Einleitung
Welchen Platz hat queere Politik angesichts der Krisen des Neoliberalismus, des zunehmenden Aufstiegs autoritärer Populismen, aber auch neuer feministischer und antirassistischer Bewegungen wie Ni Una Menos und Black Lives Matter (BLM)? In diesem Text biete ich einige Überlegungen für eine queere Theorie der Hegemonie an, die uns dabei helfen kann, diesen Fragen nachzugehen.
Zunächst werfe ich einen Blick zurück auf den Aufstieg des Thatcherismus in Großbritannien in den 1980er-Jahren. Anknüpfend an die Arbeiten von Stuart Hall und Anna Marie Smith verorte ich diese frühe Inkarnation des Neoliberalismus im Verhältnis zur Krise der britischen Linken und der Ausbreitung neuer, identitätsbezogener sozialer Bewegungen wie Feminismus, schwule und lesbische Politiken sowie Schwarze Bewegungen.
Eine der wichtigsten Lehren, die wir aus dem Thatcherismus ziehen können, ist, dass der Neoliberalismus in dieser frühen Phase in seinem Kampf um Hegemonie auch durch seine reaktionären Politiken rund um Geschlecht, race und Sexualität vorankam. Und zwar dadurch, dass er das Terrain der Identitätspolitik besetzte, das die Linke oft auf ihr eigenes Risiko hin verwaist ließ (und lässt).
Im zweiten und dritten Teil gehe ich auf Transformationen des Neoliberalismus in den 1990er-Jahren ein und auf die Herausbildung dessen, was Lisa Duggan als «Homonormativität» bezeichnet hat, also eine angeblich «fortschrittliche» Form sexueller Politiken, die aber von feministischen, antirassistischen und Arbeiter*innenbewegungen abgekoppelt und letztlich eine Politik der Umverteilung von unten nach oben bedeutet. Ich widme mich dem queeren Materialismus und der Queer-of-Color-Kritik als zwei Strömungen, die in den letzten 20 Jahren als Reaktionen auf Homonormativität entstanden sind. Diese lese ich als grundlegende Bestandteile einer queeren Theorie der Hegemonie, die dazu beitragen kann, die gegenwärtige politische Konjunktur und den Platz queerer Theorie und Politiken darin besser zu verstehen.
Lehren aus dem Thatcherismus: Hegemonie und Identitätspolitik
Der Aufstieg des Thatcherismus in Großbritannien in den 1980er-Jahren war eine der ersten Ausprägungen der wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Formation, deren Krise wir heute erleben: des Neoliberalismus. Die Wahl Margaret Thatchers im Jahr 1979 fand im Gefolge der wirtschaftlichen Rezession der 1970er-Jahre statt, die die wohlfahrtsstaatlichen Politiken der Nachkriegszeit infrage stellte. Letztere konnten wirtschaftliche Expansion und Vollbeschäftigung nicht länger garantieren. Vor dem Hintergrund einer allgemeinen, globalen Hinwendung zum Neoliberalismus gelang es dem Thatcherismus, sich mit seinem eigenen Programm – einer weitreichenden Privatisierung, der Schrumpfung des öffentlichen Sektors, einer Zentralisierung der politischen Macht sowie Frontalangriffen auf die Arbeiter*innenbewegung gepaart mit Law-and-Order-Politiken – als die beste Lösung für die Krise in Großbritannien darzustellen. Tatsächlich war der Thatcherismus eine besonders autoritäre Formation. Während der drei aufeinanderfolgenden Thatcher-Regierungen (1979–90) machte der Staat reichlich Gebrauch von Polizeieinsätzen und -gewalt, nicht nur gegen die organisierte Arbeiter*innenbewegung (wie den Bergarbeiterstreik 1984–85), sondern auch gegen rassifizierte, schwule und lesbische Communitys.
Unter den vielen Kritiker*innen war auch der Schwarze britische Kulturwissenschaftler [und Mitbegründer der New Left; Anm. der Übersetzer*innen], Stuart Hall, der den Begriff «Thatcherismus» und das Konzept des «autoritären Populismus» (Hall 1988) mitgeprägt hat. Hall begnügte sich nicht damit, den von «oben» nach «unten» gerichteten Einsatz staatlicher Gewalt gegen «populäre» [also zur heterogenen Arbeiter*innenklasse gehörende; Anm. der Übersetzer*innen] Teile der Gesellschaft zu kritisieren. Stattdessen argumentierte er, dass der relative Erfolg des Thatcherismus auch auf der Mobilisierung von Zustimmung (von unten) des Volkes zu autoritärer Gewaltausübung (von oben) beruhte. Hall verstand den Thatcherismus daher als eine Form des «autoritären Populismus». Zustimmung kann dabei nicht auf falsches Bewusstsein reduziert werden. Für Hall eroberte der Thatcherismus ein Terrain realer populärer Unzufriedenheit und populärer Ideologien, das die Linke nicht besetzen konnte.
