland befinden. Sie enthält kein Recht, ein Land seiner Wahl zu betreten. Das schafft die paradoxe Situation: Man muss es schaffen irgendwie reinzukommen, bevor diese Rechte (auf Asyl, auf Flüchtlingsstatus, auf Schutz vor Abschiebung) greifen können. Weniger als ein Prozent derer, über deren Asylantrag 2017 in Deutschland entschieden wurde, bekamen Asyl aufgrund politischer Verfolgung gemäß § 16a GG. 20 Prozent erhielten Flüchtlingsstatus gemäß der Genfer Konvention, und 23 Prozent konnten bleiben, weil in ihrem Herkunftsland Folter, Todesstrafe oder Krieg herrscht (subsidiärer Schutz) oder weil aus anderen Gründen eine Abschiebung unzulässig wäre. 38 Prozent wurden abgelehnt. 18 Prozent wurden nicht entschieden, weil sich die Anträge anderweitig erledigt hatten (bspw. zurückgezogene Anträge, Anerkennung anderer Familienmitglieder, Tod oder Verschwinden). Für alle, die nicht vor unmittelbarer Gefahr für Leib und Leben fliehen, also die Perspektivmigrant*innen, existieren nur dürftige internationale Rechtsgrundlagen. Ein Recht auf Bewegungsfreiheit zwischen Staaten gibt es bislang nicht. Standards für Arbeitsmigration, mit denen sich die Weltarbeitsorganisation ILO befasst, umfassen derzeit nur die grundlegendsten Antidiskriminierungs- und Freiheitsrechte im Aufnahmeland. Während typische Einwanderungsländer rechtliche Regelungen haben, wie man in diese Länder zuwandern kann, existieren solche Möglichkeiten für Deutschland so gut wie gar nicht. Das deutsche Zuwanderungsgesetz verdient seinen Namen kaum. Alle legalen Zuwanderungsmöglichkeiten aus Nicht-EU-Staaten nach Deutschland setzen voraus, dass man bereits einen Arbeitsvertrag hat, akademisch hochqualifiziert ist, oder einfach steinreich. Anders gesagt: Wer einwandern will, muss als Flüchtling kommen und hoffen, dass er irgendwie bleiben kann. Das Recht auf Freizügigkeit innerhalb eines Staates ist ein Menschenrecht, das in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte garantiert ist. Ein Recht auf Freizügigkeit zwischen Staaten existiert in einigen Staatengruppen (der EU, den Nordischen Staaten, den Golfstaaten), und es bestand zwischen verschiedenen Staaten und ihren ehemaligen Kolonien. Es ist eine zentrale Frage, wie eine weitere Ausweitung der Freizügigkeit auf eine global vernetzte Welt menschenrechtlich und praktisch gefasst werden kann. „No border, no nations“ ist eine coole Bewegungsforderung. Eine Ausweitung der Freizügigkeit in der Realität wird aber schrittweise über Vereinbarungen zwischen Staaten oder durch die UNO erreicht werden müssen.
Die Ökonomie der Migration
Nahezu alle ökonomischen Einschätzungen sind sich darin einig, dass Migration ein volkswirtschaftlicher Gewinn ist, und zwar sowohl für Herkunfts- wie für Zielländer. Es macht einfach Sinn, dass Menschen, die in ihrem Herkunftsland keine Arbeit finden, dorthin gehen, wo Bedarf an Arbeitskräften besteht. Eine Erleichterung der Migration würde erheblich zum Wachstum der globalen Produktivität beitragen, wie die UNO, die ILO, die Weltbank und fast alle wissenschaftlichen Studien nahelegen (siehe z.B. O’Rourke 2009, Pécoud/Guchteneire 2009; vor allem gibt es praktisch keine ernsthaften Studien, die das bestreiten). Das gilt für Herkunfts- wie für Aufnahmeländer. Mit den Effekten, die Migration auf den Arbeitsmarkt ausübt, hat sich die ILO ausführlich beschäftigt. Für die Herkunftsländer kann der Brain Drain, die Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften, problematische Wirkungen haben. Dies gilt zum Beispiel für die Emigration afrikanischer Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen, die insbesondere in den ländlichen Regionen die Gesundheitsversorgung