In der Bekämpfung der Corona-Pandemie hat die Ampelkoalition bereits eine bemerkenswerte Kehrtwende hingelegt. Zu Beginn der Verhandlungen hat sie unter dem Eindruck von im Vergleich zu heute niedrigen Inzidenzen und unter dem Druck der FDP die Aufhebung der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ angekündigt. Schon bei der Verabschiedung des geänderten Infektionsschutzgesetzes wurde unter dem Druck der sich zuspitzenden Situation auf den Intensivstationen eine ganze Reihe von Maßnahmen, die eigentlich aufgehoben werden sollten, wiedereingeführt. Und auch die jüngste Sitzungswoche wurde genutzt, um weitere Instrumente zu reaktivieren.
Die Gesundheitspolitik hätte aber auch ohne die Pandemie gewaltige Aufgaben zu bewältigen. Grüne und SPD hatten in ihren Wahlprogrammen richtigerweise die Einführung einer Bürgerversicherung gefordert, die dazu beitragen würde, die starken Schultern in größerem Maße an der Finanzierung des Gesundheitswesens zu beteiligen. In dieser zentralen Frage trägt der Koalitionsvertrag einmal mehr die Handschrift der FDP. Die Finanzierung des Gesundheitswesens wird nicht auf breitere Füße gestellt, und deshalb bleibt der Ampel wie in den vergangenen Legislaturperioden nur das Herumpfriemeln an verschiedenen Stellschrauben. Von einer Überwindung der Zwei-Klassen-Medizin ist keine Rede mehr. Stattdessen sollen die absehbaren Kassendefizite über Steuerzuschüsse ausgeglichen werden. Trotz erwartbarer Kostensteigerungen will man ab 2023 die „Schuldenbremse“ wieder einhalten, ohne die Steuern und Abgaben für Reiche und Superreiche zu erhöhen. Lauterbach hatte zwar bei der Vorstellung der SPD-Minister*innen im Willy-Brandt-Haus angekündigt, dass es keine Kürzungen geben werde, aber angesichts der erwartbaren Kostensteigerungen im Gesundheitsbereich sind Beitragserhöhungen, Leistungskürzungen und Kassenpleiten kaum abwendbar. Einige gesetzliche Krankenkassen haben schon jetzt eine Erhöhung ihrer Zusatzbeitragssätze angekündigt.
Die neoliberale Logik von Renditeorientierung und Fallpauschalensystem wird beibehalten. Die Fehlanreize, die das DRG-System (von engl. diagnosis-related groups) schafft, sollen evaluiert werden, als ob diese nicht längst schon nachprüfbar belegt wären. Mit den Vorhaltepauschalen wird eine zusätzliche Ausnahme in das DRG-System eingeführt. Das ist zwar eine Verbesserung, allerdings ist sie nicht ausreichend. Denn einerseits kommt es auf die Höhe an. Daran entscheidet sich, ob sie die Erlösorientierung der DRGs abschwächen kann und tatsächlich die Kosten für vorgehaltene Kapazitäten deckt. Andererseits stellt sich die Frage, ob sich mit der Einführung von Vorhaltepauschalen die Höhe der Pauschalbeträge ändert – was den Effekt der Vorhaltekosten wieder reduzieren würde. Daher reicht die Einführung von Vorhaltepauschalen bei Weitem nicht aus, um die negativen Folgen des DRG-Systems abzufedern. Statt weitere Ausnahmen in das bestehende System einzuführen, wäre es sinnvoller, die Konsequenz aus dem Scheitern der Fallpauschalen zu ziehen und es endgültig abzuschaffen. Stattdessen wird erneut eine Kommission eingesetzt. Die SPD hatte in ihrem Wahlprogramm noch versprochen, „die Kommerzialisierung im Gesundheitswesen beenden“ zu wollen, weil „die Gesundheitswirtschaft kein reiner Markt ist“. Die Grünen wollten die „Gemeinwohlorientierung im Gesundheitswesen“ stärken und den „Trend hin zu Privatisierung“ umkehren, denn „Gesundheit ist Daseinsvorsorge“. Doch die Begrenzung der Renditeorientierung in Gesundheit und Pflege wird nicht angegangen. Es werden also weiterhin Beitrags- und Steuergelder in Profite für Gesundheitskonzerne umgewandelt.
In der Pflege kam die Ampel an den Forderungen der Bewegung gegen den Pflegenotstand nicht vorbei. Als Anerkennung für die Pflegekräfte wird eine Milliarde Euro zur Verfügung gestellt. Die Forderung nach einer verbindlichen Personalbemessung im Krankenhaus wird aufgegriffen und es wird versprochen, den Pflegepersonalschlüssel PPR 2.0, der schon in der vergangenen Wahlperiode entwickelt wurde, nun schnell umzusetzen. Außerdem werden Zuschläge für die Beschäftigten in der Pflege steuerfrei gestellt und es soll einen Anspruch auf familienfreundliche Arbeitszeiten geben. Wie das umgesetzt werden soll, wird sicher spannend. Alle diese Maßnahmen sind sinnvoll, werden aber nicht ausreichen, um dem Pflegenotstand beizukommen. Ob die verstärkte Anwerbung von Pflegekräften aus dem Ausland nachhaltig Wirkung zeigen wird, darf getrost bezweifelt werden, denn ausländische Pflegekräfte sind in der Regel deutlich selbstständigeres Arbeiten gewohnt, als es in den hierarchisch ärztlich dominierten deutschen Kliniken üblich ist. Zudem ist es äußerst bedenklich, Fachkräfte aus Ländern abzuwerben, in denen sie ebenso nötig gebraucht werden wie hier.