Er sah den Aufstieg des Thatcherismus im Zusammenhang mit der Krise der britischen Linken und der Ausbreitung neuer sozialer Bewegungen. Diese entwickelten sich entlang anderer Antagonismen als Klassenkonflikte: feministische, schwule und lesbische Politiken und Schwarze Bewegungen. Diese waren in den späten 1960er-Jahren entstanden und hatten die soziale und politische Landschaft in den frühen 1980er-Jahren bereits deutlich verändert.
Halls Analyse baut auf Antonio Gramscis Theorie der Hegemonie auf, die der italienische Kommunist fünf Jahrzehnte zuvor in seinen «Gefängnisheften» entwickelte. Einer der Eckpfeiler von Gramscis Hegemonietheorie ist seine Ablehnung des Ökonomismus, also seine Weigerung, den ideologischen und politischen «Überbau» als direkte Widerspiegelung der wirtschaftlichen «Basis» zu betrachten (Hall 1986). Gramsci argumentierte, dass die herrschende Klasse in einer liberalen Gesellschaft nur dann herrschen kann, wenn sie in der Lage ist, einen «hegemonialen Block» zu schmieden: eine Formation, die die Interessen anderer Klassen und sozialer Gruppen selektiv integriert und dadurch deren Zustimmung zur Ausübung politischer Macht organisiert.
Dieser Prozess wird durch politische und ideologische Praktiken – Parteipolitiken, Bildung, Medien und andere – vermittelt, sodass Politik und Ideologie nicht nur die ökonomische Basis widerspiegeln, sondern die Gestalt der (politischen und kulturellen) Ökonomie aktiv mitformen. Darüber hinaus legte Gramsci besonderen Wert auf die Tatsache, dass in liberalen Gesellschaften, in denen sich ein komplexes Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft entwickelt hat, sozialistische Politik nicht darauf hoffen kann, den bestehenden hegemonialen Block einfach zu ersetzen, indem sie einen Frontalangriff auf den Staat führt. Vielmehr müsse sie einen alternativen Block schmieden, indem sie einen komplexen «Stellungskrieg» auf dem verzweigten Terrain der Zivilgesellschaft führt. In Anlehnung an Gramscis Aufforderung, zu identifizieren, «welche Elemente der Zivilgesellschaft den Verteidigungssystemen in einem Stellungskrieg entsprechen» (Gramsci 1971, 235), verortete Hall in den 1980er-Jahren die Identitätspolitiken im Herzen eines Stellungskrieges zwischen der Linken und dem Thatcherismus: Identität war für ihn eine «Hauptfront» des ideologischen Kampfes.
Hall argumentierte, dass das von den neuen Bewegungen aufgebrochene Feld der «Identität» zu einem zentralen Terrain der Kämpfe um Hegemonie geworden sei. Der Thatcherismus besetze es mit seiner heteropatriarchalen Familienideologie und der polizeilichen Überwachung Schwarzer Communitys. Die Linke wiederum unterschätze das ideologisch-kulturelle Terrain der Identität. Nach Halls Ansicht solle die Linke ausgerechnet vom Thatcherismus «lernen». Das bedeutet nicht, den Nationalismus und Populismus der Rechten zu übernehmen, sondern zu lernen, das Terrain der (heterogenen) Identitätspolitiken in ihren eigenen Begriffen und mit eigenen politischen Perspektiven zu re-artikulieren [also neu zu verknüpfen; Anm. der Übersetzer*innen]: innerhalb eines radikal demokratischen und sozialistischen politischen Projekts.
Mit dieser Analyse dehnte Hall die Grenzen der Gramscianischen Theorie aus und wandte die Theorie der Hegemonie auf das Feld der Identitätspolitik selbst an. Er begreift die Identitäten, die von identitätsbasierten sozialen Bewegungen mobilisiert werden, selbst als hegemoniale Formationen, also als Ergebnis ideologischer und politischer Praktiken, die heterogene Gruppen und ihre Interessen vorübergehend in einem «Block» verbinden. Wenn diese Identitäten einfach Reflexionen stabiler und objektiver Positionen wären, gäbe es keine Identitätspolitiken. Hall betonte daher auch, dass ein wesentlicher Bestandteil einer Politik der Identität die Kämpfe innerhalb dieser Bewegungen um die Definition von Geschlecht, race, Klasse und Sexualität selbst seien.
In den 1980er-Jahren wurde dies besonders deutlich durch die Ausbreitung von «intersektional» orientierten Gruppen wie den Southall Black Sisters (SBS 1990) oder der Gay Black Group (Mercer 1994, 1–31), also von Gruppen, die sich an den Schnittstellen verschiedener Identitätsformationen befanden. Halls besonderes Interesse galt Schwarzen feministischen und schwulen Kritiken an «Blackness» als einer homogenen Identität, die in Schwarzen Politiken und Kulturen oft durch eine heteropatriarchale Definition Schwarzer Männlichkeit geprägt und stabilisiert werde. Das Aufkommen von Kritiken innerhalb der Schwarzen Politiken und Kultur zeige, dass race immer innerhalb einer hegemonialen Formation artikuliert sei, also diskursiv vernäht und materiell verwoben mit anderen Identitäten und Antagonismen (Hall 1996, 445). So kann Schwarz-Sein durch heteropatriarchale Ideologien und Praktiken (vorübergehend) stabilisiert werden, weil race nicht getrennt von Geschlecht und Sexualität existiert. Das bedeutet aber auch, dass jede identitätsbasierte Formation ständig durch sich kreuzende Antagonismen umkämpft und in Bewegung ist. Ideologische und kulturelle Re-Artikulationen – zum Beispiel die Politiken sexueller Befreiung innerhalb Schwarzer Formationen oder antirassistische Politiken innerhalb des Feminismus – können Prozesse der politischen Neuzusammensetzung bewirken und so unterschiedliche kulturell-politische Formationen verbinden, mithin das Feld der Identitätspolitiken erweitern.