verschlechtert. Die Wirkung verkehrt sich ins Positive, wenn Emigrant*innen teilweise zurückkehren und ihre Qualifikationen im Herkunftsland einbringen, oder wenn sie durch ihre beiderseitigen Kontakte Investitionen in ihren Herkunftsländern befördern. Die indische IT-Emigration hat darüber deutlich positiv auf beiden Seiten gewirkt. Immigrant*innen sind auf dem Arbeitsmarkt in einer schlechteren Position: Sie sprechen die Sprache schlechter, haben keine guten Verbindungen, nicht die richtige formale Qualifikation, unzureichende landesspezifische Kenntnisse. Für qualifizierte einheimische Arbeitskräfte sind sie daher meist keine echte Konkurrenz, von einigen sehr hochqualifizierten Bereichen abgesehen, wo bereits ein echter globaler Arbeitsmarkt besteht (Forschung, Management, Finanzsektor usw.) Dagegen wird allgemein davon ausgegangen, dass es einen gewissen Verdrängungsdruck auf einheimische Arbeitskräfte gibt, die schlecht qualifiziert sind, und dass der Zuzug von Migrant*innen in diesen Teilen des Arbeitsmarkts dazu führt, dass die Löhne langsamer steigen. Betroffen sind davon jedoch überwiegend die migrantischen Beschäftigten früherer Zuwanderungswellen, soweit diese es nicht geschafft haben, im Laufe der Zeit auf qualifiziertere Jobs aufzusteigen. Dieser Effekt wiederum wird jedoch meistens dadurch kompensiert, dass Immigration zu einem stärkeren Wirtschaftswachstum führt, das wiederum Jobs schafft. Auch im nichtqualifizierten Bereich ist der Druck, der von zuwandernden Arbeitskräften auf einheimische Beschäftigte und Arbeitsuchende ausgeht, daher letztlich sehr gering oder gar nicht vorhanden. Wenn in bestimmten Sektoren (Häfen, Bau, Leiharbeit) gezielt und organisiert ausländische Arbeitskräfte zum Lohndumping eingesetzt werden, handelt es sich in aller Regel um mobile Arbeitskräfte aus anderen EU-Ländern, nicht um außereuropäische Zuwanderung. Ein Zusammenhang von Immigration und höherer Arbeitslosigkeit lässt sich empirisch überhaupt nicht nachweisen, eher im Gegenteil. Mittelfristig gewinnen Aufnahmeländer an Weltmarktkompetenz, vor allem durch die höhere Diversität und internationale Vernetzung ihrer Beschäftigten. Das Geld, das Migrant*innen in ihre Heimatländer überweisen, übertrifft die Summe der internationalen Entwicklungshilfe mehrfach. Es ist ein bedeutender Faktor der Armutsbekämpfung im Herkunftsland, da dieses Geld direkt ankommt, die heimische Nachfrage stärkt und sehr viel stabiler fließt als andere Finanzquellen. Es baut zwar keine Straßen und Schulen, insofern kann es staatliche Investitionen in Infrastruktur nicht ersetzen. Dennoch gehen von Emigrant*innen oft wichtige Impulse für die regionale Ökonomie in ihrer Herkunftsregion aus. Einige investieren im Ausland erspartes Kapital in den Aufbau von Unternehmen oder Handelswegen. Andere überzeugen Unternehmen, bei denen sie arbeiten, Niederlassungen in ihrem Herkunftsland zu eröffnen. Generell gilt: Migration wirkt desto positiver, je besser sie von Herkunfts- und Zielländern kooperativ gemanagt wird und je besser migrantische Netzwerke sie aktiv mitgestalten können. Wer ohne Vorbildung ankommt, nicht von einer migrantischen Community im Zielland unterstützt wird und sich nicht zwischen Herkunfts- und Zielland hin- und herbewegen kann, hat es extrem schwer, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und irgendeine Aufstiegsperspektive zu entwickeln. Migrant*innen, die „auf den Bürgersteigen stehen und Regenschirme verkaufen“, wie der Ökonom Michael Clemens es auf den Punkt bringt, nützen weder Herkunfts- und Zielländern, noch der globalen ökonomischen Entwicklung, und erst Recht nicht ihren eigenen Zukunftschancen.