Auch in der Langzeitpflege werden die vereinbarten Maßnahmen nicht ausreichen. Die Eigenanteile sollen begrenzt und planbar werden, eine mögliche weitere Kürzung soll nach Inkrafttreten geprüft werden. Gleichzeitig sollen die Sätze für die Pflegeversicherung „moderat“ angehoben werden. Das wird aber kaum ausreichen, um die Gehaltslücke zwischen Alten- und Krankenpflege zu schließen und die Langzeitpflege auf die absehbaren Pflegebedarfe der „Boomer“-Generation vorzubereiten. Geradezu typisch für die Vereinbarungen der Ampel ist, dass für die 24-Stunden-Pflege „eine rechtssichere Grundlage“ gestaltet werden soll. Das ist nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts ohnehin unvermeidlich, es wäre aber interessant zu wissen, ob das unter Einhaltung der bestehenden Arbeitsgesetze oder durch Aufweichung der Gesetzeslage für diesen Bereich geschehen soll.
Die Mondpreise der Pharmahersteller für neu zugelassene Medikamente gelten nun nur noch für sieben Monate und nicht mehr für ein ganzes Jahr, das heißt, nachdem Kassen und Pharmakonzerne sich auf Preise für Medikamente geeinigt haben, müssen die Hersteller die überzogenen Preise schon früher rückwirkend zurückzahlen. Warum die ausgehandelten Preise rückwirkend nicht schon ab dem ersten Tag gelten, wie die LINKE es fordert, ist nicht zu verstehen. Nun werden die Hersteller noch mehr Werbedruck entfalten, um in den ersten sieben Monaten einen möglichst hohen Marktanteil zu erzielen und dafür so viele Patient*innen wie möglich auf ihr neues, nicht unbedingt nützlicheres, aber auf jeden Fall drastisch teureres Präparat einzustellen.
Auch verweigert die Koalition die zeitweilige Aussetzung der Patente auf Arzneimittel, Medizinprodukte und Impfstoffe, die notwendig wäre, um den gigantischen Bedarf der Länder des globalen Südens in der Pandemie auch nur ansatzweise decken zu können. Hier hat sich die Reichenlobby der FDP vollständig gegen SPD und Grüne durchgesetzt, die das noch vor der Wahl gefordert hatten.
Dass die Ampel versuchen will, die Arzneimittelproduktion nach Deutschland und in die EU zurückzuholen, ist vernünftig. In der Vergangenheit kam es zu Versorgungsengpässen, wenn etwa Standorte in China oder Indien mit der Produktion nicht nachkamen oder Qualitätsprobleme auftraten. Spannend wird hier jedoch sein, wie die Koalition sicherstellen will, dass die Hersteller nicht einfach nur Subventionen abgreifen und die neuen Standorte danach wieder schließen. Dazu kommt, dass die Mechanismen, die den Arzneimittelmarkt immer weiter zentralisiert und monopolisiert haben, nicht angegangen werden sollen: Hier hat sich tatsächlich mal die SPD durchgesetzt, für die im Zweifel Beitragsstabilität bei den gesetzlichen Krankenversicherungen vor Versorgungssicherheit für die Patient*innen geht. Die Preise für Generika sollen weiterhin über Rabattverträge niedrig gehalten werden, was schon länger zu Versorgungsengpässen durch Lieferschwierigkeiten und zur Verlagerung der Produktion in Billiglohnländer führt.
Ein Fortschritt ist sicherlich die geplante Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. Die Pandemie zeigt ja deutlich, welch verheerende Folgen das Kaputtsparen in diesem Bereich hat. Auch die geplante bundesweite Einführung von „Community Health Nurses“ (Gemeindeschwestern klingt wohl zu altbacken und nicht genderneutral genug) als neues Berufs- und Aufgabengebiet könnte ein Beitrag dazu sein, die Versorgung in der Fläche zu verbessern und die Attraktivität der Pflegeberufe insgesamt zu steigern. Und dass die Kommunen nun dabei unterstützt werden sollen, integrierte kommunale Versorgungszentren zu schaffen, in denen multiprofessionell sowohl ambulant als auch (teil-)stationär behandelt werden kann, könnte sogar zu einem Gamechanger für die Versorgungsprobleme im ländlichen Raum werden.
Welche Aufgaben für die LINKE resultieren aus dieser Situation?