Wie hingen diese komplexen Stellungskriege innerhalb des Feldes der Identitätspolitiken aber mit der Rolle von Identität im Hegemoniekampf zwischen der Linken und dem Thatcherismus zusammen? Um diese Frage zu beantworten, ist es wichtig zu verstehen, wie der Thatcherismus das Terrain der Identitätspolitik erobern konnte. In «New Right Discourse on Race and Sexuality» (1994) argumentiert Anna Marie Smith, dass es ein Fehler wäre, sich «nur» auf den unverhohlenen Rassismus und Heterosexismus zu konzentrieren, die vom Thatcherismus gefördert worden seien. In der Tat führte der Thatcherismus nicht einfach einen frontalen «Krieg» gegen rassifizierte und sexuelle Minderheiten, sondern er «setzte einen ungeheuer raffinierten Komplex von Grenzen und Differenzierungen ein» (ebd., 42). Während der Kampagne für den berüchtigten Paragrafen 28, der die «Förderung der Homosexualität» durch lokale Behörden verbot, oder im Schüren von populistischen Angstkampagnen (moral panics) gegen sogenannte Schwarze Kriminalität aktivierte der Thatcherismus stets Unterscheidungen zwischen «assimilierbarem» und «subversivem» Schwarz-Sein, dem «guten Homosexuellen» und den gefährlichen «Queers». Race, Klasse, Geschlecht und Sexualität griffen in diesem Prozess ineinander. Der Thatcherismus wandte sich gezielt gegen die kämpferischsten Teile der rassifizierten und sexuellen Communitys und nutzte mit der Trennung zwischen den assimilierbaren und den «gefährlichen» Teilen jeder Community gezielt die Spaltungslinien entlang sich überschneidender Identitäten. So wurde der «gute Homosexuelle» unter dem Thatcherismus nicht nur als sexuell diskret und respektabel konstruiert, sondern vor allem als cis-männlich, weiß und aus der Mittelschicht stammend (ebd., 215).
Für Smith konnte der Thatcherismus gerade durch die Betonung dieser Differenzierungen –durch den Einsatz von Stellungskriegstaktiken innerhalb der identitätsbasierten Gemeinschaften selbst – hegemonial vorankommen. Denn so konnte er sich an der Seite der weißen heterosexuellen «Mehrheit» und der «guten» Minderheiten quasi im Zentrum der politischen Landschaft verorten und sich gegen die militante Linke positionieren (Smith 1994, 18–20). Er griff Prozesse der intersektionalen Differenzierung innerhalb der minorisierten Gruppen auf, die in diesen Communitys bereits ‹organisch› vorhanden waren, und verstärkte gezielt Spaltungslinien (vgl. ebd., 121).
So zeigen Halls und Smiths Analysen, dass die Kämpfe, die in den 1980er-Jahren innerhalb identitätspolitischer Formationen entlang intersektionaler Antagonismen Gestalt annahmen, nicht zweitrangig für die «größere», gesellschaftliche Auseinandersetzung zwischen der Linken und dem Thatcherismus, sondern in diesem Kampf um Hegemonie strategisch zentral waren. Über diese besondere Konjunktur hinaus bleiben Halls und Smiths Arbeiten zum Thatcherismus von großem Wert, auch um spätere Verschiebungen in der Beziehung zwischen Neoliberalismus und Identitätspolitiken zu verstehen – darunter die Entstehung von queerem Materialismus und der Queer-of-Color-Kritik als Reaktionen auf die Transformationen des neoliberalen Blocks.
Homonormativität und queerer Materialismus
Die neoliberale Formation, die in den 1980er-Jahren die Form des Thatcherismus annahm, veränderte sich während der 1990er-Jahre und dehnte sich aus. Sie begann buchstäblich das Zentrum des politischen Lebens in Europa wie in den Vereinigten Staaten zu besetzen. Diese Expansionsphase neoliberaler Hegemonie nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges war durch eine dramatische Verschiebung vieler sozialdemokratischer Parteien hin zur «neuen Mitte» gekennzeichnet. Diese griffen das bereits von Thatcher in den 1980er-Jahren prominent formulierte Mantra there is no alternative auf. New Labour von Tony Blair, die SPD unter Gerhard Schröder und Bill Clintons Neue Demokraten sind paradigmatische Ausdrucksformen dieser Erweiterung des neoliberalen Blocks.