Die Kultur der Migration
In den letzten Jahren stellen junge Migrant*innen unter 25 Jahren einen immer größeren Teil der globalen Migrationsbewegung dar. Die Kulturen der Migration haben sich dadurch verändert. Ursprünglich dominierte das Modell der Migration als familiäres Mehrgenerationenprojekt im Zielland: Familien entschlossen sich, das Land zu wechseln, im vollen Bewusstsein, dass der Erfolg ihrer Aktion sich erst am sozialen Aufstieg ihrer Kinder und Enkel im Zielland bemessen wird. Typischerweise nahmen Migrant*innen im Aufnahmeland eine politisch konservative Haltung an und eine Kultur der Unauffälligkeit, was sich erst im Laufe längerer Zeit änderte. Revolutionäre Projektionen gehen an der Realität migrantischer Existenz vorbei. In jüngerer Zeit ähneln viele Migrationsentscheidungen der Art und Weise, wie deutsche Familien über die Wahl des Studien- oder Ausbildungsorts der Kinder diskutieren. In vielen Ländern mit einer starken Emigration entstehen Kulturen der Migration, wo der Wechsel des Landes als notwendige, auch sozial erwartete Lebensphase gesehen wird, einschließlich der Idee einer erfolgreichen Rückkehr. Die Perspektive ist nicht mehr der Wechsel der gesamten Familie, sondern die Nutzung von Globalität als Entwicklungschance. An die Stelle der familiären Generationenkonflikte im Zielland, meist zwischen traditionellen Werten und neuen sozialen Entwürfen, tritt der Erwartungsdruck von Zuhause. Die heutige Zuwanderergeneration befindet sich dadurch in einer verstärkt individualisierten, verletzlichen, gestressten und überforderten Situation. Der leicht paternalistische Zug der „Willkommenskultur“ hat darauf reagiert, die staatliche Einwanderungspolitik eher nicht. Bereits länger ansässige migrantische Communities können sich mit der neuen Zuwanderung sehr viel weniger identifizieren und neigen zu einer kritischen Haltung, die weit über klassische ethnische Konflikte und genuinen migrantischen Konservatismus hinausgeht. Sowohl die AfD als auch Donald Trump versuchen mit ihrer Anti-Zuwanderungs-Politik auch etablierte migrantische Wählergruppen und deren Vorbehalte anzusprechen; in Deutschland zum Beispiel die russischen Communities.
Offene Parallelgesellschaften, offene Kommunen
Alle Migrant*innen brauchen migrantische Communities im Zielland, um sich zurechtfinden zu können. Integration ist eine Arbeit, die vor allem von den Migrant*innen selbst geleistet wird, individuell wie kollektiv. Es ist daher unvermeidlich, dass die Verteilung von Zuwanderung im Zielland nicht gleichmäßig ist, sondern sich auf bestimmte Regionen und Räume konzentriert. Das hängt sowohl davon ab, wo Arbeit zu finden ist, als auch von der Herausbildung von „Arrival Cities“ (Saunders), sogenannten Ankunftsstädten, also Städten und Stadtteilen mit einem hohen Anteil migrantischer Bevölkerung. Dies führt auf die oft geäußerte Sorge vor entstehenden Parallelgesellschaften. Parallelgesellschaften sind jedoch ein normaler Bestandteil offener Gesellschaften und nicht auf Migrant*innen beschränkt. Bis zu einem gewissen Grad leben wir alle in Parallelgesellschaften. Unser soziales Umfeld ist nicht repräsentativ, sondern spiegelt unsere berufliche und soziale Stellung, unsere kulturelle und politische Haltung. Wir alle bleiben ein Stück weit unter uns. Das ist die Art und Weise, wie wir uns Gesellschaft aneignen und verstehen, wie wir uns unterstützen und handlungsfähig bleiben. Entscheidend ist, ob diese Parallelgesellschaften im Prinzip offene Strukturen sind, die sich nicht gegeneinander abschließen, die ohne übertriebene soziale Homogenität und ohne übermäßigen Konformitätsdruck funktionieren, oder ob es sich um hermetische Räume handelt, die mit dem Rest der Gesellschaft nicht mehr kommunizieren können und wollen. Aus der Offenheit und ‚Porosität‘ selbstbewusster, interagierender Teilgesellschaften baut eine demokratische, plurale Gesellschaft ihre Öffentlichkeit. Mehrfachzugehörigkeiten und Übergänge sind ein wichtiges Ferment dieses Prozesses. Dies ist das Leitbild, nicht die atomisierte Gesellschaft oder die der einen Identität für alle. Integration bedeutet einfach, an diesem Prozess des Austauschs und der Selbstveränderung teilzunehmen. Moderne Einwanderungsgesellschaften sind daher auch mehrsprachig; dies ist eine Bedingung von Integration. Auch die Frage, wer für bestimmte Gruppen sprechen kann, wie legitim oder angemaßt solche Repräsentationsstrukturen sind, stellt sich nicht nur für migrantische Vertretungen, sondern für alle. Obwohl ich Steuerzahler bin, finde ich nicht, dass der „Bund der Steuerzahler“ in legitimer Weise für mich spricht. Die herausgehobene Rolle der Städte und