Manche seiner Unterstützer*innen mögen enttäuscht sein, dass Bernie Sanders nicht zum demokratischen Präsidentschaftskandidaten gekürt wurde. Angesichts des Momentums seiner Kampagne schien für einen Augenblick das Unmögliche möglich. Allerdings war ein Sieg Sanders von Anfang an undenkbar – zu groß sind die Machtressourcen des Partei-Establishments und zu manipulativ ist der Wahlprozess, wie die Mitte Juli 2016 geleakten E-Mails der Parteiführung noch einmal bezeugen, in denen die Entschlossenheit, Sanders Kandidatur um jeden Preis zu verhindern, offensichtlich wurde. Anstatt einem historischen Pessimismus zu verfallen, ist es darum sinnvoll, sich in Erinnerung zu rufen, dass Sanders bereits jetzt vieles erreicht hat.
Was Sanders erreicht hat: Acht Thesen
Die Sanders-Kampagne hat erstens gezeigt, dass sich ein erfolgreicher Wahlkampf auch ohne die Unterstützung finanzkräftiger Lobby-Gruppen führen lässt. Mit fünf Millionen Kleinstspenden von durchschnittlich unter 30 US-Dollar konnte er eine Kampagne lancieren, die jeder Korruption unverdächtig war und einen Maßstab für künftige Generationen setzt. Sanders hat zweitens die US-Wahlen politisiert und seine Gegner gezwungen, sich zu seinen Forderungen zu verhalten. Diese Forderungen konnte Sanders drittens in der US-Politik verankern: kostenlose Hochschulbildung, kostenlose Gesundheitsversorgung, ein bundesweiter Mindestlohn von 15 US-Dollar, die Entflechtung der Banken, ein Fracking-Verbot, das Ende für antidemokratische und geopolitische ›Investitionsschutzabkommen‹ wie TPP und TTIP und ein Ende imperialistischer Kriege. Was bis dato als unrealistisch galt, ist heute eine Vision für Millionen US-Amerikaner*innen. Die »Grenzen des Möglichen« (Fernand Braudel) haben sich verschoben. Ein Mindestlohn von 15 US-Dollar beispielsweise wird derzeit in vielen Großstädten, aber auch in immer mehr Bundesstaaten umgesetzt. Viertens hat die Sanders-Kampagne für viele Menschen wichtige Momente politischer Bildung und eine Klassenperspektive auf die herrschende Politik vermittelt. Dazu gehört die Einsicht, dass eine Umsetzung der genannten sozialen Forderungen in einem reichen Land zwar möglich ist, allerdings nur gegen den Widerstand der herrschenden Kräfte, und dass es dazu nicht nur einer Massenmobilisierung, sondern einer ›politischen Revolution‹ bedarf. Fünftens konnte die Macht des demokratischen Partei-Establishments geschwächt werden: Die Sanders-Kampagne hat den inneren Klassengegensatz der Partei offengelegt und den grundlegenden Gegensatz zwischen einer Strategie des High-Road-Exit aus der Krise (wie Sanders sie verkörpert) und einem imperialen Neoliberalismus (wie ihn Clinton verkörpert). Damit hat Sanders sechstens einen dritten Pol aufgezeigt, jenseits des neoliberalen Status quo auf der einen und einer auf Entsolidarisierung setzenden Kritik der nationalistischen und rassistischen Rechten auf der anderen Seite. Angesichts dieses ›populistischen Moments‹ ist es ihm gelungen, ein politisch entfremdetes weißes Working-Class-Wählerklientel in vermeintlich republikanischen Staaten wie West Virginia für die Linke zurückzugewinnen. Und zwar dadurch, dass er die Vision einer besseren Zukunft gezeichnet hat und nicht durch die bloße Warnung vor drohendem Faschismus. Siebtens hat Sanders ein neues Interesse an marxistischer Theorie insbesondere in der Generation der sogenannten Millennials entflammt, die wesentlich weiter links steht als alle vorhergehenden Generationen. Dadurch wird es möglich, über Sanders hinaus auch die Grenzen seines konfliktorientierten Sozialdemokratismus zu diskutieren, der zum Teil vor strukturellen Veränderungen (etwa einer Sozialisierung der Banken) zurückschreckt. Damit ist achtens eine neue Generation von Aktivist*innen rund um die Sanders-Kampagne entstanden, die allerdings politisch noch relativ unerfahren ist, weshalb unklar ist, wie lange sie sich halten kann. Linke Organisationen berichten allerdings, dass ein Viertel oder sogar ein Drittel ihrer neuen Mitglieder und Sympathisant*innen von Sanders motiviert wurde. Die US-Linke wird aus dieser Phase damit insgesamt gestärkt hervorgehen und kann strategisch darauf aufbauen. Doch welche Strategien könnten und sollten das sein?