In «The Twilight of Equality?» (2003) analysiert Lisa Duggan die Transformationen des neoliberalen Blocks mit besonderem Augenmerk auf die sich verändernden Beziehungen zwischen Neoliberalismus und Identitätspolitik. Duggan stellt fest, dass die Hinwendung der Demokratischen Partei zur neoliberalen Mitte in den USA der 1990er-Jahre mit einer oberflächlichen, rechtlich orientierten Gleichheitspolitik, die auf Umverteilung von Reichtum verzichtete, einherging. Im Kontext dieser Entwicklung veränderte sich auch das Kräfteverhältnis innerhalb der LGBTQ-Bewegung zugunsten von großen, auf Lobbyarbeit und Gesetzgebung fokussierten Ein-Themen-Organisationen wie der Human Rights Campaign. Während diese Organisationen bereits in den 1980er-Jahren entstanden waren, begannen sie in den 1990er-Jahren zunehmend, für die Bewegungen als Ganze zu stehen. Dies verengte deren politischen Horizont und trug dazu bei, ihre Verbindungen zu anderen feministischen, antirassistischen und Arbeiter*innenbewegungen zu kappen. Die Ausweitung des neoliberalen Blocks bei gleichzeitiger Verengung des politischen Horizonts der antirassistischen und LGBTQ-Bewegungen brachte eine neue Verbindung zwischen Neoliberalismus und angeblich progressiven sexuellen Politiken hervor: «Homonormativität». Für Duggan fördert die Politik der Homonormativität «eine privatisierte, entpolitisierte schwule Kultur, die in Häuslichkeit und Konsum verankert ist» (ebd., 50). Diese Kombination zwischen Neoliberalismus und einer Politik der Vielfalt ohne Umverteilung – die Jodi Melamed (2006) als «neoliberalen Multikulturalismus» bezeichnet hat – wird von linken Kritiker*innen oft als unvermeidliches Ergebnis von Identitätspolitik als solcher missverstanden. «Identitätspolitik» wird dann als «spaltend» verworfen und ihren Akteur*innen vorgeworfen, den Klassenkampf aus dem Kern progressiver Politiken zu verdrängen. Diese seit Langem bestehenden, ungelösten Konflikte in der Linken über das Verhältnis von Klassen- und Identitätspolitiken – die im Kontext von Homonormativität und neoliberalem Multikulturalismus neue Nahrung erhielten – tragen, so Duggan, zur Stabilisierung neoliberaler Hegemonie bei:
«Auf der einen Seite des Widerspruchs wurde das Feld der Identitätspolitiken zunehmend von jeder Kritik des globalisierten Kapitalismus abgetrennt. Auf der anderen Seite attackieren linke Kritiken des Neoliberalismus und links-populistische Politiken in den USA jede Form kultureller und Identitätspolitiken als Bedrohung für die Linke. Durch solche Angriffe beraubt sich die Linke selbst wichtiger Inspirationsquellen für politische Kreativität und neue Analysen – und bleibt so gegenüber Politiken des Kulturellen von rechter Seite intellektuell wehrlos. Zudem treiben sie gesellschaftliche Gruppen, die auf der Suche nach sozialer Gleichheit sind, in die Arme der falschen Versprechen eines oberflächlichen neoliberalen ‹Multikulturalismus›.» (Duggan 2003, xx)
Gegen neoliberalen Multikulturalismus und (neo-)liberal geprägte Homonormativität beschwört Duggan «eine vernetzte, analytisch vielfältige, sich gegenseitig inspirierende und expansive Linke» (ebd., xxii), die in der Lage ist, die sich verändernden Beziehungen von Geschlecht, race und Sexualität in der neoliberalen Hegemonie zu erkennen – und Politiken um Identität im Zentrum ihres eigenen, gegenhegemonialen Projekts zu verorten. Duggans Analyse erinnert an Halls und Smiths frühere Arbeit über den Thatcherismus.
Zu einer intersektionalen Theorie der Hegemonie gehört, den Blick auf die Entstehung neuer Konfliktlinien und antagonistischer Politiken zu richten. Als Reaktion auf die neoliberale Politik der Homonormativität, im Zuge der Wirtschaftskrise von 2008 und angesichts prekärer Lebensbedingungen von LGBTQ-Personen haben wir in den letzten 20 Jahren ein bedeutendes Revival marxistischer und materialistischer Analysen in queerer Theorie und Politik erlebt (Dhawan et al. 2015; Rosenberg/Villarejo 2012). Eine wichtige Intervention queerer Marxist*innen ist dabei die Kritik an der «Verdinglichung» des sexuellen Begehrens: Sexualität werde als eine separate Dimension der «Identität» von Menschen isoliert und von der Gesamtheit («Totalität») der komplexen sozialen Beziehungen abgetrennt, innerhalb derer das Begehren von Menschen geformt wird (Drucker 2015; Floyd 2009; Hennessy 2000). Dieser Prozess der Verdinglichung – ein Begriff von Georg Lukács – verwandelt «Identität» in einen Mechanismus der kapitalistischen Wertproduktion und wichtigen Bestandteil sich ausdifferenzierenden Konsums: etwa in der Ausbreitung von Nischenmärkten, die Verbraucher*innen auf der Grundlage ihrer vermeintlichen Identitäten ansprechen und die ‹Identität› selbst verkaufen (z. B. schwule Kreuzfahrten, ethnische Musik). Diese Marktpraktiken hatten in den 1990er-Jahren in den USA einen bedeutenden Einfluss auf die LGBTQ-Bewegung, da sie dazu beitrugen, die Idee einer nationalen ‹LGBTQ-Identität› zu formen, während sie zugleich den politischen Horizont der Bewegung verengten (vgl. Chasin 2000).