In der Corona-Krise müssen wir darauf drängen, dass endlich eine vorausschauende Politik gemacht wird, die nicht immer nur den Wellen hinterherrennt, sondern wirklich vor die Welle kommt. Um das zu erreichen, müssen Impfangebote vulnerable Gruppen besser erreichen, damit Impflücken geschlossen werden können. Nur die LINKE hat bisher verstanden, dass die Krise durchaus nicht alle gleich trifft. Das gilt im Inland, wo die Regierung bisher noch nicht einmal über Daten verfügt, ob etwa Arme häufiger an Corona sterben, und wo genau zu schauen ist, wer durch das Netz der Corona-Hilfsmaßnahmen fällt. Denn Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen und Vermögen infizieren sich im Durchschnitt nicht nur häufiger mit Corona – auch die Krankheitsverläufe und die Folgewirkungen sind schwerer und langwieriger als bei Menschen mit hohen Einkommen und Vermögen. Zusätzlich sind Erstere von den wirtschaftlichen, sozialen und gesundheitlichen Nebenwirkungen der Infektionsschutzmaßnahmen erheblich stärker betroffen.
Dass Corona nicht alle gleich trifft, gilt aber insbesondere auch international. Die Ausbreitung der Omikron-Variante zeigt noch einmal, dass die Strategie der reichen Staaten, vor allem ihre eigene Impfstoffversorgung zu sichern, noch nicht einmal unter egoistischen Prämissen funktioniert. Stattdessen müssen wir die Forderung erheben, Impfstoff-Patente auszusetzen und die Produktion von Impfstoffen in den ärmeren Ländern zu ermöglichen.
Wenn wir den Blick auf das Gesundheitssystem als Ganzes richten, wird offensichtlich, dass eine auskömmliche Finanzierung nur mit einer Solidarischen Gesundheitsversicherung möglich wird, die alle – vor allem alle Einkommen – einbezieht. Trotz inzwischen 28,5 Milliarden Euro Steuerzuschuss kündigen die Krankenkassen bereits für 2022 Beitragserhöhungen an. So wird sich schon im nächsten Jahr zeigen, welche unsozialen Folgen es hat, dass SPD und Grüne ihre vor der Wahl versprochenen Bürger*innenversicherungspläne der FDP-Regierungsbeteiligung geopfert haben. Die Debatten um die Reförmchen, die sich die Ampel in den nächsten vier Jahren vorgenommen hat, werden wir nutzen, um auf die Notwendigkeit einer Abkehr von der Renditelogik im Gesundheitssystem hinzuweisen und eine Umorientierung auf die Bedürfnisse von Patient*innen und Beschäftigten einzufordern. Wir wollen ein Gesundheitssystem, das als Teil des Sozialstaats die bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung zum Ziel hat und dessen Einrichtungen nicht mit einem verkürzten betriebswirtschaftlichen Blick auf Markt und Wettbewerb ausgerichtet sind. Wir werden genau beobachten, ob die Koalition wirklich wie versprochen eine bedarfsgerechte Personalbemessung in den Krankenhäusern einführt.
In der Altenpflege braucht es dringend bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne, die der Bedeutung der Pflege für unser Gemeinwesen entsprechen. Diese sind aber nur über eine solidarische Pflegevollversicherung finanzierbar. Ohne diese ist schon die Finanzierung der ersten Reformschritte, die die Ampel in diesem Bereich ankündigt, ungeklärt.
Fazit: Auch wenn es an einigen Stellen Verbesserungen geben wird, fehlen insgesamt Spielräume für grundlegende Reformen, die die Probleme an den Wurzeln packen. Diese wird es erst geben können, wenn eine Regierung zu einer Umverteilungspolitik auch im Gesundheitsbereich bereit ist. Am Widerspruch zwischen den Forderungen in den Wahlprogrammen von SPD und Grünen und der vereinbarten Regierungspolitik muss linke Gesundheitspolitik in den nächsten vier Jahren ansetzen. Den gesamten Koalitionsvertrag durchzieht der Gedanke, Geld von privaten Investoren für öffentliche Aufgaben einzuwerben. Dass sich der Gesundheitsminister in der Vergangenheit offen für neoliberale Vorschläge zur Strukturierung des Gesundheitswesens gezeigt hat, ist vor diesem Hintergrund besonders besorgniserregend. Deswegen sind auch die gut klingenden Vorhaben genauestens darauf abzuklopfen, ob sie nicht am Ende nur einen weiteren Privatisierungsschub im Gesundheitswesen vorbereiten. Die LINKE muss dem die Perspektive eines Gesundheitssystems gegenüberstellen, das an der Versorgung der Bevölkerung ausgerichtet ist statt an den Gewinnen von Marktakteuren. Dabei ist es wichtig, uns mit den Interessenvertretungen von Beschäftigten, mit Gewerkschaften, Sozialverbänden und Patient*innenorganisationen zu vernetzen und deren Sichtweisen aufzunehmen.