Wie es weitergehen kann: Drei Strategiehorizonte
Auf diese Herausforderung gibt es keine einfachen Antworten. Sanders hat sich eine enorme politische Macht verschafft und ist zur nationalen politische Figur geworden: Dreizehn Millionen Menschen haben ihn gewählt, Zehntausende haben ihre Jobs gekündigt oder ihr Studium unterbrochen, um in seiner Kampagne aktiv zu werden. Eine Wahlkampagne ist aber noch keine Bewegung, sie endet, wenn der Wahlzyklus vorbei ist. Wie ließe sich also diese temporäre Macht in einen neuen Aggregatzustand und in etwas Dauerhaftes überführen?
Grundsätzlich scheinen drei Strategiehorizonte denkbar: (1) die Schaffung eines nationalen strategischen Netzwerks und einer außerparlamentarischen Bewegung, (2) die Gründung einer neuen dritten Partei unabhängig von den Demokraten, (3) die Fortsetzung des Wahlkampfes in anderer Form. Es wird sich zeigen müssen, inwiefern sich diese Ansätze wechselseitig ausschließen oder ob eine Kombination aus ihnen möglich und erfolgversprechend sein könnte.
Eine linke Tea Party? Die Netzwerkstrategie
Die Netzwerkstrategie ist zunächst eine außerparlamentarische. Die Idee wäre, Aktivist*innen strategisch unter einem (neuen) Namen zu bündeln und mit einer gemeinsamen Infrastruktur auszustatten, um zu verhindern, dass die Millionen Aktiven wieder ins Private ›verschwinden‹ oder sich in lokalen Kämpfen verlieren. Hierfür geistert der Slogan einer »Tea Party von links« herum, die eine Clinton-Regierung auf die gleiche Weise unter Druck setzen könnte, wie die Tea-Party-Bewegung es vor, während und nach den Zwischenwahlen von 2010 mit den Republikanern getan hat. Damals gewannen Anti-Establishment-Kandidat*innen bei den Vorwahlen und verschoben die republikanische Fraktion im Kongress deutlich nach rechts. Tea-Party-Gouverneure organisierten im ganzen Land Angriffe auf die gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten im öffentlichen Dienst, implementierten harsche Austeritätspolitiken und legten im Konflikt um die Schulden der USA mehrfach die Regierung lahm. Ziel der Netzwerkstrategie ist es also nicht nur, außerparlamentarischen Druck auf die Demokraten auszuüben, sondern die »Democrats in name only« bei Vorwahlen systematisch zu schlagen. Mit dieser Innen-Außen-Strategie verbindet sich die Hoffnung, die Demokraten von einer Partei der Wall Street zu einer Partei der Arbeiterklasse zu machen. Um deren Tragfähigkeit einzuschätzen, muss man sowohl die Partei selbst wie auch das gesamte Parteiensystem genauer betrachten, das sich in einem entscheidenden Transformationsprozess befindet. War es den Parteieliten der Republikaner 2012 (und davor) am Ende doch gelungen, den Unmut der Basis zu umschiffen und den Aufstieg starker rechtspopulistischer Kandidat*innen zu verhindern, ist dies 2016 anders: Die Nominierung von Donald Trump (gegen den zuletzt nur noch der Tea-Party-Architekt Ted Cruz in Stellung gebracht werden konnte) zeigt den Kontrollverlust des Establishments über die eigene Partei. Auch wenn es Trump voraussichtlich nicht gelingen wird, Präsident zu werden, hat er das Gesicht der Partei verändert. Er steht für einen neuen Protektionismus (insbesondere gegen China und Mexiko) und eine außenpolitische Kombination von Neoisolationismus und brutalem Autoritarismus (Folterprogramme, generelle Einreiseverbote für Muslime etc.). Dies ist schockierend für das transnationalisierte US-Kapital und seine politischen Interessensvertreter, die auf eine staatlich abgesicherte, imperial durchgesetzte kapitalistische Globalisierung vertrauen. Sie verlassen nun die Partei und laufen teilweise zu Clinton über. Setzt sich dieser Trend fort und werden die Republikaner zumindest auf Bundesebene zu einer autoritär-nationalistischen Partei, die nicht in der Lage ist, Mehrheiten für die Präsidentschaft zu erzielen, dann verändert dies zwangsläufig auch die Rolle der Demokratischen Partei. Je mehr die Bundes-Demokraten zum zentralen Vehikel der transnational-imperialen Kapitalinteressen werden, umso unwahrscheinlicher wird ein Umbau der Partei und eine ›Übernahme‹ von links.