Ein Teil des Problems gegenwärtiger Debatten über Identitätspolitik liegt darin, dass über die Grenzen und Vorzüge von «Identitätspolitik» debattiert wird, während mit dem Begriff oft Unterschiedliches gemeint ist. Queer-marxistische Analysen stellen die materiellen Prozesse in den Vordergrund, die zur ideologischen Formierung von Homonormativität beitrugen. Da sie Identität jedoch hauptsächlich als Ergebnis von Verdinglichung konzeptualisieren, können einige dieser Analysen jedoch nicht zwischen neoliberaler Identitätspolitik (etwa der Homonormativität) und emanzipatorischen, intersektionalen und expansiven [im Sinne von verbindenden, Hegemonie bildenden; Anm. der Übersetzer*innen] Politiken um Identität unterscheiden. Zugespitzt: Wie andere Kritiker*innen in der Linken machen manche queere Marxist*innen am Ende „Identitätspolitik“ selbst zur Zielscheibe ihrer Kritik. Dabei gehen sie jedoch von der Prämisse aus, dass Klassenanalyse und -organisation «unmöglich ist, ohne die Art und Weise [zu berücksichtigen], wie Klasse tatsächlich gelebt wird, insbesondere durch race, Geschlecht und Sexualität» (Drucker 2015, 29). Diese «Weigerung, Sexualität von anderen Horizonten des Wissens» und des sozialen Lebens zu isolieren (Floyd 2009, 9), muss nicht als Ablehnung von Identitätspolitik verstanden werden. Im Gegenteil, wir könnten sie als eine expansive und intersektionale Praxis der Identitätspolitik konzeptualisieren. Dieser konzeptionelle Unterschied wird besonders relevant, wenn wir auf eine weitere kritische Strömung blicken, die in den letzten 20 Jahren als Reaktion auf Homonormativität und neoliberalen Multikulturalismus entstanden ist: Queer-of-Color-Kritik. Diese überschneidet sich auf vielfältige Weise mit der theoretischen und politischen Strömung des queeren Materialismus. Aaron Lecklinder (2012, 184) argumentiert sogar, dass die Queer-of-Color-Kritik «an der Spitze der Rückkehr marxistischer Kategorien und materialistischer Analysen» in der Queer-Theorie und -Politik gestanden habe. Eine Diskussion der Queer-of-Color-Kritik, die Überschneidungen zwischen Sexualität und race in den Vordergrund stellt, kann uns zeigen, wie queerer Materialismus durch eine expansive Praxis der Identitätspolitik Gestalt annehmen kann, statt sich gegen jeglichen Bezug auf Identität zu stellen.
Die «Seitwärts-Moves» der Queer-of-Color-Kritik
1997 intervenierte die Schwarze Queer-Feminist*in Cathy Cohen auf bahnbrechende Weise in das entstandene Feld der Queer Theory. Sie argumentierte, dass queere Theorie und Politiken angesichts der neoliberalen Aushöhlung des (heteronormativ und rassistisch geprägten) Wohlfahrtsstaates neue Analysen und expansivere Organisationsformen entwickeln müssten, die sich jenseits einer einfachen Unterscheidung zwischen Heterosexualität und Homosexualität bewegen. Cohen argumentiert für eine Erweiterung von Queerness, um Subjekte einzubeziehen, die zwar «heterosexuell» (und, wie hinzuzufügen ist, «cis») sind, aber aufgrund ihrer Klassenposition und Betroffenheit von Rassismus nicht von heteropatriachalen, «weißen» Privilegien profitieren. Cohen verwies dabei auf die Konstruktion der «Wohlfahrtskönigin» als Schlüsselfigur innerhalb des neoliberalen ideologischen Diskurses in den USA: die arme, rassifizierte, alleinstehende Mutter, die das «Geld der Steuerzahler» (angeblich) nicht verdiene und quasi der lebende Beweis für das «Versagen des Wohlfahrtsstaates» sei.
«Wir stehen an einer historischen Schwelle. Die Herrschenden demontieren den Sozialstaat, indem sie in Armut lebende, junge Women of Color, von denen die meisten ihr ganzes Leben lang außerhalb der weißen, Mittelklasse- und heterosexuellen Norm stehen, dämonisieren. In dieser Situation müssen wir uns fragen, ob diese Frauen* nicht zu den Marginalisierten, Devianten und queeren Kategorien gehören.» (Cohen 1997, 458)
Cohens Intervention fordert nicht nur eine Allianz-Politik zwischen queeren und rassifizierten Gruppen ein, sondern stellt grundsätzlich unser Verständnis des Subjekts queerer Politik infrage. Für wen ist «queere» Politik da? Cohen geht dieser Frage mit einer materialistischen und intersektionalen Analyse nach. Die Überschneidungen von Sexualität mit Rasse, Geschlecht und Klasse im Kontext des neoliberalen Angriffs auf die sozialen Absicherungssysteme machten eine radikale Erweiterung der Subjekte queerer Politik notwendig. Neben den «welfare queers» (die mit Sozialleistungen überlebenden und zugleich vom Sozialstaat marginalisierten Queers) geht es ihr dabei auch um die rassifizierten Teile der Arbeiter*innenklasse und die prekäre «underclass», die oft Zielscheibe von Polizeirepression und staatlicher Regulierung von Sexualität sind.