Kommunen als Orte, wo Migration und Integration passiert, wird bislang zu wenig anerkannt (vgl. Heuser in LuXemburg 1/2017). Sie brauchen dafür nicht nur deutlich mehr Mittel. Sie brauchen auch mehr rechtliche Spielräume: um Bleiberechte auszusprechen, aufenthaltsrechtliche Statuswechsel zuzulassen, Arbeitsmarktinstrumente und Gewerberecht anzupassen und Qualifikationen anzuerkennen. Wenn Städte und Kommunen – und das ist unstrittig – die zentralen Integrationsmaschinen sind, dann müssen sie auch so handeln können. Es gibt Sackgassen der Migration. Dazu gehören Siedlungen, in denen sich ein hoher Anteil von Migrant*innen sammelt, die keine Perspektive finden. Räumliche und verkehrstechnische Isolierung, schlechte Wohn- und Schulqualität befördern deren Entwicklung. Einige sind in guter Absicht geplant worden, aber ungeeignet für diejenigen, die dort ankommen. Niemand geht auf den Weg der Migration, um in einem fremden Land bis an sein Lebensende von Sozialhilfe zu leben. Aber wenn Arbeitsmarktintegration scheitert, ist das die Lebensrealität, die Migrant*innen einholt. Die vieldiskutierte „Einwanderung in Sozialsysteme“ ist in den seltensten Fällen die ursprüngliche Motivation. In aller Regel ist sie entweder ein Geschäftsmodell, das von Mittlern genutzt wird, oder das Ergebnis gescheiterter Integration. Die Kulturen der Migration, die hier entstehen, sind keine traditionellen, mitgebrachten. Es sind hybride Kulturen (Saunders), die auf eine Situation der Abschottung reagieren. Die Transformation solcher Sackgassen-Siedlungen ist eine zentrale Aufgabe, die von den Kommunen geleistet werden muss. Sie brauchen auch dafür Mittel und Handlungsspielraum – und Bewohner*innen, die sich für eine solche Transformation einsetzen (vgl. Pieschke in LuXemburg Online).
Männerdominierte Migration zeigt, dass etwas nicht stimmt
Weltweit sind etwa die Hälfte derer, die über Ländergrenzen hinweg auswandern, Frauen. Das hat sich seit den 1960er Jahren nicht wesentlich geändert. Dass in jüngerer Zeit über die Feminisierung der Migration diskutiert wird, bezieht sich auf die Art der Migration von Frauen. Ein zunehmender Anteil von ihnen migriert allein oder mit Kindern, oder verlässt das Land selbst auf Jobsuche. Dieser Befund steht in einem scharfen Kontrast zu dem Migrationsmuster, das derzeit Europas Aufmerksamkeit beschäftigt: die Migration übers Mittelmeer. Hier liegt der Frauenanteil bei 30 Prozent, in der Altersgruppe 18-34 Jahre noch deutlich darunter. Der einzige Grund dafür besteht in den extremen Risiken dieser Reise, vor allem dem Risiko, bereits auf dem Landweg zur Küste Gewalt ausgesetzt zu sein. Caritas International beispielsweise fordert deshalb speziell im Interesse von migrierenden Frauen „faire und gerechte Vereinbarungen zwischen Herkunfts- und Zielländern, die internationale Arbeitsmigration regeln, sichere Bewegung garantieren und internationale Arbeitsrechte respektieren“ (Caritas Internationalis 2012, 14). Männerdominierte Gruppen sind ein Problem, überall. Auch migrantische Integration wird dadurch massiv erschwert. Familiäre, gemischte Strukturen sind ein wesentlicher Integrationsmotor. Der hohe Anteil von Männern (und der geringe Anteil Älterer) bei der derzeitigen Einwanderung über das Mittelmeer ist untypisch für Migrationsbewegungen. Er ist das spezifische Ergebnis der europäischen Grenzabschottung und der miserablen Migrations-Kooperation zwischen der EU und den afrikanischen Staaten.
Die Sonderrolle Afrikas
Die Kooperation mit afrikanischen Staaten zu verbessern wäre umso notwendiger, als Afrika in verschiedener Hinsicht eine Sonderrolle einnimmt. Im Unterschied zu Asien und Lateinamerika vollziehen sich dort demografischer Übergang, ökonomische Entwicklung und die Überwindung von Armut deutlich verzögert, blockiert durch eine Vielzahl spezifischer auch postkolonialer Probleme. Insbesondere kommt die Entwicklung nicht in den ländlichen Regionen an. Die 20 Jahre der Strukturanpassungsprogramme zwischen1980 und 2000 haben die ökonomische Handlungsfähigkeit des Staates, die ein Kernelement erfolgreicher Schwellenländer in anderen Regionen waren, unterminiert und den Aufbau eigener Produktion verhindert. Obwohl dies inzwischen weitgehend anerkannt ist (selbst die Weltbank hat ihre damalige Entwicklungsphilosophie verändert), trägt die EU zur Verschärfung statt zur Lösung der afrikanischen Probleme bei. Sie schottet den europäischen Markt gegen afrikanische landwirtschaftliche Produkte ab. Sie pachtet afrikanische Fischgründe, statt den Aufbau einer fischverarbeitenden Exportindustrie in Afrika zu fördern. Während die Handelsabkommen der EU mit den „AKP-Ländern“[1]