Auch wäre zu diskutieren, ob die Tea-Party-Analogie wirklich trägt, denn die Parteieliten der Republikaner (wie die der Demokraten) standen den Tea-Party-Zielen einer harschen Austeritätspolitik und Bekämpfung der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst nicht grundsätzlich entgegen. Sie verurteilten lediglich deren dogmatische – und finanzpolitisch riskante – parlamentarische Blockadepolitik. Die Tea Party war 2010 ein Katalysator für die Exit-Strategie der Eliten aus der globalen Krise, die auf innerer und äußerer Abwertung zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit beruht. Im Vergleich dazu liegen zwischen der klassenkonfliktorientierten Sozialdemokratie von Sanders und dem imperialen Neoliberalismus des dritten Weges von Clinton Welten. Dieser Gegensatz darf dabei nicht als ›ideologisch‹ missverstanden werden, sondern ganz materiell im Sinne eines inneren Klassengegensatzes innerhalb der Partei. Hier liegt eine zentrale Herausforderung für eine populare Linke im Unterschied zum Rechtspopulismus. Der Rechtspopulismus braucht keine Massenmobilisierung, um bestehende Kräfteverhältnisse zu verändern: Er kann einem Teil der Bevölkerung eine Verbesserung der eigenen Lage im Rahmen des bestehenden Austeritätsregimes versprechen – eben auf Kosten anderer. Die (Sanders-)Linke hingegen kann ihre universalistischen Forderungen nur umsetzen, wenn sie die Kräfteverhältnisse zugunsten der Subalternen radikal verschiebt. Die Republikaner ließen sich von der Tea Party leicht(er) nach rechts verschieben, weil sie über die Fronten hinweg eine neoliberale Orientierung teilten, bei den Demokraten ist die Frage der ›Linkswende‹ dagegen keine graduelle, sondern eine fundamentale Entweder-oder-Frage. Letztlich kann es zwischen der Sanders- und der Clinton-Plattform keinen Kompromiss geben, auf keiner Ebene. Sie stehen für einen anderen Politikinhalt (prokapitalistisch vs. pro Beschäftigte) und für ein anderes politisches Subjekt (Drittwegs-Technokratie vs. Mobilisierung von unten gegen den Machtblock). Entsprechend müsste der Druck außerhalb der Partei um ein Vielfaches höher sein. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf Forderungen wie kostenlose Hochschulbildung und Krankenversicherung, die eine massive Umverteilung voraussetzen würden und deshalb ohne eine hohe Besteuerung der großen Vermögen und (Kapital-)Einkommen völlig undenkbar sind.
Die Stärke von Sanders war, dass er seine Kernforderungen aus unmittelbaren gesellschaftlichen Nöten entwickelt hat: ein Lohn, von dem man leben kann, eine Bildung, die nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängig ist und einen nicht lebenslang verschuldet, Gesundheit, die keine Ware ist, etc. Gleichzeitig ist es aber so, dass die Verwirklichung dieser basalen Forderungen eine quasi-revolutionäre Situation voraussetzen oder schaffen würde. Die politische Macht und Durchsetzungsfähigkeit der Netzwerkstrategie kann also ohne eine Basis in der organisierten Arbeiterbewegung nicht funktionieren.1 Die Sanders-Kampagne hat zwar den Richtungskampf zwischen ihrer konfliktorientierten Sozialdemokratie und Clintons politischem Projekt tief in die US-Gewerkschaftsbewegung hineingetragen. Mehrere Gewerkschaften wie die Postal Workers, die Communication Workers, die National Nurses United und United Electrical haben sich hinter Sanders gestellt und zahlreiche Basisgewerkschaften der Dienstleistungsgewerkschaft SEIU haben gegen die undemokratischen Entscheidungen ihrer Führungen zugunsten von Clinton aufbegehrt. Trotzdem ist es so, dass mittlerweile auch die ›Sanders-Gewerkschaften‹ wieder die Reihen hinter Clinton schließen.