Cohens Intervention leitete das ein, was Roderick Ferguson (2004) als «queer of color critique» bezeichnet hat. Ferguson folgt Cohen darin, die Kritik von Prozessen der Rassifizierung als Kernanliegen für queere Theorie und Politik zu setzen und dabei den Fokus auf die längere Geschichte der Überschneidungen zwischen Rassismus, Sexualität und Klasse zu legen. In den Vereinigten Staaten kam es zu Beginn des 20. Jahrhunderts (angesichts der fortschreitenden Industrialisierung) zu Wellen afroamerikanischer Arbeitsmigration aus dem Süden in die urbanen Zentren des Nordens. Es bildeten sich auch sozialräumlich Schwarze städtische Nachbarschaften, neue afroamerikanische Communitys mit von Frauen geführten Haushalten. Diese wurden zu Räumen geschlechtlicher und sexueller Überschreitungen. Ferguson konzentriert sich besonders auf Chicago und erinnert an einen besonderen Ort: die «black and tans». Diese waren «für die offene Zurschaustellung von Sex bekannt, für ihre Umkehrung von rassisierten Hierarchien, für ‹Rassenmischung› und als Orte, an denen gleichgeschlechtliche Beziehungen und Identitäten entstehen konnten» (ebd., 40). So zeigt Ferguson, dass kapitalistische Industrialisierung und Arbeitsmigration die sozialen Bedingungen für die Entstehung von rassifizierter Queerness, also von rassifizierten Praktiken der Abweichung von den Normen des weißen Heteropatriarchats, schufen.
Diese Formen rassifizierter Queerness wurden zum Ziel vielfältiger Versuche der Disziplinierung, die ihrerseits mit widersprüchlichen Ideologien verbunden waren: von der liberalen Staatsideologie des respektablen Bürgers bis zum Schwarzen revolutionären Nationalismus. In der liberalen Ideologie sollten geschlechtliche und sexuelle Abweichungen eingedämmt werden, um die respektablen und disziplinierten Subjekte des Staates zu reproduzieren. Im Schwarzen Nationalismus wurden heteropatriarchale Strukturen als Rahmen für revolutionäres Handeln nicht infrage gestellt. Trotz ihrer radikal gegensätzlichen Interessen und Ziele trugen beide auf besondere Weise zu Regimen der geschlechtlichen und sexuellen Regulierung bei. Ferguson zufolge liegt dies daran, dass beide Ideologien rassifizierte Queerness als vermeintlich objektives Anzeichen einer durch die industrielle Moderne hervorgerufenen sozialen Unordnung interpretierten.
Dabei weist er auch auf problematische Kontinuitäten hin: Bereits Marx hatte in seinen Ökonomischen und Philosophischen Manuskripten von 1844 (1964) die Figur der Prostituierten als einen besonderen Fall des allgemeinen Verfalls des Mensch-Seins durch Entfremdung im Kapitalismus dargestellt (Ferguson 2004, 7–8). Ferguson zieht diese Parallele zwischen Marx’ abstrahierender Lesart der Prostituierten als «Sozialfigur» und liberalen wie revolutionären Lesarten rassifizierter Queerness im 20. Jahrhundert bewusst. Die Intervention von Queer-of-Color-Kritik bestehe gerade darin, rassifizierte Queerness nicht als Symptom für kapitalistische Unordnung und gesellschaftlichen Verfall zu interpretieren [und so stereotyp zum ‹Anderen› zu machen; Anm. der Übersetzer*innen], sondern als einen strategischen Ort [eine mit bestimmten Erfahrungen und Wissen verbundene soziale Positionierung und umkämpftes kulturell-politisches Terrain; Anm. der Übersetzer*innen] zu begreifen, von dem aus der Kapitalismus kritisiert werden kann (vgl. ebd., 10).
Die Queer-of-Color-Kritik verbindet so materialistische Analyse mit einer intersektionalen Politik der Identität(-skritik). Sowohl Cohen als auch Ferguson stellen die Überschneidungen von Sexualität mit Rasse, Klasse und Geschlecht in den Vordergrund. Dadurch definieren sie auch die Bedeutung von Queerness neu, indem sie sie auf Figuren ausdehnen, die als «cis» und «straight» gelesen werden könnten, deren Positionen in rassistischen Klassenverhältnissen sie jedoch am Rande der heteropatriarchalen und rassifizierten kapitalistischen gesellschaftlichen Ordnung verorten. Diese Erweiterung von Queerness basiert auf einem Verständnis von Rassifizierung als sexueller Regulierung: Rassifizierung funktioniert durch die Konstruktion und Disziplinierung sexueller und geschlechtlicher Nonkonformität, wie im Fall der «welfare queen».
Ferguson schlägt vor, dass diese Ausweitung von Queerness als eine Bewegung jenseits und gegen Identitätspolitik verstanden werden kann (Ferguson 2004, 125–130). Wir können sie jedoch auch als eine «expansive» Praxis der Politik um Identität [im Sinne Stuart Halls; Anm. der Übersetzer*innen] lesen, die ideologische Kämpfe (u. a. innerhalb der Queer-Theorie) führt und Prozesse politischer Neuzusammensetzung entlang sich überschneidender Antagonismen (insbesondere der mit Color verbundenen Grenzziehungen und Widersprüche) befördert. In Anlehnung an einen Begriff von Ferguson (2011) selbst könnten wir sagen, dass Queer-of-Color-Kritik durch «laterale Bewegungen» – also «Seitwärts-Moves» – voranschreitet: sie erweitert Queerness, indem sie sexuelle Politiken aus ihrem eng umschriebenen Terrain herauslöst und sie mit anderen kulturell-politischen Formationen und Bewegungen verbindet. Queer-of-Color-Kritik – so meine These – treibt so eine Rückkehr materialistischer Kritik in der Queer-Theorie und -Politik voran. Politik um Sexualität wird darin mit grundsätzlicher Kritik von Herrschaft und Ausbeutung, die in der Gesamtheit sozialer Beziehungen wirken, verbunden. Das Terrain «Identität» wird dabei keineswegs umgangen, sondern die Queer-of-Color-Kritik bewegt sich in Seitwärtsbewegungen durch die rassifizierten Begriffe hindurch.
Das heißt jedoch keineswegs, dass Identitätspolitik unproblematisch ist. Queer-of-Color-Kritik kann vielmehr als eine Form der Politik um Identität(en) durch Praktiken der Identifikation und Disidentifikation verstanden werden. Wie José Muñoz, der die Queer-of-Color-Kritik mitgeprägt hat, es ausdrückt, geht es «um die Erweiterung und Problematisierung von Identität und Identifikation, nicht um die [einfache] Aufgabe irgendeiner gesellschaftlich vorgeschriebenen Identitätskomponente» (1999, 29).[1] Muñoz erinnert dabei an Halls Gramsci-Lektüre:
«Mit Gramsci können wir nicht nur den Rassismus der Arbeiter*innenklasse verstehen, sondern auch den schwulen Rassismus oder die Homophobie innerhalb von communities of color. […] ‹Queerness› und ‹Blackness› müssen als ideologische Diskurse gelesen werden, die widersprüchliche Impulse in sich tragen – einige befreiend, andere reaktionär. […] Die Linse der Disidentifikation erlaubt es uns, Nahtstellen und Widersprüche zu erkennen und letztlich die Notwendigkeit eines ‹Stellungskrieges› zu verstehen.» (Muñoz 1999, 115)
So kann Queer-of-Color-Kritik als eine Form des Kampfes um Hegemonie verstanden werden, die durch komplexe Identifikationen und Disidentifikationen sich überschneidende Felder von Antagonismen durchqueert. Ein solcher Stellungskrieg führt zu einer bedeutenden Erweiterung queerer Politik, die durch umkämpfte diskursive und kulturelle Quer- und Seitwärtsbewegungen mit anderen emanzipatorischen sozialen und politischen Formationen verbunden wird. Queere Politik der Hegemonie richtet sich gegen den neoliberalen Multikulturalismus, der auch durch homogenisierende Identitäten hindurch funktioniert, indem sie jede Identität durch sich überschneidende Antagonismen erweitert und neu zusammensetzt.
Queere Neuzusammensetzungen in der gegenwärtigen Konjunktur
Welche Rolle können queerer Materialismus und Queer-of-Color-Kritik in der gegenwärtigen Konjunktion spielen? Queer-Materialismus und Queer-of-Color-Kritik entstanden als Reaktion auf die selektive Einbindung von Teilen progressiver Identitätspolitik durch den neoliberalen Block in den 1990er-Jahren. Wie Ferguson (2020, 282–283) argumentiert, «wurde die Queer-of-Color-Kritik aus den neoliberalen Wehen der späten 1990er- und frühen 2000er-Jahren heraus geboren […], aber in diesem historischen Moment besteht die Aufgabe darin, sie zu nutzen, um die Ausbreitung autoritärer Regime und Praktiken anzugreifen». Eine queere, intersektionale Theorie der Hegemonie kann wichtige Aspekte der gegenwärtigen Konjunktur erhellen: Prozesse der politischen Neuzusammensetzung in der Linken angesichts der langwierigen Krise des neoliberalen Zentrums und des Aufkommens neuer Formen des autoritären Populismus.
Mit neuen transnationalen Bewegungen wie Ni Una Menos und Black Lives Matter (BLM) sind vielversprechende Terrains des Widerstands entstanden (vgl. Gago 2020; Arruzza et al. 2019). BLM entstand in den USA zur Obama-Zeit ab 2013 als Protest gegen anti-Schwarzen Rassismus und Polizeibrutalität – vor dem Hintergrund einer neoliberalen «Post-Race-Ideologie» (vgl. Taylor 2016) – und setzte sich im autoritären Amerika Trumps ausgehend von den Revolten, die im Frühjahr und Sommer 2020 nach dem Mord an George Floyd überall in den Vereinigten Staaten stattfanden, fort. Obwohl keine dieser Bewegungen primär auf Sexualpolitik fokussiert ist, sind beide zu zentralen Orten queer-materialistischer Kritik und Queer-of-Color-Organisation geworden. BLM beschreibt sich selbst wie folgt:
«Wir bejahen das Leben von Schwarzen queeren und trans Menschen, behinderten Menschen, Menschen ohne Papiere, Menschen mit Vorstrafen, Frauen und allen Schwarzen Leben entlang des Geschlechtsspektrums. Unser Netzwerk zentriert diejenigen, die innerhalb der schwarzen Befreiungsbewegungen marginalisiert wurden.» (BLM o. J.)
Die Prozesse der politischen Neuzusammensetzung sind das Ergebnis der Konvergenz einer Reihe von Kämpfen von Queer-of-Color-Initiativen innerhalb von Schwarzen, feministischen und LGBTQ-Communitys und -Bewegungen seit den 1980er-Jahren. Es ist die lange Flugbahn dieser Kämpfe – dieser bewegliche Stellungskrieg durch überschneidende Antagonismen – die dazu beigetragen hat, eine intersektionale Bewegung wie BLM hervorzubringen. Cathy Cohen reflektiert heute über die Zusammensetzung der Bewegung in Bezug auf ihre eigene, frühe Formulierung einer Queer-of-Color-Kritik:
«Dies mag nicht das radikale Potenzial von Queer sein, das ich mir vor zwanzig Jahren vorgestellt habe, aber diese Kombination von Schwarzem Feminismus und einem Bekenntnis zu Queer als Fortsetzung der Schwarzen radikalen Tradition ist unsere größte Hoffnung für die radikalen Bewegungen und eine queere Zukunft, die wir alle verdienen.» (Cohen 2019, 143)
Mit anderen Worten: Eine der kontingenten Wirkungen der «Seitwärts-Moves» der Queer-of-Color-Kritik ist das Auftauchen intersektionaler queerer Politiken innerhalb von Bewegungen, die vielleicht nicht auf den ersten Blick als «queer» erkennbar sind, die aber nichtsdestotrotz Formen queeren Widerstands gegen den neoliberalen Kapitalismus wie den autoritären, rassistischen, antifeministischen, queer- und transfeindlichen Populismus artikulieren.
Eine queere, intersektionale Theorie der Hegemonie kann uns helfen, diese Prozesse der politischen Neuzusammensetzung besser zu verstehen. Sie kann auch die spezifische Bedeutung intellektueller Arbeit und theoretischer Kritik darin verdeutlichen. Bewegungen und Strömungen im theoretischen und politischen Feld verlaufen nicht einfach parallel. Cohen zeigt auf, dass BLM sich von früheren Schwarzen Bewegungen unterscheidet – in Bezug auf Analyse, Zusammensetzung und Organisationspraktiken – «aufgrund des Gewichts der feministischen Lehre und Lehrpraxis, insbesondere der Schwarzen feministischen Lehre und der Tatsache, dass viele dieser jungen Aktivist*innen in den Klassenzimmern [der Universitäten, soziokulturellen Räumen von Initiativen; Anm. der Übersetzer*innen] alternative Formen der Organisation und kollektiver Führung gelernt haben» (Cohen/Jackson 2016, 777; eigene Übers.).
Das bedeutet nicht, dass feministische und queere intellektuelle Arbeit unmittelbar Prozesse der politischen Neuzusammensetzung antreiben kann. Aber intellektuelle Arbeit spielt eine spezifische Rolle in solchen Prozessen, die nicht unterschätzt oder theoriefeindlich verächtlich gemacht werden sollte. Dies ist heute besonders wichtig zu betonen, da Räume kritischer Wissensproduktion nicht nur unter den Auswirkungen neoliberaler Sparmaßnahmen, sondern auch aufgrund von Frontalangriffen autoritärer politischer Kräfte zunehmend schrumpfen oder unter Druck geraten. Als Antwort darauf sind Mobilisierungen und Initiativen wie «The Gender International – A Network in Defense of Gender and Sexuality Studies» entstanden. Während diese Kämpfe sich um die Universität drehen, dürfen sie von uns nicht auf die Akademie beschränkt werden. Eine queere Theorie der Hegemonie legt nahe, dass sich unterschiedliche Kämpfe oft gegenseitig formen. Das Potenzial gemeinsamer Interessen und Perspektiven könnte bereits größer sein, als wir manchmal denken.
Dieser Beitrag ist eine Vorveröffentlichung aus dem Buch »Bite back! Queere Prekarität, Klasse und unteilbare Solidarität«, das in Kürze bei Edition Assemblage erscheinen wird.